07 Ich will doch
Vorsichtig klopfe ich an deinen Bildschirm – klong klong – Hi! Mein Name ist Milo und ich darf endlich zur Schule. Ha! Im letzten Winter bin ich sechs Jahre alt geworden, was bedeutet, dass ich nun zu den Großen gehöre, rechnen und schreiben lernen darf – lesen kann ich schon ein wenig. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich ein sehr neugieriger Junge bin. Meine Oma sagt immer, ich hätte Hummeln im Hintern, doch das stimmt nicht. Ich denke, das würde ganz doll kitzeln.
Alles um mich herum fasziniert mich. Habt ihr schon gesehen, dass die Blätter an den Bäumen, die im Herbst herunterfallen, alle unterschiedlich aussehen? Da meint man, ein Baum habe lauter gleiche Blätter, aber das stimmt nicht. Da gibt es große und kleine, gekrümmte und gerade, solche mit Löchern und solche ohne – es ist ein buntes Durcheinander. Oh, ein Schmetterling; ein besonders schöner sogar. Orange und Gelb und Schwarz. Ich möchte auch so fliegen können.
In der Schule werde ich bestimmt lernen, warum wir Menschen nicht fliegen können. Ich freue mich darauf, dass die Lehrerin mir viele interessante Dinge erzählt und meine Fragen beantworten kann. Oh, ein Baumstamm über den Bach – eine Einladung zum Klettern und Balancieren. Letztes Mal bin ich in den Bach gefallen, das hat wehgetan, aber meine Mutter hat nur gelacht und gesagt, ich werde schon herausfinden, wie das geht. Jetzt kann ich es schon ganz gut, ohne hinunterzufallen wie ein Kind. Ob wir in der Schule auch balancieren lernen?
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Das Schulhaus! Ich renne geradewegs auf den Eingang zu, ziehe an der Tür und pralle drinnen in einen grimmig dreinschauenden Mann. Er ist gross und sieht stark aus; nicht wie Papa. Papa schreibt Bücher, er ist nicht so stark, dafür lächelt er immer und ist gut gelaunt. Der Mann macht mir Angst.
„Was machst du schon hier drin? Erst wenn es klingelt! Und nicht rennen!"
Hein? Nicht rennen? Warum nicht – ich will so schnell es geht in die Schule. Der Mann ist nicht freundlich. Er schiebt mich wieder raus. Warten; das kann ich nicht so gut. Dann endlich klingelt es – wir rennen alle rein; mit mir zusammen noch viele andere Kinder. Ein buntes durcheinander. Doch da steht wieder der Mann und mit ihm viele andere Erwachsene. „Nicht rennen! Wer rennt muss nachsitzen!"
Wer rennt, muss sitzen? Ich lache, weil das nicht gleichzeitig geht. Man kann im Rennen nicht sitzen, das weiß doch jeder. Eine Frau sieht mich streng an. Sie ist wahrscheinlich die Frau des bösen Mannes, denn sie sieht auch nicht freundlich aus.
Im Flur baumelt ein Schild. Ob ich da wohl rankomme, wenn ich springe? Geschafft! Ich kann hoch springen, das habe ich im Wald gelernt. Die böse Frau zieht mich weg vom Schild, schimpft mit mir und führt mich in ein Schulzimmer. Dort werde ich von einer jungen Frau, die freundlich aussieht, begrüßt und zu einem kleinen Tisch mit einem Stuhl gebracht. Von hier aus kann ich meine Lehrerin, sie heißt Frau Lässer, hat sie gesagt, gut sehen und zudem kann ich rechts von mir auch aus dem Fenster schauen, direkt zum Bach und auf die Straße. Dort gibt es immer etwas zu beobachten. Es geht los: Frau Lässer erzählt eine erste Geschichte. Nach meiner dritten Zwischenfrage muss ich aber leider in einem anderen Zimmer zeichnen gehen. Ich hätte lieber noch das Ende der Geschichte gehört. Frau Lässer ist nicht so nett, wie sie aussieht.
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So klang das noch in der Ersten. Ich wurde sehr bald enttäuscht, was die Schule anbelangt. Von meinen Eltern wusste ich, dass es keine doofen Fragen gibt. Fragen führen zu Antworten und diese bringen mich weiter, lassen mich neue Dinge entdecken und lernen. Die Schule sei der Ort, wo man Fragen stellen dürfe und Antworten bekomme. Ich habe schnell begriffen, dass dies nicht stimmt. Zuerst musste ich „Stillsitzen" lernen. Das war hart für mich und mit der Zeit begriff ich auch, was wohl meine Oma mir mit den Hummeln hatte sagen wollen. Da waren und sind tatsächlich so was wie Hummeln, die mich immer aufjucken und herumrennen lassen. Doch das durfte ich nicht. Sitzen und zuhören, keine Fragen stellen. Machen, was gesagt wird.
