06 Nick 2.0
"Oh Mann, diesen einen letzten Shot hätte ich gestern Nacht nicht mehr trinken sollen ..."
Nicolas Meyer, der von allen seinen Freunden bloß Nick genannt wird, fährt sich durch die zerzausten braunen Haare und reibt sich die Augen. Verschlafen und verkatert krümelt er sich aus seinen weichen, roten Laken und schwankt in Richtung Badezimmer.
Sein Spiegelbild grinst ihn an, als er bei der Morgentoilette daran denken muss, wie sein guter Freund Seb bei der Party diese blonde, durchaus attraktive Amerikanerin Sandy abgeschleppt hat, obwohl auch er stockbetrunken war. Wo der wohl heute aufwacht?
Nick greift nach seinem Mobiltelefon und tippt auf Sebastians Nummer. "Diese Nummer ist ungültig ..." hört er die wohlbekannte Stimme des Telefons reklamieren. "Halt die Klappe, Kathrin, diese Nummer gehört meinem besten Freund Sebastian Bachofen und die war schon immer gültig!" Genervt tippt er die Zahlenfolge von Hand ein und wartet. "Diese Nummer ist ..." weiter kommt die Computerstimme nicht, das Gerät fliegt in hohem Bogen aufs durchwühlte Bett.
"Seb, du Idiot! Hast dein Telefon geschrottet oder was?", ruft Nick ins leere Wohnzimmer, dann zieht er sich an. Der sonnige Tag sieht kalt aus; seit Wochen liegt viel Schnee und die Davoser Landschaft gleicht einem Bühnenbild im Kitschtheater. Alles ist überzuckert, die Häuser, die Hotels, sogar die Zäune am Bach und um den See sind mit einer weißen Zuckerschlange belegt. Eigentlich ein Postkarten-Touristen-Sujet, dieses Davos, doch momentan wird das Bild durch eine wahre Invasion von Polizei und Militär getrübt. Es ist WEF, Davos im Ausnahmezustand.
Wie jedes Jahr um diese Zeit weilt Nicks bester Freund hier, wohnt im familieneigenen Hotel und versucht, sich reiche Frauen zu angeln. Nick hat ihm schon oft geraten, damit endlich aufzuhören und einen anständigen Beruf zu suchen, doch der "Partyjunge aus Zürich", wie er Sebastian oft neckt, will einfach nicht erwachsen werden. "Also dann! Gehen wir dich mal suchen, du Schönling aus dem Flachland", murmelt Nick, als er seinen dicken, roten Wintermantel überzieht und die Zweizimmerwohnung verlässt.
Klirrende Kälte empfängt ihn auf der Straße, Nick zieht den weissen Fellkragen hoch und stapft mit schnellen Schritten in Richtung der Bar davon, die sie am Vorabend als letzte besucht hatten. Als er den Schnee von seinen schwarzen Lederstiefeln gestampft hat, betritt er die Bar.
"Nick! Du schon wach? Was ist passiert?" Ein freundliches Gesicht unter rötlichem Haar strahlt ihn entwaffnend an.
"Lori, hast du gestern mitbekommen, mit wem Seb abgehauen ist? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern."
Loredana Ziegler lacht ihn aus und reicht ihm einen doppelten Espresso, den er dankend annimmt. "Der hat doch den ganzen Abend an dieser Amerikanerin geknabbert."
"Sandy, ja", erwähnt Nick und nimmt einen zweiten Schluck Kaffee. "Ah, der tut gut. Ist Seb dann aber auch mit Sandy verschwunden? Ich wollte ihn anrufen, doch seine Nummer funktioniert irgendwie nicht."
"Du weißt ja, wie er ist. Niemand weiß genau, mit wem Sebastian Bachofen am nächsten Morgen aufwacht. Ich bin sicher, er duscht gerade irgendwo, wahrscheinlich nicht allein, und taucht dann kurz darauf hier auf, um sich auszuheulen." Loredana lacht. "Versuch's doch mal im Hotel. Wahrscheinlich schläft er seinen Rausch aus."
Nick bedankt sich ein weiteres Mal für den Kaffee und verlässt die Bar. Auf der Hauptstraße rollen einige Wagen des amerikanischen Präsidenten vorüber. Nick ärgert sich darüber, weil er weiß, wie viel Geld die Schweiz ausgibt, nur um diesen polternden Kürbiskopf mit Matschfüllung zu schützen. Sogar die Autos fliegen die Amis ein, als ob es in Europa keine Limousinen gäbe. Solch einen Unsinn sollte man verbieten, denkt sich Nick und beschleunigt seinen Gang.
