06 - Der störrische Esel
Scheinbar unendlich zieht sich die dunkle Nacht dahin. Der Schnee liegt meterhoch; mit seiner kleinen Schaufel hat Nick, der Besitzer der kleinen Hütte, einen Pfad vom Waldweg zum Stall und vom Stall zur Hütte geschaufelt. Nur gerade der oberste Rand der Fenster guckt zwischen den Schneebergen und dem Dach keck hervor; warm schimmert das Licht als schmaler Streifen und spiegelt sich im Weiß. Aus dem Kamin steigt der Rauch in kleinen Wellen, verpufft im kalten Wind; der Geruch des wärmenden Feuers legt sich zwischen die schweren, schneebedeckten Äste der Tannen.
Nick sitzt an seinem wackeligen Tisch aus Tannenholz und verpackt die letzten Geschenke für die Kinder der Familie Benz, die er heute Abend besuchen wird. Aus einem alten Radio erklingt rockige Weihnachtsmusik und Nick pfeift fröhlich falsch mit, den Kopf unrhythmisch wippend. Ihm ist das egal; er freut sich über die Musik und hat seinen Spaß daran. Auf dem Holzofenherd steht dampfend eine Kanne Tee. Der Duft nach Orange und Zimt verbreitet sich im Raum, vermischt sich mit einigen Rauchschwaden, die den Weg durch den Kamin nicht finden und spinnwebengleich an der Decke hängen.
Als er sämtliche Geschenke verpackt hat, kontrolliert Nick noch einmal die Liste. Alles erscheint korrekt; die Spielsachen sind mit den richtigen Namen angeschrieben und altersgerecht verpackt. Nichts hat er vergessen. Zufrieden schnappt sich Nick einen Pfefferminzstab und steckt ihn sich in den Mund; singt dazu 'Cool Yule' und packt die Geschenke in den Jutesack, den er anschließend sorgfältig zuschnürt. Dann verlässt er zufrieden seine Hütte und stapft rüber zum Stall.
"Ben? Bist du bereit?" Nick kontrolliert die Box, doch der Esel ist nicht da. "Ben?" Er macht sich Sorgen. Draußen im Schnee sieht er des Esels Spuren und folgt ihnen um den Stall herum. Immer tiefer in den Wald muss er gehen, was angesichts des vielen Schnees nicht einfach ist. Mehrmals stolpert Nick oder wird von herabfallendem Schnee der wankenden Äste getroffen. Der Esel steht auf einer Lichtung und frisst gemütlich etwas Heu, das er offensichtlich aus dem Stall mitgenommen hat.
"Ben! Das bist du ja; was fällt dir ein, so ohne etwas zu sagen in den Wald zu gehen. Ich suche dich schon überall." Nick ist leicht verärgert über seinen eigenwilligen Esel. Schon im letzten Winter hat das störrische Tier öfter Ärger gemacht; der Esel knabberte die Sträucher in den Gärten der Familie an oder bediente sich aus den Früchteschalen, die zum Kühlen draußen am Küchenfenster standen.
"I' bin hie' - du haft mi' gefunden", antwortet der Esel gleichgültig, und kaut dabei genüsslich weiter.
"Leg gefälligst das Heu aus dem Maul, wenn du redest - ich versteh kein Wort!" Nick schreitet auf seinen Esel zu.
Dieser wackelt nur kurz mit den Ohren, schluckt und dreht sich weg.
"Wir müssen los, Ben. Die Suttens haben nicht den ganzen Tag Zeit."
Erschrocken dreht sich der Esel um. "Nicht schon wieder die Suttens, bitte nicht! - Diese Kinder haben keine Geschenke verdient, Nick!"
"Doch - sie stehen auf der Liste", rechtfertigt sich Nick vor seinem Esel.
"Die Liste! Was bist du doch für ein alter, dicker Narr. Papa Sutten arbeitet in der Informatik. Für ihn ist es ziemlich einfach, diese Liste zu bearbeiten." Ben verdreht die Augen und wackelt mit den Ohren.