Manchmal schaute ich meinen Klassenkameraden beim Arbeiten zu. Sie wirkten auf mich wie kleine Ameisen, die etwas machen und nicht darüber nachdenken, wieso sie das tun. Ich war anders. Ich konnte die Buchstaben, die wir lernen mussten, nicht schön schreiben. Dafür waren die Linien zu eng. Ganz groß hätte ich es hingekriegt, doch wir mussten immer genau auf die Linien schreiben. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Es spielt doch keine Rolle, wo die Buchstaben stehen, so lange sie in der richtigen Reihenfolge bleiben und den Sinn des Wortes offenbaren. Klar ist es einfacher, wenn in einem Text eine Ordnung herrscht. Aber wie ich das ordne, ist doch egal, ich muss nicht eine fremde Ordnung, deren Sinn ich nicht erkenne, übernehmen, wenn ich eine eigene habe.
Mit meinen Eltern habe ich damals oft diskutiert. Sie bemerkten, dass ich traurig wurde, Wutausbrüche hatte und schlecht schlief. Ich sagte auch oft, ich wolle nicht mehr hin, in die Schule. Die Schule ist nicht der Ort, wo man Antworten erhält. Die Schule lässt mich tausend Dinge lernen, die in Büchern stehen. Dinge, die mich nicht interessieren. Ich muss berechnen, wie schnell eine Kugel zu Boden fällt, wenn ich sie aus dem Fenster werfe und keiner fragt danach, wie es wohl möglich wäre, dass die Kugel gar nicht runterfalle.
Im Sprachunterricht mussten wir Vokabeln büffeln und niemand war an Kommunikation interessiert; nur am Subjonctif oder am Passé Composé. Vor allem aber waren unsere Lehrerinnen und Lehrer an unseren Fehlern interessiert. Je rot desto schlecht. Bei mir war immer viel rot – aber in den Ferien in Frankreich konnte ich schon mit dreizehn alleine einkaufen gehen. Meine Eltern waren mächtig stolz, wie ich auch, rot hin oder her.
Selbstverständlich wurde ich im Laufe meiner Schulkarriere mehrmals abgeklärt. ADHS, sagte man mir. Ich hätte das. Ich übersetzte die Buchstaben damals mit „Auf deinem Hintern sitzenbleiben." – denn genau das konnte ich nicht. Ich wollte mich ja konzentrieren, ich wollte lernen, aber mit dem Setting, an welches ich mich hätte halten müssen, war das einfach nicht möglich. Heute begreife ich das. Damals glaubte ich noch, eine Art krank zu sein. Ich bekam Medikamente, die mir die Anpassung an die Schulregeln erleichterten. Wie wenn ich die Grippe habe.
Hätte man nicht besser die Schulregeln an uns Kinder angepasst? Was läuft schief, in der Art, wie wir unseren Kindern „das Rüstzeug fürs Leben" beibringen? Subjonctif, klar, Rüstzeug. Wenn ich keine Fehler machen darf, kann ich auch nichts lernen. Von meinem Vater habe ich gelernt, dass die Neugier und die Fantasie die wichtigsten Eigenschaften sind, die man im Leben braucht. Wie recht er hatte! Doch in der Schule haben meine Lehrer und Lehrerinnen jeweils mit „das ist einfach so – lerne es auswendig" geantwortet, wenn ich nach dem Warum fragte. „Wenn Milo nicht endlich beginnt, sich zu konzentrieren und zu lernen, wird nie etwas aus ihm werden", hieß es.
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Heute sehe ich die Schule als einen Ort, wo man Antworten auf Fragen erhalten sollte. Es müsste möglich sein, dass ein Kind einen Jugendroman liest, während ein anderes gerade rechnet oder einer Schnecke bim Fressen zusieht. Wenn ich als Kind mitentscheiden darf, woran ich arbeiten kann und will, dann ist auch meine Buchstabenkombination aus dem Test nicht mehr wichtig. Meine Lehrerinnen und Lehrer zeigen mir, wie es geht, wenn ich danach frage. An meinen vier diagnostizierten Buchstaben ärgert mich vor allem der letzte: S steht für Störung. Was wird denn hier gestört? Woran wird die Störung gemessen?
Ein Damm im Fluss ist eine Störung. Aus dieser Störung wird Strom gemacht und Menschen bauen immer mehr Störungen in immer mehr Flüsse. Störung ist also nicht per se negativ. Meine Störung hingegen schon, sonst hätte ich keine Medikamente nehmen müssen. War nun ich die Störung oder vielleicht doch die Schule? Ich meine, die Schule hat mich in meiner Art zu lernen gestört. Ich durfte nicht so lernen, wie ich es gekonnt hätte. Ich bin nicht krank, nur anders.
Bitte versteht mich nicht falsch. Ich weiß natürlich auch, dass eine Gesellschaft nur „funktionieren" kann, wenn es Regeln gibt und alle Menschen lernen, sich an diese zu halten. Ich bin nicht gegen Lehrpläne und Diplome (also nicht vollkommen dagegen); ich bin nur gegen die Art, wie wir unsere Kinder in ein System hineindrücken, in welchem es keinen Platz für Andersartigkeit gibt.
Klong klong – bist du noch hier? Hi, ich bin Milo, gebe Kurse für Erwachsene an einer Fachhochschule und ich bin anders. Und ja, heute kann ich Subjonctif.
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