Beim Hotel angekommen, kann ihm ebenfalls niemand Auskunft geben. Man habe den Sohn des Besitzers nicht gesehen, erhält Nick als einzige Information. "Du hast meine Nummer, Seb. Ruf mich an, wenn du wieder zurechnungsfähig bist." Mit diesen Worten verlässt Nick das Hotel und geht zur Arbeit.
❄️❄️❄️
Eine Woche später ist Sebastian Bachofen noch immer nicht aufgetaucht. Inzwischen ist das World Economic Forum vorüber, Davos gehört wieder den Asiaten, Russen und einigen wenigen Einheimischen, das Militär und die Polizei räumen die letzten Abschrankungen weg. Sebastians Eltern haben inzwischen eine Vermisstmeldung aufgegeben, Nick hat sie in Zürich besucht und ihnen berichtet, was am Abend zuvor vorgefallen war.
Die Amerikanerin konnte ebenfalls keine Auskunft geben, sie versicherte bloß, nicht mit Sebastian heimgegangen zu sein. Er habe sich plötzlich aus dem Staub gemacht, habe etwas von Toilette gemurmelt und sei nicht mehr zurückgekommen. Sandy sah dabei gekränkt aus und Nick überlegte sich einen Moment, ob er sie trösten sollte, ließ es dann aber bleiben.
Nun sitzt Nick am Davoser See auf einer Parkbank und denkt nach. Auf einmal zieht Nebel auf, vom See her, zuerst nur ein filigraner Flatterstreif, dann eine rasch wachsende Wolke. Nick kann die Hand vor seinem Gesicht nicht mehr sehen, die Temperatur sinkt merklich, Wind kommt auf. Alle Geräusche des Touristenortes sind verschwunden, einzig das Pfeifen des Windes dringt in seine Ohren. Nick fröstelt, will aufstehen, doch seltsamerweise gelingt es ihm nicht. Er fühlt sich ungewohnt leicht, als ob er schwebte.
Dann auf einmal ist der Spuk vorbei, der Nebel lichtet sich und Nick blickt geradewegs in die Nüstern eines Rehs ... oder eines Elchs oder etwas Ähnlichem. Vor Schreck zuckt er zurück, fällt rücklings von dem Stein, auf welchem er sitzt und versinkt im tiefen Schnee. "Verdammt, was ist hier los?" Nick gräbt sich aus dem Pulverschnee, steht auf und versucht die Situation zu überblicken.
"Das ist nicht mehr Davos ..." murmelt er.
"Intelligente Feststellung, Santa."
"Wer redet da? Seb? Zeig dich! Wo bin ich hier?" Nick schaut sich nervös um, dreht seinen Kopf wild hin und her, doch erkennen kann er nur das Vieh, das vor ihm steht.
"Eins nach dem anderen, bitte, ich komme nicht so schnell nach." Die Stimme klingt nach der Computerstimme aus dem Telefon, die Nick niedlicherweise 'Kathrin' nennt, doch es scheint, als ob das Reh-Elch-Dingsbums-Tier gesprochen habe.
"Was zum Teufel ist hier los?"
"Den Schwarzen mit seinen fancy Hörnern und dem dämlichen Klumpfuß lass mal aus dem Spiel, Santa. Der gehört nicht hierher. Ihm wäre es hier deutlich zu kalt; wir sind am Nordpol."
Nick beginnt schallend zu lachen. "Du machst Witze, Kathrin. Sobald ich aufwache, sitze ich wieder auf der Parkbank am See. Und warum zum geschmolzenen Schneemann nennst du mich Santa?"
"Weil du nun mal Santa Claus bist, der Nikolaus, wenn du so willst. Und da wir schon von Namen reden: Wen nennst du hier Kathrin? Ich bin Blitzen, eines deiner Rentiere. Und nun genug der Scherze, komm wieder rein, wir haben viel zu tun." Das Gesicht des Tieres sieht nicht amüsiert aus, soweit ein Rentier mit seiner Mimik spielen kann.
Nick begreift nicht, was mit ihm geschieht, aber er folgt dem pelzigen Tier in eine Art Höhle, welche sich drinnen als riesige Halle entpuppt. Spielzeuge werden hergestellt, Elfen wuseln umher und Kobolde packen die Geschenke ein. Überall liegen Kisten, Schachteln und Geschenkpapier, es knattert, hämmert und zischt. In einer Ecke der Halle riecht es verführerisch nach Schokolade und Lebkuchen, vermischt mit Zimt und Vanille.
