02 - Hetiheti
Seit einigen Wochen fallen die Blätter bunt von den Bäumen, bilden raschelnde Haufen. Igelfamilien bauen sich die Nester, welche sie vor der großen Kälte schützen werden. Die Tiere sind bereits schläfrig, wenig aktiv, was den Bau mühsam macht. Hetiheti ist wach. Er rennt mit seinen kleinen Beinchen durch das dürre Laub, stachelt und stichelt seine Geschwister an, jauchzt vor Vergnügen. Dann und wann reißt er mit seiner überbordenden Energie die mühsam gebauten Nester wieder ein, was ihm regelmäßig Schelte einbringt.
Geknickt trottet er jeweils beleidigt von dannen, seine Nase tief am Boden, auf der Suche nach etwas Essbarem oder nach anderen interessanten Dingen, die er entdecken könnte. Als das Wetter spürbar kühler wird, verzieht sich Familie Igel in den fertigen Winterbau.
"Heti, kommst du? Es ist Zeit", mahnt ihn seine Mutter.
Doch der vorwitzige kleine Igel lehnt ab, er hat eine Maus entdeckt und jagt dieser nach. Sorglos rennt er durch den Garten, sich wenig um die Appelle seiner Mutter kümmernd. Nur knapp entkommt er einem mächtigen, schwarzen und runden Ding, das hässlich schreiend hinter ihm durchzischt, als er über eine graue, harte Fläche rennt. Er dreht sich kurz um; im falschen Moment, wie er feststellen muss, denn die Mauer hat er nicht kommen sehen; er knallt voll dagegen. Einige Sekunden bleibt er benommen liegen, kugelt sich reflexartig ein. Seine empfindliche Nase brennt. Hinter ihm zischen weitere runde Dinger durch; das muss eine wilde Horde unbekannter Wesen sein, überlegt er.
Nach einer Möglichkeit suchend, die Mauer zu erklimmen, folgt er ihr und tatsächlich wird sie auf einmal tiefer, bis er letztendlich fast ebenerdig draufklettern kann. Die Maus ist längst weg. Heti folgt der Mauer und entdeckt einen Garten. Er versucht mit seiner Nase nach der Familie zu schnüffeln, doch da ist nichts als kalte Luft. Heti durchquert den Garten, stochert in jeden Laubhaufen, guckt unter jedem Holzstapel nach. Doch da ist nichts.
Als es dunkel wird, legt sich Heti traurig unter einen Laubhaufen. Seine kurzen Beinchen schmerzen vor Kälte; wie gerne hätte er sich jetzt zwischen seine Geschwister gelegt, ihrem Geplapper gelauscht, sich mit ihnen zusammen Wärme gespendet.
Sonnenstrahlen wecken ihn tags darauf; er schleicht in den Garten und sucht weiter. Seine Nase gibt ihm noch immer keine brauchbaren Spuren, offensichtlich ist sie verletzt. Heti muss sich auf seine Augen verlassen. Der Garten sieht fremd aus; nicht unfreundlich, aber eben nicht die gewohnte Umgebung. Nur langsam kehrt die Erinnerung zurück. Die schwarzen Bestien, seine Flucht, die Mauer. Er muss auf der anderen Seite des schwarzen Flusses des Todes sein. Mutter hatte ihn immer davor gewarnt. "Überquere nie den Fluss des Todes. Die schwarzen Bestien sind schnell und trampeln dich platt!" Ihre mahnende Stimme klingt in seinem Kopf.
Heti setzt sich auf die Mauer, er blickt auf den Fluss. Tausende dieser Bestien rennen an ihm vorbei, mal jaulend wie Wölfe oder knurrend wie Bären. Sie rennen in beide Richtungen; also sind sie nicht auf der Flucht, sondern eventuell auf einer ungeordneten, wirren Suche nach Futter. Zwischen ihnen durchzuschleichen ist unmöglich. Heti dreht sich vom Fluss des Todes weg und trottet in den neuen Garten zurück. Zu allem Übel hat sich das Wetter verschlechtert. Die Sonne ist hinter schwarzen Wolken verschwunden, zögerlich, spielerisch tänzeln erste Schneeflocken zur Erde. Es wird Winter und Heti hat keine Hütte. Er schämt sich, nicht auf seine Mutter gehört zu haben und kuschelt sich weinend unter einen Busch. Der Schneefall wird stärker, die weiße Pracht deckt alles zu, das Gras, die Laubhaufen und auch Heti.
