8. Türchen
Seit der Pressekonferenz klingelt ununterbrochen das Telefon. Das war zu erwarten. Einige der Rookies müssen helfen und auch einige Officer machen freiwillig Überstunden, um die Anrufe entgegenzunehmen. Bei jedem zweiten Anruf ist eine Person dran, die behauptet, den Täter gesehen zu haben. Ganz, ganz sicher! Alle Beschreibungen zum Aussehen gehen dabei vollkommen auseinander. Wie immer sind außerdem Leute darunter, die felsenfest behaupten, eine der Nachbarn wäre der Mörder. Die Begründungen sind total bescheuert. Der eine schneidet den Rasen falsch, der andere bestellt sich spät abends Pizza und der Nächste ist nachts nicht da, was sofort damit gleichgesetzt wird, dass die Person kriminell ist. Dass es so etwas wie Nachtschichten gibt, ist völlig irrelevant und zählt als Argument nicht.
Es ist ein schwieriger und anstrengender Job. Man muss genau zuhören und gleichzeitig erkennen, wenn jemand Mist redet, um aufzulegen und die Leitung freizuhalten. Abends gibt es nur eine Handvoll hinweise. Seufzend sieht Harry sich die Informationen an, die die Officer rausgeschrieben haben. Es sind nicht viele. Eine Anwohnerin hat ein Auto nachts vor dem Haus parken sehen, dass niemandem ihrer Nachbarn gehört. Ihr war es aufgefallen, weil zehn Minuten der Motor, aber weit und breit niemand zu sehen war. Es war die Straße am Park und der Uhrzeit nach, könnte es der Ford Fiesta gewesen sein. Leider erinnert sich die Dame nicht mehr daran, wie genau das Auto ausgesehen hat. Sie hat nur kurz aus dem Fenster geschaut, zwei Mal und dann war das Auto wieder weg. Auf die Farbe oder das Modell hat sie nicht geachtet.
Es ist ein vager Hinweis, sehr vage. Harry ist sich nicht sicher, ob er ihn an die Tafel hängen soll. Dann tut er es aber, lieber zu viel als zu wenig.
„Ich habe vielleicht was", unterbricht Louis seine Gedanken. Er hat bis gerade selbst noch telefoniert. Er stellt sich zu Harry und sagt: „Ich habe mit den Barkeepern gesprochen, die an dem Abend Dienst hatten, als Allen James das letzte Mal gesehen wurde. Einer von ihnen glaubt sich zu erinnern, dass Allen nicht allein gegangen ist."
„Aber seine Freunde waren schon weg", antwortet Harry skeptisch. Louis nickt. „Ganz genau. Der Barkeeper meint, er wäre sich zu 80 Prozent sicher."
„Das ist nicht hundert."
„Das ist besser als nichts", entgegnet Louis und spricht weiter. „Allen James ist nicht gezwungen worden oder so, das wäre definitiv aufgefallen. Es gab keine Schlägerei oder Auseinandersetzung."
„Du denkst, er ist freiwillig mitgegangen", versteht Harry. Louis zuckt mit den Schultern. „Möglich wäre es. Du weißt genau, dass es Menschen gibt, die unglaublich charmant wirken können, obwohl sie das absolute Gegenteil sind."
„Was wissen wir über die Sexualität von Josh und Allen?", fragt Harry und sieht die Unterlagen zu den beiden Opfern durch. Wieso haben sie nicht früher darüber nachgedacht? Was ist, wenn der Täter mit Josh und Allen geflirtet hat und sie deshalb mitgegangen sind?
„Josh war hetero, genau wie Allen", beantwortet Louis die Frage und wirft diese Theorie damit wieder über den Haufen.
„Ich meine, vielleicht hatten beide eine Erleuchtung, aber wie wahrscheinlich ist es, dass der Täter sich genau so jemanden raussucht?", will Louis von ihm wissen. Harry seufzt. Er weiß, dass Louis recht hat. Wie hat er es also geschafft, dass diese Männer mit ihm gegangen sind? Es gibt hunderte Antworten auf diese Frage, aber keine, die sie belegen können.
