1. Dezember - Jily (Roiben)
Es war bereits drei Uhr in der Früh, als Lily Evans ihre Hausaufgaben für Verwandlung und Verteidigung gegen die Dunklen Künste endlich abgeschlossen hatte und sich müde die Augen rieb. Sie hatte gewusst, dass dieses Jahr anstrengend werden würde und doch hatte sie nicht geahnt, dass sie dafür auf ihren Schlaf verzichten müsste, den sie mittlerweile wirklich dringend nachzuholen hätte.
Draußen vor dem Fenster wirbelte der Schnee umher und obwohl Lily kaum noch die Augen offen halten konnte, betrachtete sie für einen Moment den Tanz der weißen Flocken, die gegen die schwarze Scheibe stießen.
„Du bist noch wach?", fragte eine Stimme überrascht und Lily schreckte auf, wobei sie beinahe vom Sofa gefallen wäre. In der Treppe, die zu den Jungenschlafsälen führte, stand James Potter, seine Haare schienen noch zerzauster als üblicher und er trug eine dunkle Hose, sowie ein graues Shirt. Lily wandte den Blick von seinen durchringenden, haselnussbraunen Augen ab und seufzte leise. „Ja, sieht so aus."
„Und was machst du hier so spät noch?", fragte er und ging die restlichen Stufen herunter, um sich dann in den Sessel ihr gegenüber zu setzen. Das schwache, glimmende Feuer im Kamin beschien nur die Hälfte seines Gesichtes.
„Hausaufgaben", antwortete Lily und unterdrückte ein Gähnen. „Was machst du überhaupt hier, Potter?" James zuckte mit den Achseln. „Konnte nicht schlafen", murmelte er und sein Blick wanderte auf den Tisch vor ihm, auf dem jemand einen Tagespropheten liegen gelassen hatte. Auf der Titelseite prangte ein großes Schwarzweißbild eines Totenschädels aus dem eine Schlange kroch.
Dunkles Mal erscheint über London.
Lily betrachtete kurz seine versteinerte Miene, dann erhob sie sich langsam. „Ich gehe noch ein paar Stunden schlafen." Sie sammelte ihre Sachen zusammen und wandte sich bereits zur Treppe, als James' Stimme sie inne halten ließ.
„Hast du keine Angst?"
„Wovor? Den Bettwanzen?", erwiderte sie verwirrt und wandte sich wieder zu ihm. James blickte sie nicht an. „Nein. Vor den Dingen, die da draußen passieren. Den Morden. Den verschwindenden Muggeln. Den Verfolgungen." Lily schluckte kurz. „N-Nein", log sie dann. „Ich habe keine Angst davor."
„Ich aber", sagte James und sah sie nun an. Das Leuchten in seinen Augen hatte sich verändert. „Ich habe Angst, dass den Menschen, die ich liebe, etwas zustößt." Er erhob sich langsam und kam auf sie zu. „Ich habe Angst, dass meine Eltern bei der Arbeit umkommen. Ich habe Angst, dass meinen Freunden was passiert."
Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und Lily konnte beinahe seinen Herzschlag hören. „Am meisten habe ich Angst, dass dir was passiert, Lily. Du... du bist ein Ziel für sie." Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, wie ein Windhauch und wäre es nicht totenstill im Gemeinschaftsraum gewesen, dann hätte Lily wenigstens so tun können, als hätte sie es nicht gehört.
„Warum?", fragte sie zurück und brachte etwas mehr Abstand zwischen sich und ihrem Mitschüler, der ihr in den letzten Monaten wenigstens nicht mehr auf die Nerven gegangen war. „Warum bitte sorgst du dich um mich?"
„Weil du mir etwas bedeutest", erwiderte er sofort und Lily begann träge den Kopf zu schütteln. „Nein, tu ich nicht. Du bist der beliebteste Schüler dieser Schule und ich bin nur das unbedeutende Schlammblut, also hör auf – "
„Sag das nicht!", sagte James laut und kam ihr wieder entgegen. „Du bist Lily Evans. Du bist wunderbar." Lily wollte wieder zurückweichen, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. In ihren Augenwinkel begannen die Tränen zu brennen und sie senkte den Kopf, wollte sie doch nicht, dass er sie schwach sah.
„Das bin ich nicht", murmelte sie. „Was bin ich denn schon im Gegensatz zu den anderen?"
„Du bist eine unglaubliche Hexe, eine liebevolle und wunderschöne junge Frau. Du bist einfach du. Alleine das macht dich schon einzigartig." James kam wieder näher und sie spürte nun seine Hand an ihrem Kinn. Ganz sanft drückte er es nach oben, sodass sie ihm in die Augen blicken musste. Sein Daumen wischte die Tränen von ihren Wangen.
„Ich habe Angst", gab Lily flüsternd zu. Ihr Körper zitterte und die Hausarbeiten fielen ihr aus den klammen Fingern. „Ich habe Angst, dass ich diese Schule irgendwann verlassen muss. Da draußen herrscht ein Krieg und ich will mich am liebsten hier verstecken, aber ich will auch den ganzen anderen Menschen helfen und ich weiß einfach nicht, was ich fühlen soll."
