18. Türchen
Hamburg
„Bist du sicher, dass du alles hast?" fragt mein übervorsichtiger Mitbewohner Liam erneut und ich verdrehe die Augen. „Natürlich bin ich das! Du hast mich das gestern und heute jeweils sechs Mal schon gefragt." - „Sorry, ich meinte ja nur, weil du sonst immer alles vergisst." Ich nicke und lächle dann. „Ich habe alles Liam, wirklich. Fährst du mich zum Flughafen?" - „Selbstverständlich." antwortet er und wir gehen zum Wagen.
Es ist vier Monate her, seitdem ich Harry das letzte Mal gesehen habe. Viel zu lange. Jetzt fliege ich für drei Wochen zu ihm. Er ist gerade in Hamburg, in Deutschland, weil er über ein Stipendium die Möglichkeit bekommen hat, ein Auslandssemester zu machen. Auch, wenn die Uni erst im Oktober begonnen hat, ist er bereits Anfang April geflogen. Er lebt in einer kleinen WG mit zwei jungen Frauen und meint inzwischen, dass er sogar ein wenig Deutsch verstehen würde.
Es ist fünf Uhr Morgens und Liam fährt mich netterweise zum JFK-Flughafen. Jetzt liegen einige Stunden vor mir, aber das lohnt sich auf jeden Fall. In zwei Tagen ist Weihnachten und das Geschenk für ihn habe ich natürlich in meiner Tasche. Recht schnell bin ich durch die Sicherheitskontrolle, kaufe mir noch zwei Wasserflaschen und warte. Bei Harry ist gerade Mittag und ich schreibe ihm, dass ich jetzt darauf warte, dass Bording ist.
Keine zwei Minuten später klingelt mein Handy. „Hallo Haz." Ich fange sofort an zu lächeln, als er antwortet „Hey, Schatz. Ich kann es kaum erwarten, dass du herkommst." - „In einer Stunde startet der Flieger. Noch ist keine Verspätung angezeigt." antworte ich ihm zuversichtlich. „Ich hoffe doch." entgegnet er und ich schaue erneut auf die Anzeigetafel. Nein, keine Verspätung.
„Ich muss dir so viel hier in Hamburg zeigen! Deutschland ist echt schön, weißt du, aber die Sprache ist verdammt schwer." - „Solange du nicht versuchst, sie mir beizubringen." lache ich, aber ich weiß, dass er es sowieso versuchen wird. Soll er ruhig machen, ich frage mich nur, wie lange es wohl dauern wird, bis er aufgibt. „Meine Mitbewohner sind übrigens nicht da. Also Anna ist schon zu ihrer Familie nach Berlin gefahren und Jo fährt morgen Abend. Sie lernst du noch kurz kennen." erzählt er dann.
Sie wissen beide wer ich bin. Sie waren einmal da, als Harry und ich geskypt haben und wir haben uns so kennengelernt. Wobei das eigentlich auch schon zu viel gesagt ist. Er erzählt mir von der Bar, die er mir zeigen möchte, von den Orten, die er schön findet und ist der festen Überzeugung, dass amerikanisches Bier im Gegensatz zu Deutschem echt scheußlich schmeckt. Ich habe es noch nie probiert, aber dazu muss man sagen, dass ich auch noch nie auf der anderen Seite des Teiches war.
Das Bording beginnt und ich habe Glück. Eine Dame um die 50 sitzt neben mir und auf der anderen Seite ist das Fenster. Sie nimmt ein Buch heraus und tut einige Stunden nichts anderes, als zu lesen. Ich schaue einige Folgen einer Serie, die ich mir vorher heruntergeladen habe, versuche dann aber doch, ein wenig zu schlafen.
Ich vermisse Harry unglaublich doll. Natürlich habe ich mich für ihn gefreut, als er mir erzählt hat, was für eine super Möglichkeit er bekommt. Mal eben ein halbes Jahr in Hamburg zu leben, ist keine Kleinigkeit und da ist es nur logisch, dass ich ihn von Anfang an unterstützt habe. Mir war jedoch nicht klar, dass es so hart wird, wenn er nicht mehr in New York ist. Wir wohnen nicht zusammen, aber wir haben uns trotzdem seht oft gesehen, fast jeden Tag eigentlich.