Harry ist am nächsten morgen früh dran. Er steigt in seinen Wagen und macht sich auf den Weg zur Wache. Ob Louis schon da ist? Gestern Abend sind sie wieder aneinander gerasselt. Scheiße, dieser Kerl bringt ihn zur Weißglut. Er versteht nicht, wie Louis sich nicht selbst auf die Nerven gehen kann. Er schüttelt leicht den Kopf und fährt auf den Parkplatz eines Supermarkt. Louis ist jeden Morgen unleidlich und anstrengend. Harry muss schon so lange mit ihm aushalten, er braucht zumindest morgens mal eine Pause von diesem Gelaber. Louis redet am laufenden Band Müll. Meistens. Fast.
Harry steigt aus und sieht auf die Uhr. Er ist wahrscheinlich ein paar Minuten zu spät, aber was solls. Lange braucht er nicht. Eine zehn Minuten später betritt er die Wache und macht sich direkt auf den Weg in die Küche. Er braucht Kaffee. Dringend.
„Auch schon da?", fragt Louis und sieht ihn abwertend an. „Hast du die Wache nicht gefunden, oder wieso bist du so spät heute?"
„Halt die Klappe. Es ist gerade mal halb acht", antwortet Harry ihm genervt. „Hast du nichts Besseres zu tun, als mir zuzuschauen, wie ich Kaffee mache?"
„Alles ist besser, als dir bei irgendetwas zuzuschauen."
„Und trotzdem stehst du hier", provoziert Harry ihn und trinkt einen Schluck Kaffee. Louis schnaubt, dreht sich auf dem Absatz um und geht wieder. Harry grinst zufrieden und holt sich seine Ausrüstung. Auch, wenn sie in der Wache sind, trägt er seine Waffe bei sich. Es könnte jeden Moment passieren, dass sie los müssen. Zeit ist kostbar und im Zweifelsfall hängt ein Leben davon ab.
Louis sitzt mürrisch am Schreibtisch. Amüsiert sieht Harry ihn an. „Ist dir die Schokolade ausgegangen oder warum bist du so schlecht gelaunt?"
„Halt's Maul."
Harry lacht. Er weiß genau, dass Louis es hasst, dass er sein heimliches Laster kennt. Schon in der Academy hat Louis Schokolade gegessen, wenn er gestresst war. Vor jeder Prüfung lag ein Riegel auf dem Tisch und immer, wenn er vor Ort gelernt hat. Manchmal war es auch direkt eine ganze Tafel.
Einen kurzen Moment sieht Louis ihn wütend an. Dann steht er auf und verschwindet in die Küche. Harry kümmert das nicht weiter, er arbeitet lieber.
Louis ist schlecht gelaunt. Er wollte gestern schon Tee kaufen, aber hat es mal wieder vergessen. Seine Gedanken kreisen nur um diesen Fall. Um Josh und Allen und den Täter, dem sie immer noch so gut wie kein Stück näher gekommen sind. Es macht ihn wahnsinnig. Er hasst es. Dass er hier keinen richtigen Tee hat, macht es nicht besser. Genervt öffnet er den Schrank und will sich gerade wieder Früchtetee nehmen, als er eine Packung Earl Grey entdeckt. Hat auf dieser Wache etwa jemand Geschmack? Er weiß nicht, von wem dieser Tee ist, aber einen Beutel kann der- oder diejenige bestimmt entbehren.
Zu seinem Glück findet er im Kühlschrank sogar Milch.Vielleicht ist der Tag doch nicht ganz so schlimm, wie er angenommen hatte.Louis trinkt einen Schluck und lächelt unbewusst zufrieden. Harry mustert ihnkurz. Louis hält ja tatsächlich die Klappe. Wie gut, dass er noch weiß, wieLouis seinen Tee trinkt. Er war in der Academy schon unausstehlich, wenn erden morgens nicht hatte. Wieso ist er nicht früher drauf gekommen, Tee zubesorgen?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro