16 - Eisbär
Polarbären sind in der Fantasy-Filmwelt mächtig und stark, verkörpern Könige und herrschen über andere Tiere. In Kindergeschichten sind sie knuffig, süß und kuschelweich; tollpatschig oder witzig. Die Autokennzeichen in den kanadischen North-West Territories haben ihre Form und ein Hersteller von besonders wintertauglichen Campingfahrzeugen nutzt die weißen Riesen als Logo und für den Namen. Eisbären.
Es scheint, als sei die Menschheit fasziniert von diesen stolzen und starken Jägern. Gleichzeitig zerstören wir, immer unserem Egoismus folgend, deren natürliche Lebensgrundlage, indem wir dafür sorgen, dass das Packeis im Sommer verschwindet und der Eisbär auf das Festland ausweichen muss, wo er kaum Nahrung findet. Somit kann er sich zu wenig Reserven aneignen und überlebt eventuell den Winter nicht. Wichtige Länder der Polarzone, wie zum Beispiel Russland im Juni 2023, haben zudem den WWF als unerwünschte Spionage eingestuft und deren Wirken auf dem gesamten Staatsgebiet verboten.
Die folgende Geschichte hat sich noch nicht ereignet. Sie beruht auf der Fantasie eines Autors, der sich Gedanken zur Vielfalt der Lebewesen auf einem einst gesunden Planeten macht. Jede Übereinstimmung mit Zeitungsmeldungen aus der Zukunft sind rein zufällig, wären jedoch unter Umständen überfällig.
***
Das Leben findet einen Weg
(eine Science-Fiction-Kurzgeschichte von Bruno Heter)
Drei kleine Polarbären wimmern und heulen. Ihre Mutter sitzt auf einer Eisscholle, und wird weggetrieben. Zu weit ist sie bereits weg, als dass sie es noch zurück zu ihren Jungtieren schaffen könnte. Als gute Schwimmerin könnte sie durchaus den Weg zurücklegen, wenn sie genügend Kraftreserve hätte, aber der letzte Winter war hart und die Robben machen sich rar, die Bärin hat Hunger und ist schwach. Als der gewaltige Öltanker das Packeis aufgerissen hat und ihre Scholle weggetrieben wurde, erfasste sie die innere Gewissheit, ihre Jungtiere dem eigenen Schicksal überlassen zu müssen, obwohl sie noch keine zwei Jahre alt sind.
Im Wasser kreisen Orcas, welche offensichtlich bereits Beute wittern. Mit einem Mal legt sich einer der Meeresjäger an die Wasseroberfläche, so dass er mit seinem seitlich liegenden Auge die Bärin betrachten kann. Sie blickt ihm direkt ins Auge, verzweifelt, ängstlich aber dennoch bittend und es ist, als könnten sie sich verstehen. Der Wal taucht ab, wenig später legen drei Tiere ihre Schnauze an die Eisscholle und schieben sie Richtung Packeis, wo die drei kleinen Polarbären noch immer jammern.
Als die Bärenmutter nah genug ist, wagt sie den Sprung zu ihren Jungen und erreicht sie ohne nass zu werden. Die Kleinen kuscheln sich sofort an die weiße Bärin, schnuppern und lecken sie zur Begrüßung. Derweilen blickt die Mutter dankbar aufs Meer zurück, wo die Orcas noch kurz warten, dann Wasser aus ihren Atemlöchern hochschießen lassen und abtauchen.
Die Bärenfamilie trottet hungrig zur Höhle zurück, die kleinen spielen unterwegs noch mit Eisbrocken oder sie rutschen über Schneehügel. Männliche Tiere machen sich rar. Es ist, als ob sie einem seltsamen Wandertrieb folgten. Es ist schon Wochen her, dass das Männchen seine Partnerin kurz beschnuppert hatte, um anschließend von dannen zu ziehen; was nichts Seltsames ist, bei Einzelgängern; dass aber gleich alle Männchen fehlen, ist ungewöhnlich.
***
Polarforschungsstation "Arctic-Circle 05", der Norwegischen WWF-Sektion, 3. Februar 2025
Lars Hjalmarson lässt seine Teetasse fallen. Sie fällt zu Boden, zersplittert und der Tee spritzt über den Fußboden, hoch bis an die Knie des Polarforschers. Hinter ihm lachen seine Kollegen.
"Lars! Wo doch das Putzmädchen heute frei hat! Hast du einen Troll entdeckt?"
Der Forscher starrt auf seinen Bildschirm, bewegungslos.
"Leute, kommt her!", ruft er nur in den Raum. Das Lachen verstummt. Die drei anderen Forscher rennen zu ihrem Kollegen und betrachten den Bildschirm.
"Das kann nicht sein!" Gunter Ingmarson ist der Älteste unter ihnen. "Hast du die Messgeräte überprüft?"
