21 - Tropische Weihnachten
"Warum muss Weihnachten mitten im Sommer sein? Ausgerechnet im Dezember, dem heissesten Monat des Jahres?" Jedes Jahr stellte Betty die gleiche Frage wieder und nie wusste ihre Mutter eine sinnvolle Antwort darauf.
Dieses Jahr fand sie ihre Tochter alt genug, um mit ihr über Weihnachten zu diskutieren. "Du hast deinen Geburtstag auch nicht wählen können, oder etwa doch?"
"Nein, natürlich nicht. Warum fragst du?" Betty wollte ihre Mutter auslachen, doch die Mutter war mit ihrer Antwort schneller.
"Weil Weihnachten ein Fest ist, das man zum Geburtstag von Jesus Christus feiert. Die Christen feiern den Geburtstag ihres Religionsführers", erklärte sie ihrer siebenjährigen Tochter.
"Warum sieht man dann auf allen Bildern im Internet verschneite Wälder und einen Santa Claus mitten im Winter?"
"Da stellst du eine wirklich gute Frage, Betty. Darauf kann ich dir nicht so schnell eine Antwort geben. Weißt du, woher Santa Claus kommt?"
"Vom Nordpol. Er wohnt da, mit den Elfen und den Rentieren."
"Das ist, was man sich erzählt, ja. Aber weißt du auch, wer die Geschichte mit Santa Claus so feiert, wie du sie gerade erzählt hast?"
Betty überlegt einen Moment, dann strahlte sie. "Sabrina und Tante Lynn und Onkel Bobby, in Chicago."
"Das ist richtig, dieser Brauch kommt aus den USA. Jedes Land feiert Weihnachten anders. - So, wie es zur Jahreszeit passt."
"Bitte erzähle mir mehr darüber." Die Augen der kleinen Betty leuchteten und sie hüpfte vor Freude auf und ab. Dabei kleckerte sie vom Zuckerguss auf den Tisch, weil sie nicht mehr auf den Pinsel achtgab, mit welchem sie und ihre Mutter die Zimtmännchen bemalten.
Die Mutter lachte und überlegte sich, was sie erzählen wollte. Seit ihr Mann den Job als Touristenführer auf der Insel angenommen hatte, konnte sie sich Weihnachten nicht mehr anders vorstellen als unter Palmen am Strand. Sie hatte schon beinah vergessen, wie Schnee aussah und wie sich das anfühlte.
"Du kennst doch die Länder Österreich und Schweiz, in der Mitte von Europa?"
"Ja. Das ist dort, wo meine Nanny herkommt."
"Dort haben sie keinen Santa Claus. Ihr Weihnachtsmann wohnt im Wald und bringt am 6. Dezember den Kindern Nüsse, Früchte und Schokolade. Die bösen Kinder erhalten Kohle oder eine Rute aus dürren Ästen. Er ist auch nicht mit Rentieren unterwegs, sondern kommt zu Fuss, mit einem Esel."
"Trägt er auch das rote Kleid mit dem weissen Fell?"
"An vielen Orten schon, ja. Aber manchmal ist er auch weiss gekleidet, wie ein Bischoff, mit einer hohen Mütze. Und er heißt auch nicht Santa, sondern Samichlaus. Bei ihm ist immer der schwarz oder braun gekleidete Ruprecht, sein Knecht. In der Schweiz nennen sie ihn 'Schmutzli' - weil er den Kindern die Kohle gibt und sein Gesicht darum schwarz beschmutzt ist."
"Ist der Schmutzli böse?"
"Nein, aber die Kinder. Es kommt noch besser: In Frankreich verteilt der Gefährte von Père Noël den unartigen Kindern sogar eine Tracht Prügel. An vielen Orten in Europa feiert man auch eher den Heiligen Abend, also den 24. Dezember."
"Die armen Kinder!" Betty versteckte ihr Gesicht hinter den Händen. Mutter lächelte.
"Du musst keine Angst haben, du bist ein braves Kind."
"Ich schon, aber Josh nicht", lachte Betty ihren älteren Bruder aus, der soeben in die Küche kam.
