Türchen 9
Der Weihnachtswichtel Teil 2
Als sie die Augen wieder öffnet, sitzt sie immer noch auf ihrem Bett. Xerta ist weg, aber nicht nur die, sondern auch Holly. Ansonsten ist alles wie vorher. Mareike schüttelt den Kopf, stempelt das alles als Traum ab. Sie muss sich in den Schlaf geweint haben und hat dann von dem Wichtel geträumt.
Das Mädchen erhebt sich von ihrem Bett und verlässt das Zimmer. Das Treppengeländer ist mittlerweile geschmückt, in diesem Jahr mit einer beleuchteten Girlande. Aus dem Wohnzimmer hört sie die Stimmen ihrer Mutter und ... die ihres leiblichen Vaters? Was macht der denn hier? Der lebt doch in London! Irritiert betritt Mareike das Wohnzimmer. Ihr strahlt ein völlig gewöhnlicher grüner Weihnachtsbaum mit roten und goldenen Kugeln entgegen. Die Lichterkette leuchtet in einem warmen Weiß. Er sieht wirklich perfekt aus, aber die Verwirrung siegt über Mareikes Freude. Auf der Couch sitzen ihre Mutter und tatsächlich ihr Vater. Ihre Mutter sieht völlig anders aus, kein hässliches Sweater-Kleid, stattdessen eine weihnachtlich rote Bluse und eine dunkle Jeans.
„Ah Mareike Schätzchen, schau dir doch den Baum mal an. Dein Vater wollte ihn eigentlich mit dir zusammen schmücken, aber du musst geschlafen haben und ich wollte dich nicht wecken", spricht ihre Mama sie an.
Die Angesprochene schaut sie leicht verdutzt an. Keine bunt geschminkten Lider, stattdessen dezentes Make-up. So wie sie es früher von ihrer Mutter kannte, bevor die Eltern sich trennten und der neue Stiefvater in ihr Leben trat.
„Wie findest du ihn?"
„Er ... ist toll", sie zwingt sich zu einem Lächeln.
Natürlich freut sie sich darüber, aber noch immer versteht sie die Welt nicht mehr.
„Ist auch besser so, das Aussuchen und Schmücken hat ewig gedauert", vernimmt Mareike die Stimme ihrer kleinen Schwester Nancy hinter sich.
Eigentlich lebt diese derzeit für ein Auslandsjahr ebenfalls in London.
„Was machst du hier?" – „Ich wohne hier?"
So langsam dämmert es Mareike, der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Xerta muss tatsächlich ein wahrer Weihnachtswichtel sein. Wenn das bedeutet, eine normale Familie und ein neues Weihnachten bedeutet, dass ihre Familie wieder beisammen ist, so wie es einst war, so stimmt es Mareike glücklich und zaubert ihr ein echtes Lächeln ins Gesicht.
„Der Baum ist wunderschön", gibt sie nun zu.
Die Gesichter ihrer Eltern sehen zufrieden aus. Damit verabschiedet sich ihre Mutter in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Es gibt sogar was Schlichtes und doch Vernünftiges, in den letzten Jahren war Mareike nur möglichst verrückt zusammengewürfelte Speisen wie Sauerkrautauflauf oder Lasagne mit Avocado Schokoladensauce. Stattdessen gibt es selbstgemachte Blumenkohlschnitzel mit Brokkoli und Kartoffeln. Immerhin weiterhin vegetarisch, das hat sich nicht verändert.
Doch bei aller Euphorie, die Mareike gerade empfindet, fällt ihr etwas auf.
„Wo ist denn eigentlich Holly?", hakt sie verdutzt nach.
„Wer ist denn bitte Holly, Spätzchen?", hinterfragt der Vater irritiert.
Er weiß nicht, wer Holly ist? Das heißt, dass Holly nicht existiert. Zumindest nicht in dieser Familie. Ihre geliebte Holly, ihr Seelenhund!
„Ach niemand. Ich hatte nur vorhin so einen verrückten realen Traum. Entschuldigt mich kurz", das muss Mareike jetzt erstmal realisieren.
Ein Leben ohne Holly? Für sie eigentlich unmöglich! Sie erinnert sich daran zurück, wie sie den Mops bekommen hat. Aus dem Tierheim haben sie die Hündin gerettet, das ist zwei Jahre her. Sie wollte immer einen Hund haben, aber ihre Eltern hatten es ihr nicht zugetraut. Aber in Holly hatte sie sich einfach verliebt.