"Was willst du damit sagen?"
"Dass deine Liste falsch ist. Ich meine - komm schon! Gute Kinder und unartige Kinder? Wie veraltet ist das denn? Wenn du die Kinder heutzutage nach diesen zwei Kriterien einteilen willst, dann sind alle Kinder unartig. Wir haben nichts mehr zu tun; du gehst beim Arbeitsamt stempeln und ich fresse hier weiter mein Heu." Der Esel blickt Nick herausfordernd an.
Dieser staunt nicht schlecht über seinen Esel. "Wie soll man denn anders einteilen als in brav und unartig?"
"Vielleicht in 'unartig' und 'böswillig'? Das wäre immerhin zeitgemäß", gibt der Esel emotionslos zur Antwort.
"Willst du damit sagen, es gäbe keine artigen und braven Kinder mehr?"
"J-A!"
"Aber die kleine Amber, bei den Suttens - die ist brav!" Nick lächelt.
"Hat mich letztes Jahr am Schwanz gezerrt. Sie sucht nach ihren Grenzen und nach Aufmerksamkeit. Nicht brav!"
"Und was ist mit Robin? Er möchte einen Football-Handschuh."
"Damit er mir wieder den harten Ball anwerfen kann und danach behauptet, es sei ein weicher Schneeball gewesen? - Der kleine, verlogene Kerl ist unartig, lieber Nick. Ihm ist langweilig. Nicht brav."
"Ach was. Aber Jenny, die Älteste. Sie ist immer brav und lernt viel."
"Die Nächte verbringt sie am Handy und schläft dafür in der Schule; sie mobbt ihre Schulkolleginnen und verbreitet Lügen über ihre Lehrer. Auch sie: nicht nett. - Tut mir leid, Nick, diese Kinder sind unartig. Luxusverwöhnte Kinder, denen nach Abwechslung dürstet."
"Und weshalb steht dann hier: artig"?" Nick hält dem Esel sein Handy mit einem Foto der Liste hin.
"Die Eltern wissen oft als letzte darüber Bescheid, was ihre Sprösslinge anstellen, weil sie glauben, alles richtig zu machen. Und wenn sie es erfahren, dann schieben sie die Schuld auf Lehrpersonen, Nachbarn und die Gesellschaft - was auch sie zu unartigen Menschen macht, nebenbei erwähnt. Nick, mein Freund, sieh es ein: Artig und unartig, das ist Schnee von gestern."
Nick beginnt sich zu ärgern. "Du bist ganz schön störrisch, weißt du das?"
"J-A. Das liegt in unserer Natur. Ich bin ein Esel, solltest du das vergessen haben."
"Was machen wir nun? Die Suttens warten auf die Geschenke."
Der Esel denkt nach. Nick wird ungeduldig.
"Weißt du was? Ich bringe die Geschenke ohne dich", versucht er den Esel zu erpressen.
"Ich kann dich nicht davon abhalten. Aber bedenke eines: Damit trittst du alles, wofür du einst eingestanden bist, mit Füßen, mein lieber Nick. Wir sollten die Geschenke stattdessen zu Kindern in Not bringen. Zu Kindern, welche nicht im Überfluss leben und daher auch nicht unartig sein können, weil andere Dinge im Zentrum ihres Alltages stehen."
"Für einen störrischen Esel bist du ganz schön schlau, lieber Ben. So machen wir das. Vielleicht hilft es den Suttens sogar, darüber nachzudenken, weshalb sie wohl keine Geschenke erhalten haben." Nick strahlt und streichelt den Esel.
Zufrieden trotten Nick und sein Esel durch den Wald zur Hütte zurück. Dort bindet Nick den Sack auf des Esels Rücken. Dann ergreift er die Zauberleine. Mit feinem Zischen und tausenden von Sternchen flimmern die beiden davon. Zurück bleibt etwas Heu am Boden, gleich neben den Fußspuren des störrischen Esels.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro