☆ 19. Dezember ☆
Wir wurden vom Klingeln an der Haustür geweckt.
Dreimal drückte der Besucher lange auf die Klingel, er schien wohl sehr ungeduldig zu sein.
Verschlafen setzte ich mich auf und sah, dass Lio ebenfalls wach war. Wobei er auch nicht so aussah, als hätte er überhaupt geschlafen, wie ich verwirrt feststellte.
Er sah blass aus, sodass sich seine Augenringe noch dunkler von der bleichen Haut abhoben.
"Geht es dir gut?", verlangte ich erschrocken zu wissen, "Bist du krank?"
Lio zuckte nur leicht mit den Schultern und ich legte ihm eine Hand an die Stirn.
"Fieber hast du, denke ich, nicht...", stellte ich fest, als ich das Rufen meiner Mutter hörte. "Yumi, kommt ihr mal bitte?"
Ich schälte mich aus der Bettdecke heraus und warf einen letzten besorgten Blick auf Lio, der keine Anstalten machte, mir zu folgen. "Bleib du lieber im Bett. Ich glaube, du bist wirklich krank. Ich geh mal nachsehen, wer uns da so früh morgens schon die Tür eintritt."
Mein bester Freund nickte und wurde vielleicht noch ein wenig blasser um die Nase.
Leise tappte ich aus dem Zimmer heraus, um die Zeitverkürzer-Bewohner, die immer noch selig schlummerten, nicht zu wecken.
Als ich die Küche betrat, blieb ich abrupt im Türrahmen stehen.
Gegenüber meiner Mutter am Tisch saß Lios Vater.
Er hatte dieselben blonden Locken wie sein Sohn und lächelte mich sehr schief an.
Ich schaute mit steinerner Miene zurück und musterte ihn abschätzig.
Er sah wie immer ein wenig heruntergekommen aus; Drei-Tage-Bart, die Haare schon zu lang, als dass sie eine Frisur hätten darstellen können, die Klamotten zerknittert.
"Guten Morgen, mein Schatz", begrüßte mich meine Mutter sanft, "Wo ist denn Lio?"
Ich verschränkte die Arme und schob trotzig das Kinn vor. "Ich habe ihm gesagt, dass er sich ausruhen soll. Er ist krank und es geht ihm nicht gut", verkündete ich.
Lios Vater richtete sich angespannt auf. "Was hat er denn?", wollte er wissen und ich musste mir meine auf die Zunge beißen, um nicht spöttisch aufzulachen.
"Wieso? Es interessiert Sie doch sonst auch nicht, wie es ihm geht", antwortete ich und meine Mutter sah mich mahnend an.
"Yumi, bitte! Sei nicht so unhöflich zu Mr. Harrison!", wies sie mich scharf zu Recht.
Ich straffte die Schultern und nahm überrascht wahr, wie Lios Vater abwehrend die Hand hob, um meiner Mutter zu signalisieren, dass meine unfreundliche Art nicht schlimm sei.
Auf einmal sah er unfassbar müde aus, als kämpfe er unermüdlichen einen Kampf, den er niemals gewinnen konnte.
"Lassen Sie sein, Mrs Jefferson. Ihre Tochter hat ja Recht, ich bin ein schrecklicher Vater."
Ich nickte, worauf mir meine Mutter einen bitterbösen Blick zuwarf.
"Yumi, kümmer dich bitte um Lio. Ich würde gerne allein mit Mr Harrison sprechen", bat sie mich und obwohl ich mich innerlich dagegen wehrte, nickte ich wieder und lief zurück in mein Zimmer.
Der Anblick, der sich mir dort bot, versetzte mit einen Stich ins Herz.
Lio saß, umringt von überforderten und mitfühlenden Fantasiegestalten, auf dem Bett und wischte sich stetig die Tränen von den Wangen.
Während die meisten ihn mitfühlend tätschelte oder sich an ihn gekuschelt hatten, bot Herr Osiem ihm zaghaft etwas Schokolade an und Bob stupste ihn liebevoll an, was Lio gar nicht zu bemerken schien.
Ich ging zu ihm, setzte mich neben meinen besten Freund und nahm ihn in den Arm.
Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren, während ich ihm beruhigend über den Rücken streichelte.
Ich nickte den Fantasiegestaltem dankbar zu und sie zogen sich zögernd und schweigend in ihre Türchen zurück, bis wir allein waren.