In ihrem Zimmer stellt sie fest, dass die Regenbogenfahne nicht mehr an ihrer Wand hängt, das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Ist sie denn noch gar nicht geoutet? Auch das Foto mit ihrem Freund Silas fehlt. Wo ist es nur hin? Sie durchsucht sämtliche ihrer Schubladen.
„Suchst du was, Schatz?", hört sie plötzlich die Stimme ihrer Mutter hinter sich, vor Schreck zuckt Mareike zusammen.
„Mama, bitte klopf doch an. Ich suche nur das Foto mit meinem Freund, du weißt schon."
„Oh, hast du Lion endlich dazu gekriegt, ein vernünftiges Foto zu machen?"
Lion? Lion Reed? Dieser Macho soll ihr Freund sein? Er mag zwar der beliebteste Kerl der gesamten Oberstufe sein, aber er ist auch der größte Macho, den Mareike je kennen gelernt hat. Dreimal ist sie mit ihm ausgegangen, nach dem dritten Date hat sie ihm ihre Cola ins Gesicht geschüttet, so unverschämt war er! Silas war damals derjenige, der sie aufgefangen hatte, und so hatte sie sich damals verliebt.
„Und Silas?", fragt sie leise.
„Silas? Du meinst wohl Elina, mit ihren komischen Phasen. Die war ja schon in der fünften Klasse so komisch. Ich habe dir doch gesagt, du solltest dich besser von ihr fernhalten. Hast du das nicht getan?"
Mareike spürt ihr Herz brechen, sie hat ihre Mutter noch nie so transphob sprechen hören. Nein, eigentlich liebt sie doch Silas sehr, das hat sie ihr schon viele Male gesagt, seit Mareike ihn vorgestellt hat.
„Ich muss mich weiter um das Essen kümmern, in zehn Minuten kommst du bitte. Und lernen nicht vergessen", mit diesen Worten verlässt ihre Mutter das Zimmer wieder und Mareike steht plötzlich völlig alleine da.
Ohne Holly, ohne Silas. Dabei haben diese beiden sie doch immer so glücklich gemacht, grade wenn ihre seltsamen Eltern sie wieder in den Wahnsinn trieben. Carlo hat ihre Mutter sehr verändert. Es gibt nicht mal einen Begriff, den ihr beschreibt. Nicht alternativ oder sowas, er ist einfach sehr seltsam.
Sie greift nach ihrem Handy, sie muss ihrer besten Freundin Kathy schreiben. Auf WhatsApp ist der Chat mit Lion angepinnt, er hat ihr eine Nachricht geschrieben.
Hey Babe, nachher noch Lust auf Chillen und so? Ich hole dich um sieben ab. Liebe dich.
Dazu ein Herz Emoji, augenblicklich wird Mareike schlecht. Sie sucht nach dem Chat mit Kathy, der allerdings sehr weit unten ist. Die letzte Nachricht, die dort steht und schon mehrere Wochen alt ist, hat Katy ihr geschrieben.
Melde dich, wenn du wieder die Alte bist. Aber da du glaubst, was Besseres zu sein, waren wir die längste Zeit beste Freunde.
Mareike steigen die Tränen in die Augen. Kathy hat sie also auch noch verloren? Hat sie überhaupt noch wen in diesem neuen Leben, den sie einst so gern hatte? Vor allem macht diese Nachricht gar keinen Sinn, denn Mareike hatte sich trotz ihrer guten Noten nie aufgespielt oder angegeben. Sowas fand sie schon immer scheiße.
Um Punkt 19 Uhr klingelt es an der Haustür, die Familie ist gerade mit dem Essen fertig. Für Mareike fühlt sich alles surreal an, als wäre sie in einem Film. Ihre Mutter geht zur Tür und lässt Lion herein, dabei säuselt ihr Vater vor sich hin, dass er ja so ein toller Junge ist. Wieder wird Mareike schlecht. Nur ungern erinnert sie sich daran, wie er Silas fertig gemacht hat. Zum Glück hat dieser eine starke Persönlichkeit, sonst wäre das sicher nicht gut geendet.
„Hey Baby", begrüßt Lion sie und zieht sie an sich, drückt ihr einen Kuss auf die Lippen.
Ein ganz anderes Gefühl, als jenes bei Silas. Es ekelt sie einfach nur an.
„Lass uns los. Aber zieh dir besser noch eine andere Hose an, du weißt, ich mag Leggings nicht so."
Mareike schaut an sich herunter. Sie hat noch immer das an, was sie heute Morgen anzog, als sie noch in der alten Welt war. Einen grauen Hoodie und die schwarze Leggings.