Ein Muskel in James' Gesicht zuckte kurz. „Ich weiß aber, was ich fühle", sagte er leise und sein Kopf kam ihrem langsam näher. Lily konnte jede einzelne seiner Wimpern sehen, sie konnte erkennen, wie es hinter seinen Augen arbeitete und irgendwie, irgendwie war sie sogar bereit für das, was passieren sollte.
Doch als ihre Lippen nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren, zog er sich zurück. James biss sich auf die Lippe, löste seine warme Hand von ihrem Kinn und entfernte sich. „Tut mir leid, ich... ich hab nicht nachgedacht."
Lily öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihr fiel nicht ein, was, deswegen schloss sie ihn wieder. James bückte sich, hob ihre Hausaufgaben auf und drückte sie ihr in die Hand, ohne ihr in die Augen zu sehen. „Tut mir Leid", sagte er noch einmal, wandte sich letztendlich um und setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf einen der Sessel, um ins Feuer zu starren. Sie konnte sehen, wie er die Hände in die Armlehnen krallte.
„Gute Nacht", murmelte sie sogar etwas enttäuscht und ging die Treppe leise nach oben. Das Bild von James' Gesicht, als er auf das Dunkle Mal gestarrt hatte, wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. So viele Jahre lang hatte sie immer gedacht, dass der große James Potter vor nichts und niemandem Angst hatte. Dass er seinem Ruf als Musterschüler und unglaublich begabter Zauberer gerecht werden würde, ein wahrer Gryffindor eben. Sie hatte sich in seinem Schatten immer so schwach gefühlt.
Vor der Tür zu ihrem Schlafsaal blieb Lily stehen. Sie hatte natürlich bemerkt, dass James sich verändert hatte. Früher hatte sie es kaum in einem Raum mit ihm ausgehalten und jetzt war sie schon beinahe enttäuscht darüber, dass er sich nicht getraut hatte, sie zu küssen. Lily blickte kurz zurück, drückte dann jedoch die Klinke herunter und ging zu ihrem Bett.
Der herbeigesehnte Schlaf wollte jedoch nicht eintreten. Auch nach über einer Stunde, in der sie sich in ihren Kissen umher gewälzt hatte, tauchte immer wieder sein Gesicht in ihren Gedanken auf. Sie war nicht mehr enttäuscht – jetzt war sie sauer auf ihn. Weil er sich nicht getraut hatte, hatte ihr Gehirn sich nun ihm zugewandt.
Leise aber mit kräftigen Schritten verließ sie ihren Schlafsaal, schlich auf Zehenspitzen über die Dielen, übersprang die knarzende Stufe auf der Höhe der Drittklässler und kam wieder im Gemeinschaftsraum an.
Ein Blick genügte, damit sie James immer noch in dem Sessel sitzen sah. Sie ging um ihn herum und wollte schon etwas sagen, hielt jedoch inne. Sein Mund war leicht geöffnet, die Brille bis zu seiner Nasenspitze gerutscht und er atmete regelmäßig und tief.
Lily biss sich auf die Lippen. Sie hatte James Potter bisher erst einmal schlafend gesehen, das war nach den Abschlussprüfungen im fünften Jahr. Aber damals sah er wesentlich unschuldiger, wesentlich jünger aus. Jetzt zierten dunkle Schatten seine Augen und seine Gesichtszüge schienen auch etwas kräftiger, kantiger geworden zu sein. Unbewusst fragte sie sich, ob sie wohl daran schuld war, dass er so aussah.
Ihr Vorhaben war in Rauch aufgegangen, als sie James schlafend gesehen hatte. Seufzend wandte sie sich wieder um, doch wollte sie nicht in ihren Schlafsaal gehen, wenn sie sowieso nicht schlafen konnte. Deswegen setzte sie sich auf das Sofa neben dem Kamin, winkelte ihre Beine an und stützte ihren Kopf auf ihren Knien.
Im Halbschlaf bekam sie nur noch mit, wie jemand ihr eine Decke um die Schultern legte und dann flüsterte: „Schlaf gut, Evans."
Beinahe hätte sie gedacht, es wäre ein Traum gewesen, eine kleine Halluzination, die ihr Kopf ihr vorgespielt hatte, doch als im nächsten Moment ein Stapel mit Büchern umfiel und Lily aufschreckte, glitt die Decke von ihren Schultern. Peinlich berührt stand James im Gemeinschaftsraum, vor ihm etliche Bücher auf dem Boden verteilt.
„Tut mir Leid", murmelte er in dieser Nacht bereits das dritte Mal und beeilte sich, den Schaden zu beheben. Langsam glitt Lily vom Sofa und kniete sich vor ihn. Seine Hand schnellte hervor um ein angeschlagen aussehendes Zaubertrankbuch aufzusammeln, doch Lilys Finger hinderte ihn daran, es hochzunehmen.
Seine Augen trafen ihre und Lily drückte seine Hand zu Boden, während sie sich vorbeugte. Sie zog sich nicht zurück, wie er es getan hatte und küsste ihn einfach. Es sollte sich wohl nicht so gut anfühlen, wenn sie ihn küsste, den Jungen, den sie so lange nicht ausstehen konnte, aber das tat es und sie konnte es nicht ändern. Lily schloss die Augen und genoss diesen kurzen Moment einfach.
Diesen Moment, an dem James Potter nicht länger nur ihr Mitschüler war.
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