Dann von jetzt auf gleich, kann ich nur noch über einen Bildschirm mit ihm sprechen. Ich vermisse seine Küsse so sehr. Oh fuck. Ich vermisse es so sehr, wie er mich berührt, wie er riecht, wie er lächelt, mit mir spricht, ohne dass die Verbindung hakt und das Bild immer wieder einfriert.
Schon vor drei Tagen habe ich angefangen zu packen. Es war bis vor ein paar Wochen nicht einmal klar, ob ich überhaupt fahre, aber Harry hat dann gesagt, dass die Flüge unsere Weihnachtsgeschenke sind. Wir teilen den Preis und es ist das beste Geschenk, was ich je bekommen habe. Alleine hätte ich das schlecht finanzieren können, zumal die Flüge vier Wochen vor Weihnachten auch nicht gerade günstig sind.
Als ich wieder aufwache, sehe ich die europäische Küste unter mir und um ganz ehrlich zu sein, habe ich absolut keine Ahnung, welches Land das gerade ist. In Geographie war ich nie wirklich gut. Auf dem Bildschirm wird angezeigt, das wir noch etwa eine Stunde fliegen, dann sind wir da. Mein Herz flattert und ich schaue auf mein Handy. Harry müsste sich wohl so langsam fertig machen. Es ist früher Morgen, als die Maschine in Hamburg aufsetzt, auch wenn ich das Gefühl habe, es wäre Abend.
Ich drängle mich nicht aus dem Flugzeug, denn das Gepäck wird sowieso noch auf sich warten lassen. Trotzdem werde ich mit jedem Schritt nervöser und schnappe mir schnell ein Pfefferminzkaugummi aus meiner Tasche. Dann irgendwann stehe ich mit den anderen Reisenden am Gepäckband und warte. Es dreht sich noch nicht, aber es ist wohl an jedem Flughafen so, dass es etwas dauert.
Ich schaue auf mein Handy. Wir sind eine halbe Stunde früher gelandet, als geplant. Ob Harry wohl schon da ist? Inzwischen hat sich die Uhrzeit umgestellt, aber ich habe kein Netz. Wenn ich hier mein Internet anmache, habe ich am Ende des Montags eine Rechnung, die bis zur Decke steigt.
Nach einigen Minuten fängt das Band an, sich zu bewegen und kurz danach erscheinen die ersten Gepäckstücke. Ich habe Glück und es dauert nur weiter fünf Minuten, bis ich mir meinen Koffer schnappen, und zum Ausgang gehen kann. Etwas orientierungslos folge ich den Schildern und bin froh, dass alles auch auf Englisch geschrieben ist. Dann gehe ich durch eine große Automatiktür und bin in der Ankunftsebene. Viele Leute stehen hier und warten offenbar auf jemanden. Ich sehe mich um, entdecke Harry aber nicht.
Ich stehe hier und schaue auf die Uhr. Eigentlich sollte Harry schon längst hier sein. Immer mehr Leute kommen heraus und irgendwann leerst sich der Bereich vor dem Ausgang allmählich. Ich warte fast vierzig Minuten, aber Harry taucht nicht auf. Seufzend versuche ich ihn anzurufen, auch wenn es teuer ist, aber er hebt nicht ab.
Irgendwann hatte er mir mal die Adresse geschrieben. Es dauert einen Moment, bis ich sie gefunden habe, aber dann sehe ich, dass ich mit einem Bus recht gut dahin komme. Nur leider habe ich noch keinen Euro, nur Dollar. Seufzend gehe ich zu einem der Geldwechsel-Schalter und zahle die unglaublich hohen Gebühren, nur um ein wenig Geld in der Tasche zu haben.
Eine viertel Stunde später stehe ich vor der Haustür. Ich klingel und Jo macht mir die Tür auf. „Hey, du bist Louis, oder?" fragt sie in gutem Englisch und ich nicke. „Hi, Jo. Weißt du wo Harry ist?" - „Der ist doch vor einer halben Stunde losgefahren, um dich abzuholen." antwortet sie irritiert. Ich schüttle den Kopf. „Ich habe fast eine Stunde gewartet und habe dann einen Bus genommen." erzähle ich ihr.
Die geht in die kleine Küche, schenkt mir ein Glas Wasser ein und nimmt dann ihr Handy von der Arbeitsfläche. „Ich rufe ihn an." sagt sie und stellt auf Lautsprecher. Ich trinke einen Schluck und warte darauf, dass Harry abhebt.