„Ganz bestimmt nicht."
„Schatz, ich denke, Lion hat Recht und sowieso ist es doch viel zu kalt dafür. Ziehe lieber eine Jeans an", bekräftigt ihre Mutter den angeblichen Freund.
„Seit wann kümmerst du dich darum, was ich anziehe. Gestern bin ich doch auch Bauchfrei zur Schule."
„Du? Bauchfrei? Junge Dame sowas würde ich niemals zulassen. Solltest du sowas tatsächlich in deinem Kleiderschrank haben, wird das Kleidungsstück sofort entfernt", ermahnt ihre Mutter sie streng.
„Nein, das mache ich nicht. Ihr seid alle so derartig seltsam, so ist ja nicht mal Carlo drauf!"
„Wer ist dieser Carlo? Betrügst du mich etwa?!"
„Nein, aber ich würde auch niemals wieder mit dir ausgehen. Du bist ein derartig sexistischer Arsch, lieber trink ich das Tafelwasser als ich dich zu küssen! Ich will meine Holly wieder haben, ich will Silas als Freund wieder haben, ich will, dass Mama wieder einen Vollknall hat und ich will, dass Dad wieder mit Nancy in London lebt! Ich will wieder zurück nach Hause!"
Zum zweiten Mal an diesem Tag stürmt sie nach oben in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Immerhin hat sie ihren Zimmerschlüssel noch, so kann sie schnell absperren. Heulend schmeißt sie sich auf das Bett, verteilt dabei ihre ganze Wimperntusche auf dem Kopfkissen.
„Wenn die Dinge einmal weg sind, dann merkt man eigentlich erst, was sie einem bedeuten. Hab ich recht?", spricht Xertas zärtliche Stimme in die Stimme.
„Du hast mein Leben zerstört!", schimpft Mareike verweint.
„Ah ah! Das war nicht ich, es war dein Wunsch und den habe ich dir erfüllt."
„Aber wenn so dieses angeblich normale Leben aussieht, dann will ich das nicht!"
Sie starrt wütend in die weichen blauen Augen von Xerta. Der Wichtel lächelt und setzt sich zu ihr auf das Bett. Sie strahlt eine ziemliche Wärme aus, es ist ihre Herzenswärme.
„Dein Wunsch ist noch nicht achtundvierzig Stunden alt, ich kann ihn noch rückgängig machen. Aber denke diesmal gut drüber nach, noch ein Hin und Her kann ich dir nicht erfüllen. Ich bin keine Elfe oder eine Fee, nur ein Wichtel."
„Bitte, ich flehe dich an, mach das wieder rückgängig. Ich bitte dich!", Mareike krallt sich in die Schultern des Wichtels, die kichernd ihre Hand hebt und ihr eine Art silbernen Staub ins Gesicht pustet.
Davon wird sie augenblicklich müde, schläft innerhalb von wenigen Sekunden ein.
„Dein Wunsch sei dir erfüllt", ist das Letzte, was sie wahrnimmt.
Etwas leckt ihr durch das Gesicht. Etwas Raues, fühlt sich an wie eine Hundezunge. Moment, Hundezunge! Mareike öffnet die Augen und blickt in das süße Gesicht ihrer kleinen Holly.
„Holly! Mein Baby! Ich habe dich wieder!"
Sie streichelt und kuschelt ihren Hund eine kurze Zeit, ehe sie aufspringt und nach unten stürmt. Dort stehen ihre Mutter und Carlo am Weihnachtsbaum, sie haben ihn abgeschmückt.
„Schätzchen, was...", sofort wird die Mutter unterbrochen, denn Mareike fällt ihr um den Hals, „Huch, was denn nun?"
„Es tut mir leid Mum, dass ich euch so angeschnauzt habe. Ich habe dich lieb, euch beide."
„Ach Süße, wir haben dich doch auch lieb. Was hältst du davon, wenn wir morgen einfach einen richtigen Baum kaufen. Wir könnten Silas und Kathy fragen, ob sie Lust haben, mitzukommen", schlägt ihre Mutter vor und gibt ihr einen zarten Kuss auf die Stirn.
Mareike lächelt: „Aber nur, wenn wir die Regenbogenkugeln wieder ranhängen."
Damit umarmt sie ihre beiden Eltern, schließt für einen kurzen Moment die Augen. Als sie diese wieder öffnet, sieht sie in der Spiegelung des ausgeschalteten Fernsehers Xerta mit einem Lächeln stehen.
„Danke", murmelt Mareike und genießt den Moment in ihrer Familie.
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