***
Drei Tage lang hat es unaufhörlich geschneit, die weiße Decke liegt einen halben Meter hoch. Dann endlich zeigt sich die Sonne wieder. Voller Energie und Freude schlüpfen die Kinder in ihre gefütterten Stiefel, ziehen die Winterjacken an, setzen eine Mütze auf und wärmen ihre Hände mit den Handschuhen. Dann gibt es kein Halten mehr, die Mutter ermahnt sie noch kurz, vorsichtig zu sein, doch die schreienden und jubelnden Kinder können sie nicht mehr hören. Sie schaut vom Wohnzimmer aus zu, schmunzelt und nimmt einen Schluck des Milchkaffees, den ihr Mann unterdessen zubereitet hat.
"Lass sie spielen! Wir waren doch auch so, wenn der erste Schnee im Garten lag", beruhigt er sie, als er sie von hinten umarmt und ebenfalls grinsend in den Garten blickt.
"Ja; aber du weißt doch ... der Mutterinstinkt lässt sich nicht abschalten."
Gemeinsam schauen sie ihren Kindern beim Bau eines Schneemannes zu und lächeln. Auf einmal stehen alle Kinder beim Busch zur Straße hin; sie stochern im Schnee und wirken fasziniert, als hätten sie etwas Interessantes entdeckt.
Die kleine Teresa hüpft vor Freude, ihr großer Bruder greift in den Schnee. Er hebt ein braunes Etwas hervor und stapft auf die Veranda zu. Der Vater steht bereits draußen, die Mutter noch in der offenen Tür.
"Mama, Papa, schaut mal - wir haben einen kleinen Igel gefunden! Aber er bewegt sich nicht."
"Ist er tot?", fragt Teresa traurig, auf die stachelige Kugel blickend und bereits leicht schluchzend.
"Zeig mal her, Rafael", fordert der Vater seinen Sohn auf. Dieser reicht ihm den Igel, der sich noch immer nicht bewegt hat.
"Wahrscheinlich wurde er vom Schnee und von der Kälte überrascht."
"Aber die Igel haben sich doch längst zum Winterschlaf gelegt." Die Mutter blickt sorgenvoll auf das Knäuel und nimmt ihre kleine Tochter in den Arm.
"Können wir ihn aufwärmen? - Mama, bitte?" Teresa richtet ihre traurigen Knopfaugen auf die Mutter, dann auf den Vater.
"Wir können es versuchen. Bringen wir ihn zuerst hinein."
Der Schnee ist plötzlich nicht mehr interessant, der Schneemann nur zur Hälfte gebaut. In Vaters Werkstatt hat die Familie eine graue Kiste gefunden und mit dem Stroh der Osternestchen ausgepolstert. Vorsichtig legt Vater den Igel auf das neue Bett.
"Warum bewegt er sich nicht?"
"Ich glaube, der ist tot." Rafaels Worte lösen bei Teresa einen Weinkrampf aus, die Mutter blickt ihn streng an und führt das Mädchen ins Wohnzimmer.
"Er ist nicht tot, Rafael. Schau her." Der Vater hält einen Kaffeelöffel vor die Nase des Igels. Die glänzende Fläche beschlägt sich sofort; der Igel atmet. "Sei so nett und hole die Wärmelampe, die ich brauche, wenn ich etwas lackiert habe."
Rafael eilt in den Kellerraum nebenan und greift nach der roten Lampe. Gemeinsam richten sie die wärmenden Strahlen auf den Igel. Danach stellen sie eine kleine Schale mit Wasser in die Kiste und warten. Einige Minuten vergehen, dann bewegt sich der Igel.
***
Heti spürt eine wohlige Wärme, er denkt an seine Familie, an Mutter und öffnet vorsichtig die Augen. Sofort schließt er sie wieder, ein rotes Licht blendet ihn. "Ist das die Welt nach dem Tod, von der Mutter uns erzählt hat?", fragt er sich. Erneut wagt er einen zaghaften Blick. Als sich die Augen an das Licht gewöhnen, kann er Umrisse wahrnehmen. Graue Wände umgeben ihn, zu hoch, um drüber klettern zu können; zudem sind sie zu glatt um sich daran hochzuziehen. Er ist gefangen, doch er ist zu schwach, um in Panik zu geraten, fügt sich seinem Schicksal.
Erfreut stellt er fest, dass ihm seine Nase wieder Eindrücke der Umgebung liefert. Keinen der Gerüche kann er einordnen; alles riecht fremd, unnatürlich. Als er sich langsam entkugelt bemerkt er die Schale mit Wasser und stürzt sich sofort darauf, trinkt gierig.