Lios Tränen versiegten nun nach und nach und er löste sich von mir.
"Ich hatte ihn gestern schon in der Einkaufsmeile gesehen. Ich wusste, dass er demnächst hier aufkreuzen würde", beichtete er und ich reichte ihm ein Taschentuch, das er gerne annahm.
"Er weiß, dass er kein guter Vater ist", sagte ich leise und Lio starrte schniefend vor sich hin ins Leere.
"Wenn ich wenigstens wüsste, wieso er immer so oft verschwindet und mich jedes Mal zurücklässt", murmelte er nach einer Weile, "Du und deine Mutter sind die Einzigen, die sich um mich kümmern, Yumi. Ihr seid mehr meine Familie als er, das ist doch verdreht... oder? Es ist immer ein schreckliches Gefühl, wenn ich morgens aufwache oder nachmittags von der Schule komme und bemerke, dass die Wohnung still ist und sich außer mir niemand in ihr befindet..."
Jemand klopfte zaghaft an die Zimmertür.
Fragend sah ich Lio an; der nickte.
"Herein!", rief ich und meine Mutter und Mr. Harrison spähten vorsichtig in den Raum.
Lio sah nicht einmal von seinen Händen auf.
Sein Vater räusperte sich. Seine Stimme klang schüchtern, fast schon gebrechlich, als er zum Sprechen ansetzte.
"Hey Lio... Ich... Mrs Jefferson und ich haben uns ein bisschen unterhalten... und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es besser ist, wenn du erstmal hier bleibst - bei Yumi."
Lios Kopf schoss erstaunt nach oben.
"Was? Meinst du das ernst?", fragte er hoffnungsvoll und sein Vater nickte verlegen.
"Zumindest bis die Feiertage rum sind. Ich weiß, du hast nicht die beste Meinung über mich, aber du musst mir glauben, dass ich mir in den letzten Monaten über meine zahlreichen Fehler bewusst geworden bin."
Lios Miene verfinsterte sich. "Du meinst, in den letzten Monaten, in denen du mal wieder verschwunden warst?", knurrte er.
Lios Vater seufzte. "Gib mir Zeit. Ich... krieg das schon wieder irgendwie hin", versprach er, doch mein bester Freund ging nicht mehr darauf ein.
Meine Mutter und ich, die die ganze Zeit stumm am Rande des Schauspiels gestanden und zugesehen hatten, warfen uns einen Blick zu.
"Dann...", setzte ich an, bevor mir auffiel, dass ich kein Ende für den Satz wusste.
Mr Harrison nickte trotzdem. "Bis dann", murmelte er, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging.
Meine Mutter brachte ihn noch zur Haustür.
Ich sah Lio an; wartete ab, ob er reden wollte.
Doch genau, wie ich es erwartet hatte, packte er seine Gedanken und Gefühle in einen eisernen Safe, dessen Inhalt nur er einsehen konnte - mir und jedem anderen Menschen blieb dieser Einblick meist verwehrt.
Stattdessen stand Lio nun auf und klopfte auf den Zeitverkürzer, als Zeichen, dass sich dessen Bewohner wieder heraustreten konnten.
Dies taten sie auch nach und nach, noch etwas unsicher.
Nur der singende Tannenbaum sang leise und schief vor sich hin. "Rudolph the red nosed reindeer, had a very shiny nose..."
Ich atmete einmal tief durch. "So!", rief ich und setzte ein Lächeln auf, "Was machen wir jetzt?"
Keiner antwortete, nur irritierte Blicke wurden getauscht.
"Brettspiele?", schlug ich schließlich hilflos vor und war erleichtert, dass die Fantasiegestalten wohl mittlerweile verstanden hatten, dass Lio jetzt Ablenkung brauchte.
"Oh ja!", rief Mopsi und Freiheitsstreberin fügte ein enthusiastische "Ich liebe Brettspiele!" hinterher.
Auch Toasty und der Fuchs sahen dem Vorschlag mit glänzenden Augen entgegen, während nach und nach alle manch mehr, manche weniger überzeugt einstimmten.
"Wartet!", hielt Lina uns plötzlich auf, "Ihr habt das heutige Türchen noch gar nicht geöffnet!"
Ich schlug mir leicht gegen die Stirn. Wie hatte ich das nur vergessen können?
"Na dann wollen wir doch mal sehen, wer uns heute erwartet", grinste Lio halbherzig und suchte den Zeitverkürzer nach dem neunzehnten Türchen ab.