Smilla Jansen deutet die Zeichen als Erste: "Sind das alles Eisbären? Jeder dieser Punkte hier?"
"Ja, Smilla, wie immer hast du ein Gespür für Schnee. Das sind Polarbären. Und sie kommen direkt auf uns zu."
"Das müssen Hunderte sein. Was treibt sie her? Zeichen für einen Tsunami?"
"Nein, verdammt. Alles ruhig da draußen. Kein verdammter Sturm, keine Hawaiiwelle, keine Sonarbombe und keine irren U-Boote. Fuck! Der verdammte Ami, der Santa Claus hat wohl gefurzt!"
Seine Kollegen blicken den bärtigen Mann streng an. "Lars, wenn du nicht endlich an deiner Sprache arbeitest, mein Lieber, findest du nie ein Weibchen, das mit dir kleine Eisbären großziehen möchte." Zu diesen Worten legt ihm Smilla die Hand auf die Schulter und zwinkert ihm zu.
"Momentan will ich auch keine kleinen Eisbären. Ich möchte wissen, was das hier soll. Die Tiere laufen Amok!"
"Damit könntest du durchaus recht haben. Zeig mir mal die Ölstation, bitte", meldet sich nun auch der Jüngste der Truppe, Trotte Bergson. "Wenn meine Berechnungen stimmen - und davon gehe ich aus - dann bewegen sich die Punkte nicht auf uns zu, sondern auf die Bohrstation der Russen. Hier, keine vierzig Kilometer von unserem Territorium entfernt. Und seht euch das an - von Osten kommen auch welche!"
"Aufnehmen und Meldung machen. Wir müssen das im Hauptquartier melden." Gunter greift bereits zum Telefon.
"Sollten wir nicht auch die Bohrstation benachrichtigen?", fragt Smilla unsicher.
Ihre drei Kollegen blicken sie überrascht an.
"Nein. Sie wollten das Öl - nun sollen sie die Konsequenzen tragen!"
"Es sind Menschen, die dort arbeiten! Menschen, die mit den politischen Entscheidungen ihrer Regierungen nichts zu tun haben!"
"Ja. Aber wir helfen den Tieren und der Natur. Nach Öl zu bohren, ist nicht natürlich; das geht uns nichts an. Zudem haben die eigene Radarsysteme."
Gunter legt das Telefon weg. "Ist gut, Smilla - ruf sie an. Sie sollten gewarnt werden und eine minimale Chance zur Selbstverteidigung erhalten."
***
Im Arktischen Eismeer, Internationale Gewässer, Polregion, 2. Februar 2025, 22:30 Uhr
Der Eisbrecher "Pushkinii Twa" der Russischen Armee kreuzt in Richtung Taimyr-Insel. Der Matrose am Sonar ruft nervös nach dem Kapitän.
"Was gibt's, Vladimir?"
"Kapitän, da sind Wale."
"Das ist nichts Neues, mein Sohn. Da draußen hat es mehr Wale als die Eskimos fressen können."
"Sie verstehen mich nicht, Kapitän. Die Wale folgen uns."
Der Offizier wirft einen Blick auf das Sonar. "Bewegen wir uns auf einer Wal-Wanderroute?"
"Nein. Hier dürfte es keine Wale geben, mein Kapitän."
Jetzt wird auch der Kapitän nervös. Er befiehlt, sofort nach den Walen Ausschau zu halten und wenn nötig auf sie zu schießen.
Die Befehle kommen zu spät. Acht ausgewachsene Pottwale rammen das Schiff von Backbord. Der schlanke Eisbrecher hat keine Chance, er kippt zur rechten Seite wie ein Spielzeugschiff in der Badewanne des rotznäsigen Sohnes des Kapitäns. Eisiges Wasser tritt ein, flutet die Gänge und Räume der verschiedenen Decks. Das Schiff sinkt in wenigen Minuten.
Matrosen, welche sich blitzartig in Rettungsboote begeben haben, treiben auf der aufgewühlten See, schlottern und zittern, begreifen nicht, wie ihnen geschehen ist.
Dann geht es plötzlich schnell. Orcas springen aus dem Wasser, lassen die Boote kentern und fressen die schwimmenden, rudernden und zappelnden Menschen.
Das Eiswasser ist rot gefärbt, als es sich wieder beruhigt. Vom Schiff ist nichts mehr zu sehen. Die Wale ziehen weiter in Richtung Sibirien.