Er hört Tierstimmen, die er nicht kennt. Sofort kugelt er sich wieder ein; lauscht der drohenden Gefahr. Heti hat Angst. Große Wesen beugen sich wie Schatten über ihn, das wärmende Licht verschwindet. Die Wesen haben eine Art Rüssel mit Greifzangen dran; sie greifen nach ihm und heben ihn hoch. Heti zittert; aus Angst pupst er.
Die Greifarme legen ihn wieder ins Stroh, lassen ihn beinah fallen. Die Wesen schreien und glucksen. Offensichtlich betrachten sie seine Pupskügelchen als eine Bedrohung. "Dann habe ich wenigstens eine Waffe um mich zu verteidigen", denkt sich Heti belustig; seine Mutter hat ihn jeweils gerügt, wenn er aus Versehen ins Nest pupste.
Die Greifarme fahren erneut auf ihn zu und heben ihn hoch. Die Wesen tragen ihn weg; die Umgebung wird heller. Die Wesen legen ihn wieder auf Stroh und Hobelspäne, Heti kann das Holz riechen. Er riecht auch Tiere, ähnlich wie Mäuse. Scheinbar ist die neue Umgebung wieder eine Kiste, mit magischen Wänden diesmal, denn Heti kann hindurch blicken und eine zweite, viel größere Kiste erblicken, in welcher die riesigen Wesen wohnen.
Ein Rascheln hinter ihm lässt ihn sich erschrocken umdrehen.
"Keine Panik, Stachel-Bro, ich tu dir nichts."
Heti blickt in ein rundes, pelziges und kauendes Gesicht. "Du kannst mich verstehen?"
"Ehm, wieso nicht? Siehst fast aus wie ich, nur mit diesen seltsamen Stacheln. Bleib mir ja vom Leib!"
Heti macht einen Schritt auf das seltsame Tier zu. "Du hast Futter?"
"Klar - da drüben. Hast du Hunger? Bedien dich. Die Menschen legen neues Futter rein, wenn die Schale leer ist. Voll das Paradies hier!"
"Menschen?" Heti schleicht auf die Futterschale zu und schnuppert daran. Es riecht gut, nach Gemüse und Getreide. Sofort beginnt er zu fressen.
"Langsam, Kumpel, niemand nimmt es dir weg - eigentlich nimmst du es mir weg, aber egal. - Die Menschen sind die Großen da draußen. Sie sind voll die Diener. Sie misten das Nest aus, wenn es schmutzig ist, sie bringen täglich frisches Wasser und Futter. Nichts musst du selbst machen; Luxus pur. Die kleineren von ihnen nerven manchmal, wenn sie an die Scheibe klopfen - wenn du sie jedoch nicht beachtest, hören sie meist schnell wieder damit auf. Wer oder was bist du eigentlich?"
Zwischen zwei Backen voll Futter dreht Heti sich um. "Ich bin Hetiheti. Ich bin ein Igel. Und du?"
"Ich habe keinen Namen. Hamster brauchen das nicht. Seid ihr Igel nicht im Winterschlaf?"
Heti hört auf zu futtern und blickt den Hamster traurig an.
"Was ist mit dir? Du heulst ja schon bald."
"Ich habe meine Familie verloren. Sie sind ohne mich in den Winterschlaf."
"Das ist bitter, Bro. Ich habe meine acht Brüder und Schwestern auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Dann haben sie dich im Garten gefunden. Du hast Glück - sie werden gut zu uns beiden schauen und die Kiste hier ist groß genug für uns beide."
Heti begreift nicht, was ihm widerfahren ist, aber die Worte des Hamsters beruhigen ihn. "Dann darf ich hier überwintern?"
"Logisch. - Wir werden einen Haufen Spaß haben, wir zwei."
Hetiheti legt sich zufrieden, vollgefuttert ins Stroh und streckt seine Igelbeinchen von sich. "Danke. Das hier wird mein neuer Lieblingsplatz!"
***
Anmerkung: 'hetiheti' ist ein Wort aus der Maori-Sprache und bedeutet 'Igel'
***
Mit Teil zwei hoffe ich, dass alle Igel sich in ihrem warmen Nest haben verkriechen können - denn draußen schneit es ziemlich heftig.
Ich wünsche euch Igelchen einen warmen, kuscheligen 2. Dezember und ein tolles Wochenende.
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