Als er es gefunden hatte, lächelte er mich und zog die kleine Tür auf.
Ein freudiges Wiehern schallte durch die Luft und sofort kam ein Wesen aus dem Zeitverkürzer geschossen.
Ein weißes Einhorn mit weißen - mit goldenen Punkten versehenen - Flügeln.
Es galoppierte übermütig durch die Luft, sodass seine goldenen Mähne und Schweif, die mit violetten, grünen, roten und blauen Edelsteinen verziert waren, nur so wehten. Sein goldenes Horn schimmerte im durch das Fenster fallende Sonnenlicht.
Ich begann zu strahlen. "Das ist Onchao!", stieß ich aus.
"¿Quién?", fragte Giovanni Pastanina und Jana wiederholte begeistert "Onchao! Das kleine Einhorn aus 'Mia and me'!".
"Woher kennst du denn die Serie?", wollte Leni neugierig wissen.
Lina grinste, während Jana antwortete. "Viele kleine Mädchen verwandeln sich in ihren Träumen in Feen und fliegen mit Onchao durch die Lüfte Centopias. Wenn Lina und ich die verlorenen Träume aufsammeln, erfahren so manche Geschichte, die Menschen sich ausgedacht haben."
Onchao wieherte wieder.
"Schaut mal, da sitzt noch jemand auf seinem Rücken!", teilte Sixtan uns mit und wir sahen erneut alle hoch zu dem kleinen Einhorn. Doch sein Rücken war leer.
Nun war es Kayla, die quietschte. "Ohh, ich kenne sie. Jetzt bin ich wohl mal dran, eine Geschichte zu erzählen!"
"Na dann schieß mal los", grinste Jolo.
Kayla holte tief Luft. "Das Mädchen, das da auf Onchaos Rücken sitzt, heißt Zoë, besser bekannt als Zascra. Sie ist eine weltweit bekannte Tier- und Menschenrechtsaktivisitin. Ständig führt sie Interviews im Fernsehen, um die Menschen auf die Probleme der Welt aufmerksam zu machen."
Kayla zwinkerte Daliah zu.
"Sie ist sogar fast so bekannt wie unsere berühmte Autorin und Künstlerin hier."
Ich blinzelte - und dann sah ich sie.
Onchao landete mit einem freudigen Wiehern nun vor uns auf dem Boden und ein Mädchen rutschte von seinem Rücken herunter.
Blondes Haar umrahmte ihr Gesicht.
"Hallo!", grüßte sie in die Runde.
"Hi!", rief ich und auch alle anderen begrüßten das Mädchen aufgeregt.
Als sie Mopsi und Goethes Hund erblickte, weiteten sich ihre Augen aufgeregt.
"Naww, ihr seid ja süß. Wie heißt ihr denn?", wollte sie begeistert wissen und ließ sich auf die Knie fallen.
Während Mopsi die Krauleinheiten sichtlich genoß, machte Goethes Hund einen recht überforderten Eindruck.
"Ich liebe Hunde!", schwärmte Zascra.
Onchao wurde inzwischen von Knox, Angel und Dark belagert, doch die Aufmerksamkeit schien dem Fohlen zu gefallen.
"Es bleibt einem jeden immer noch so viel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist", versuchte Goethes Hund ein Gespräch mit Zoë anzufangen, um den Streicheleinheiten zu entgehen, doch Dornröschen lenkte sie sowieso ab.
"Ich hätte langsam Hunger", verkündete sie und Julie, Toasty und Ferdinand Philipp Grimm nickten eifrig.
"Dann würde ich vorschlagen, wir frühstücken jetzt ausgiebig und danach machen wir einen gemütlichen Brettspiele-Tag?", fragte Lio und alle nickten grinsend.
Ich war froh, dass wir ihn scheinbar wirklich von seinen Problemen ablenkten.
"Gibt es auch goldenen Oreos?", fragte Zoë, "Das sind meine Lieblingssüßigkeiten."
"Ohh, hier gibt es sehr viele Süßigkeiten!", schwärmte Julie und hakte sich bei Zoë unter. "Komm, ich zeige dir alles... Sag mal, kennst du eigentlich schob das Bob'sche-"
Ihre Stimmen entfernten sich und ich musste ein wenig kichern.
Lios Magen begann laut zu knurren.
Das war der Startschuss und wir stürmten die Küche.
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Für dieses Kapitel ausgeliehen: zascra
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