"Was ist mit mir?" Er schnappte sich einen der fertigen Kekse.
"Nichts - raus hier! Frauengespräch. Geh, und hilf deinem Vater die Palmen schmücken!" Drohend schwang die Mutter den Teiglöffel, worauf sich Josh noch drei Kekse schnappte und in den Vorgarten stürmte.
"Wer bringt den Kindern die Geschenke, wenn es nicht Santa Claus ist?"
"Seit letztem Jahr weißt du, dass Santa nur eine Geschichte ist, die man den Kindern erzählt. In Europa werden die Geschenke entweder von Père Noël oder vom Christkind persönlich verteilt. Sie sind einfach da. Die Kinder glauben daran. In Italien übrigens bringt die gute Hexe Befana die Geschenke, aber erst am 6. Januar des neuen Jahres; wie auch in Spanien oder Portugal. Der Geschenktag ist der Tag, an welchem auch das Jesuskind seine Geschenke von den Heiligen Drei Königen erhalten hatte."
"Das ist spannend. Ich möchte, dass wir zuerst feiern wie in der Schweiz, dann wie in Chicago und dann wie in Italien - so könnte ich dreimal Geschenke erhalten!"
Ihre Mutter lachte und staunte nicht schlecht über die Schlauheit ihrer Tochter. "Das ginge gar noch besser, meine Liebe: In den Niederlanden feiern sie bereits am 5. Dezember, am Abend vor dem Nikolaustag."
"Und in allen diesen Ländern hat es dann Schnee? Wie auf den Bildern im Internet?"
"Nein. In den Ländern am Mittelmeer hat es meistens keinen Schnee, obwohl es Winter ist. Aber weil so viel mehr Menschen Weihnachten im Winter feiern und weil das Internet vor allem eine amerikanische Sache ist, sieht man dort so viele Bilder von Santa Claus und vom Schnee."
"Ich würde gerne einmal zu Tante Lynn fahren, wenn Weihnachten ist."
"Das ist eine gute Idee, Betty. Vielleicht im nächsten Jahr. Dein Vater und ich könnten einmal Urlaub nehmen, damit ihr Weihnachten im Winter erleben könnt, mit Schnee und mit Santa Claus."
Betty stimmte das Lied "White Christmas" an und ihre Mutter stimmte mit ein. Als der Vater Nachschub an Keksen holen wollte, lehnte er sich an den Türrahmen und sang ebenfalls mit. Am Ende des Songs lachte er.
"Ich glaube es nicht, dass ihr ausgerechnet diesen Song singt!"
"Warum? Wir haben hier nie weiße Weihnachten. - Ich liebe den Song! zudem haben Betty und ich beschlossen, im nächsten Jahr zu meiner Schwester nach Chicago zu fahren, damit die Kinder einmal Schnee sehen, wenn Weihnachten ist."
"Das ist eine tolle Idee, Schatz. Aber wisst ihr auch, woher der Song, den ihr gerade gesungen habt, ursprünglich kommt?"
Die Frauen schüttelten den Kopf, Betty leckte die Kelle mit dem Zuckerguss ab.
Der Vater spielte den Touristenführer. "Also, meine lieben Gäste. Der Song "White Christmas" wurde von Irving Berlin in Kalifornien geschrieben - mitten in einem sehr heißen Sommer. Er hatte wohl die Idee, sich mit einem Lied über eine verschneite Weihnachtslandschaft abzukühlen. Das war schon 1942."
"Was Sie nicht alles wissen. Sie sind so ein toller Reiseführer!" Gail drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. "Sind die Palmen fertig? Grill bereit? Tische gedeckt?"
"Ja, mein Schatz. Und das Meer haben wir auch geschmückt, damit die Gäste unbeschwert schwimmen und surfen können. Kommt schon, die Drinks werden warm! Nehmt die Kekse mit!"
Als letzte verließ Betty die Küche. Doch bevor sie in den Garten trat, hängte sie noch rasch ihre übergroße Socke über den Kamin, stellte ein Glas Milch und einen Teller mit Keksen auf den Tisch im Wohnzimmer - für alle Fälle.
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