"Das ist ein Traum." Nick kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus. Langsam beginnt er sich über diesen sehr realistisch wirkenden Traum zu freuen, erinnert sich an verschiedene Filme, die er auf Netflix geschaut hat und beschließt, die Hauptrolle nicht zu verpatzen. "Okay, Rudolph, dann lass uns mal loslegen!"
Das Rentier blickt ihn beleidigt an. "Blitzen, mein guter, Blitzen. Schau her, es ist alles fertig, du kannst los. Keine Angst, wir helfen dir."
❄️❄️❄️
Die Arbeit des Weihnachtsmannes ist anstrengend, mühsam und kräfteraubend. Geschenke verteilen, in Häuser eindringen und darauf achten, nicht entdeckt zu werden. Vor allem in den USA artet dies in richtig harte Arbeit aus. Nick ist sehr sportlich und ausdauernd, aber das ist sogar für ihn zu viel. Erschöpft greift er nach dem nächsten Geschenk. Sein Mantel hängt schief und ist zur Hälfte aus dem Gurt gerutscht, die Mütze liegt unter der Sitzbank im Schlitten. Dunkle Ringe der Übernächtigung umrahmen die haselnussbraunen Augen und die besten Motivationssprüche der Rentiere prallen an Nick ab wie Wassertropfen am Kerzenwachs.
Als er nach unten blickt, ist er schlagartig wieder wach. "Da rein? Zu dem Typen? Nie im Leben! Vergesst es!" Wie ein Schuljunge steht er da, sein Kinn in die Höhe streckend und die Arme vor der Brust verschränkt. Der Schlitten parkt auf dem Dach des Weißen Hauses. Nur mit viel Überzeugungskraft gelingt es den Rentieren, Nick dazu zu bewegen, die Geschenke für Melania Trump - es hat keines für ihren Mann mit dabei - hinlegen zu gehen. Sie knurren und schubsen ihn zu einem offenen Dachfenster.
Im Innern findet Nick einen stilvoll geschmückten Weihnachtsbaum. Einmal mehr trauert er darüber, dass die unzählig vielen Tannen gefällt werden, nur um unbeachtet in Räumen zu stehen und ein vergängliches Gefühl von Harmonie zu vermitteln. An diesem Baum hier hängt Traurigkeit, denkt er sich, als er die Geschenke der First Lady darunter legt. Ein knarrendes Geräusch lässt ihn aufschrecken.
Hinter ihm steht Donald Trump und lächelt süffisant.
"Du hast mich erschreckt, Donald. Was soll das? Geh schlafen." Nick glaubt, sich verhört zu haben. Niemals hätte er sich zugetraut, so mit dem Präsidenten der USA zu sprechen. Erstaunlicherweise reagiert Mister Trump gefasst, als ob er sich darüber freue, Santa Claus zu treffen.
"Santa! Endlich mal ein normaler Typ in meiner Hütte! Bringst du mir Geschenke?"
Etwas am Ausdruck des mächtigsten Mannes der Welt ist nicht, wie man es aus den Nachrichten kennt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er bei sich zuhause und nicht von Kameras beobachtet ist. Nick glaubt gar, eine zaghafte Sympathie für den Orange Man zu verspüren und fügt leicht bedauernd an: "Nein, Donald. Für dich sind leider keine Geschenke dabei. Wahrscheinlich warst du nicht brav genug."
"Tüpflischiisser!" entwischt es Mister Trump in breitestem Zürichdeutsch und Nick lässt das Geschenk, welches er in der Hand getragen hat, auf den Plattenboden fallen.
"Seb? Bisch. Das. Du?", stammelt er in Mundart.
Donald Trump steht wie versteinert da. Dann fasst er Santa an den Bart, beinah zärtlich. "Nick? Verdammt! Wie geil isch das denn?"
Die beiden alten Freunde fallen sich in die Arme. Von außen betrachtet, hätte das wohl komisch ausgesehen, doch das stört die Jungs nicht. Glücklich lachend begeben sie sich ins Wohnzimmer und setzen sich mit einer teuren Flasche edelstem Scotch auf die Couch.
So kommt es, dass Santa Claus und Donald Trump ihre Sorgen gemeinsam ertränken; im Obergeschoss des Weissen Hauses. Und auf dem Dach warten die Rentiere und frieren sich das Fell ab.
❄️❄️❄️
Voilà. Eine etwas andere Nikolausgeschichte. Ich hoffe, ihr habt daran ähnlich viel Spaß, wie ich ihn beim Schreiben hatte.
Ich wünsche euch einen verzauberten St. Nikolaus Tag.
Euer Bruno
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