„Hey Jo." Erleichtert atme ich auf, als er abhebt. Er klingt erstaunlich entspannt, was auch Jo offenbar etwas verwirrt. „Wo bist du?" fragt sie ihn dann. „Ähm.. am Flughafen? Louis müsste jeden Moment raus kommen. Der Flieger ist vor einer viertel Stunde gelandet." erzählt er. „Was? Was steht da?" fragt sie ihn direkt. „Da steht, dass das Gepäckband für den Flug aus New York rollt." - „Aus New York?" - „Ja, vom Newark Liberty International Airport. Der ist in New York."
Ich kann nicht anders, als mir die Hand gegen die Stirn zu hauen. „Ich bin vom JFK-Flughafen abgereist, Harry." sage ich dann und melde mich somit auch mal zu Wort. „Louis? Wo bist du?" - „Offenbar schon hier." antwortet Jo belustigt für mich. „Scheiße, ich hab die Flüge vertauscht!" flucht Harry dann. „Fuck, Lou es tut mir leid. Ich bin gleich da." beteuert er. „Schon okay, Harry." sage ich schnell. Er soll sich zwar beeilen, weil ich ihn echt vermisse, aber er soll sich nicht hetzen, schon gar nicht bei dem chaotischen Verkehr am Flughafen.
„Bis gleich, ich liebe dich." - „Ich dich auch, du Idiot." schmunzle ich und lege dann auf. „Tja, soviel zu einer kitschigen Wiedersehensszene am Flughafen." grinst Jo. Ich verdrehe die Augen, schmunzle aber doch. „Komm, Harry hat dir ein bisschen Platz im Bad freigemacht. Und ich glaube in seinem Schrank auch." sagt sie dann und geht durch den schmalen Flur zu der letzten Tür. Es ist Harrys Zimmer, gegenüber ist das Bad.
„Ich muss gleich los, ich hoffe also, Harry kommt vorher wieder. Ich weiß nicht, ob er einen Schlüssel mithat." sagt sie dann und ich hieve meinen Koffer auf sein Bett. Mehr oder weniger ordentlich verstaue ich meine Sachen und Jo erzählt mir von den letzten Tagen. Harry hat wohl öfter die Wohnung geputzt, als in der ganzen Zeit davor. Grinsend stelle ich meinen nun leeren Koffer hinter die Tür und im gleichen Augenblick hören wir beide, wie die Tür aufgeschlossen wird.
Jo macht einen Schritt zur Seite und ich renne durch den Flur auf Harry zu. Er schafft gerade so, die Jacke fallen zu lassen, da bin ich ihm auf schon in die Arme gesprungen. Meine Beine sind um seine Hüfte geschlungen und meine Nase drücke ich in seine Halsbeuge. „Oh Lou, es tut mir so leid! Ich hatte heute morgen geschaut, wann der Flieger landet und muss mich wohl verlesen haben!"
Ich meine die Augen immer noch geschlossen, stelle mich aber wieder auf meine eigenen Füße. „Ich habe dich so vermisst." murmle ich und schlinge die Arme fester um ihn. Vier Monate sind vergangen und mein Herz flattert wie verrückt. Ich löse mich von Harry und sehe ihn, vielleicht mit etwas feuchten Augen, an. „Oh Gott, du bist endlich hier." murmelt er, streicht mir durch die Haare und küsst mich. Sehnsüchtig erwidere ich den Druck auf meinen Lippen und ziehe ihn näher zu mir.
Mein ganzer Körper kribbelt und ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier einer der besten Küsse meines Lebens ist. Harry legt bestimmend seine Hände an meine Hüfte und wir gehen einige Schritte rückwärts. Ich mache die Augen nicht auf, ich vertraue ihm einfach. Dann hebt er mich hoch und ich sitze auf dem Tisch, glaube ich jedenfalls. Er stellt sich zwischen meine Beine und küsst mich weiter. Ich kann gar nicht genug von ihm bekommen.
„Ich liebe dich, Haz." murmle ich und er löst sich von mir. „Ich dich auch, so sehr." erwidert er und ich grinse glücklich. Dann geht er zur Seite und hebt einen Strauß roter Rosen vom Boden auf. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass er dort lag. Auch, wenn es kaum mehr Klischee sein könnte, macht es mich glücklich. Ich nehme ihn lächelnd an, und küsse Harry wieder.
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