***
Nachrichten auf allen Sendern weltweit, 8. Februar 2025
"Russland - Die russische Ölbohrstation im Nordpolargebiet wurde offenbar von Eisbären angegriffen. Soweit man bisher weiß, gab es keine Überlebenden. Der Angriff erfolgte, laut offizieller Angaben, ohne Vorwarnung am 5. Februar des noch jungen Jahres. Die Russische Regierung hat umgehend reagiert und macht die Amerikaner dafür verantwortlich. Es wird vermutet, dass die Tiere manipuliert und ferngesteuert worden sind, ähnlich wie man das von Drohnen kennt. Der Amerikanische Präsident hat diese Behauptung als lächerlich bezeichnet und will sich nicht weiter darum kümmern.
Russland - Zudem erreicht uns die Meldung, dass ein russisches Kriegsschiff versenkt worden sei, offenbar von manipulierten Walen, laut der russischen Pressesprecherin. Der Amerikanische Präsident bezeichnet auch das als Fake News.
USA - Der Präsident der USA setzt sich vehement für mehr Ölbohrrechte der amerikanischen Ölgesellschaften ein und will dazu die Naturschutzgebiete im Norden Alaskas für die Ölförderung freigeben.
Europa - Aus Skandinavien erreichen uns immer wieder Meldungen über Angriffe von Walen auf Fischerboote oder Tankschiffe. Wissenschaftler vermuten einen Zusammenhang mit dem jüngsten Ausbau der Sonarnetze im Polarmeer. Die Tiere könnten durch die erhöhte Frequenz fehlgeleitet werden.
Und nun zu wichtigen Meldungen aus der Sportwelt. Die Fussball-WM in Kolumbien scheint gesichert zu sein. Die Finanzierung ist garantiert und die Regierung kümmert sich um den Bau der Stadien."
***
Glacier Nationalpark, USA, 12. Mai 2025, Rangerstation
Nach zahlreichen Angriffen von Grizzly-Bären auf Menschen wurde der Park für die laufende Saison vorübergehend gesperrt. Der Präsident spricht von gezielten Terror-Attacken aus Russland oder China.
Fred Jensen legt sein Telefon weg. Er steht schwitzend vor seinen ranghöchsten Rangern des Parks.
"Okay; wir haben sieben tote Touristen durch Grizzlies. Unsere Bären laufen Amok. Ich habe soeben mit meiner Schwester telefoniert, die in einer WWF-Forschungsstation in Norwegen arbeitet. Sie beobachten seit Februar seltsames Verhalten bei Eisbären und Walen.
Sie haben die Daten an die offiziellen Stellen weitergeleitet, doch davon hat man bisher nichts erfahren können. Unsere Bären hier versammeln sich, wir können das nicht leugnen. Zudem zeigt die Überwachung der Wölfe ein ähnliches Verhalten an. Es scheint, als ob sich die Tiere auf einen Krieg gegen uns einstellen. Ich verstehe nicht, was da los ist. Ideen?"
"Sir, mit Verlaub. Darf ich offen reden?"
"Solange du damit unseren Touristen das Leben rettest und den Park wieder eröffnen kannst, bitte!"
"Mein Großvater hat mir davon berichtet. Wenn der Mensch zu gierig wird und das natürliche Gleichgewicht droht zu kippen, wird das Leben einen Weg finden, sich zu schützen."
"Was soll das heißen, Ken?"
"Nun, unsere Ahnen wussten, wie man mit Tieren und der Natur umgehen muss. Sie kannten den Kreislauf und das Gleichgewicht. Von Geld und Profit ist da keine Rede - das sind Erfindungen der modernen Gesellschaft. Es könnte doch sein, dass das Leben nun zurückschlägt und das tödliche Virus vernichtet."
"Welches tödliche Virus? Wovon sprichst du?"
"Den Menschen - Das Leben vernichtet uns, weil wir es umbringen werden. Es wehrt sich."
"Genau das hat meine Schwester Smilla am Telefon auch gesagt. Mann - soviel kann man gar nicht trinken und rauchen, dass man das unseren Regierungen erklären könnte. - Ich vermute, wir werden wohl verlieren."
"Momentan sind es nur die Jäger - vielleicht haben wir noch eine Chance. Wenn die Insekten und Pflanzen gegen uns sind, oder die Bakterien - dann nützt uns kein Gott, den wir erfunden haben und kein Medikament, das wir entdeckt haben. Dann, mein lieber Fred, bin ich mit dir einig - dann hilft nur trinken und rauchen, damit wir nicht spüren, wie es endet. Aber wir sind noch nicht so weit! Noch sind es nur die Jäger!"
"Was schlägst du vor?"
***
Hier endet meine kleine Geschichte. Zumindest im Moment. Ich habe Lust bekommen, sie weiterzudenken. Vielleicht mache ich dereinst etwas draus. Für den Moment lasse ich euch aber darüber nachdenken, was ihr in dieser Situation tun würdet.
Morgen wird es wieder festlicher und erfreulicher - versprochen.
Ich glaube übrigens an das Gute im Menschen, so grundsätzlich. Und keine Enttäuschung wird mich je davon abbringen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro