9 | Lauschen
Das Bild, das sich vor ihm bot, zerpflückte er und setzte es wieder zusammen. Mehrmals. Doch er schaffte es nicht, es sinnvoll einzuordnen. Es waren zu viele Teile, die auf dem ersten Blick kein Ganzes ergaben.
Pastor Hansen kniete vor dem Bett, in dem er die letzten Tage lag und hatte seine Schweinerei entfernt, was er hätte tun müssen. Neben ihm lagen die genutzten Laken und Bezüge; in seiner Hand der leere Beutel.
Etwas Entscheidendes – gewaltig Wichtiges – fehlte. Das Kästchen. Noch konnte er es nicht entdecken. Er schob mit seiner zittrigen Hand das Kreuz unter das beige Shirt, das er nun trug. Auf jedes Geräusch hin lauschend, ging er einen Schritt weiter in den Raum hinein.
Weit kam er nicht. Beim zweiten Mal auftreten, knarzte der Boden und der Pastor wirbelte herum. Der Beutel flog ihm dabei aus der Hand, direkt zu Leons Füßen, der nicht umhinkam, dort hinzustarren.
»Hoffentlich war das Wasser angenehm genug«, erkundigte sich Pastor Hansen sofort. Da seine Stimme aufrichtig klang, wurde Leon noch verwirrter. »Manchmal wird es leider nicht ganz so warm.«
Leon meinte zu begreifen, doch erwiderte nichts, fixierte dafür weiterhin den leeren Beutel. Interessiert lauschte er jedoch den Worten vom Pastor und hoffte merkwürdigerweise auf eine plausible Erklärung.
»In der Zwischenzeit habe ich dein Bett neubezogen«, klärte ihn dieser auf, was Leon unmittelbar erneut Schamesröte ins Gesicht trieb. »Nicht grämen. Alles ist gut. So was kann passieren. Vor allem in so einem Zustand, in dem du dich befunden hast. Ich bin heilfroh, dass es dir besser zu gehen scheint.«
Mit dieser Reaktion hatte Leon wahrlich nicht gerechnet. Jemand, der seinen Dreck freiwillig und ohne Ärger wegmachte? Er schaute nun auf; in warme graue Augen.
»Deinen Beutel werde ich ebenfalls waschen müssen, da ich dein Mitbringsel unter das Bett geschoben hatte, sind sie nicht verschont geblieben.«
Mit jedem weiteren gesprochenen Wort erkannte Leon mehr und mehr von dem Bild vor sich. Es bestand aus vielen kleinen Puzzlestücken. Allmählich ordnete es sich neu, auch die schwierigen Teile würde er noch eingesetzt bekommen.
Inzwischen war sein Unmut der Scham gänzlich gewichen. Vor seinem Körper verknotete er seine Hände, weil er nicht wusste, wohin er sonst damit sollte.
»Aber dein Kästchen«, fing Hansen an und Leon versteinerte sich, »bei dem hat es gereicht, einmal drüber zu wischen.«
Leon, der einen imaginären Fleck neben dem Beutel auf dem Boden fokussierte, wartete auf einen Anhaltspunkt, ob der Pastor den Inhalt gesehen hatte. Er lauschte gespannt hin, was nun folgen würde. Doch statt weiterer Worte stand der Pastor auf und kam auf ihn zu. Leon traute sich nicht zu weichen.
»Es ist ein wunderschönes Kästchen«, äußerte sich der Pastor mit sanfter und melancholischer Stimme. Es schien, als würde er vermuten, dass es sich um ein bedeutsames Familienerbstück handelte. »Was ist denn da drin? Darf ich es sehen?«
Immer noch stocksteif schüttelte Leon sofort mit dem Kopf.
»In Ordnung.« Pastor Hansen bückte sich, um die schmutzige Wäsche aufzusammeln und ging dann auf Leon zu, der noch immer starr da stand. »Gibst du mir deine Wäsche? Dann kann ich sie gleich mit in die Wäsche tun.«
Leon konzentrierte sich darauf, seine Hände zu lockern, sodass er die geforderten Sachen frei ließ. Als Pastor Hansen die gesamte Dreckwäsche zusammen hatte, ging er zur Zimmertür.
»Mein Kind, ich werde dir nichts tun und auch nichts von dir verlangen, was du nicht möchtest«, sagte er am Türrahmen stehend.
In der gleichen angespannten Haltung nickte Leon.
»Ich würde mich jedoch freuen, wenn wir in einer etwa Stunde gemeinsam rüber in die Kirche gehen. Ist das für dich in Ordnung?«
Die Starre wich schleichend aus seinem Körper. Er überlegte kurz, nickte dann jedoch auch dazu.
»Gut, das freut mich. Ich hole dich dann ab. Wenn du etwas brauchst, dann komm einfach zu der Tür, die ich dir vorhin gezeigt habe, ja?«
Wieder nickte Leon zur Bestätigung. Dann trat der Pastor aus dem Raum heraus und in den Gang hinein. Leon selbst brauchte noch eine Weile, bis er sich weiter in den Raum hinein wagte.
Das Kästchen stand auf dem kleinen Tisch. Es verhöhnt dich, nicht ihn. Schaffe es weg, drängte ihn sein Inneres, dem er recht geben musste. Von diesem Platz aus prangerte es nicht Wolfgang an, sondern ihn. Bedächtig schritt er darauf zu und alsbald er davor stand, packte er es, drehte sich um und ließ es mit Schwung unter das Bett gleiten.
Schwer atmend lauschte er sowohl dem abscheulichen Ding nach als auch in den Gang, ob jemand seinen kleinen Ausfall zur Kenntnis genommen hatte.
Obgleich es Zeit war, die Hülle des kleinen, ekligen, schmächtigen Jungen abzulegen, war er zu schwach dafür. Davon abgesehen würde er für immer der verunstaltete Leon bleiben. Wie sollte er mit diesem Aussehen und mit nichts als dieser Spendenkleidung etwas erreichen?
Ein Niemand würde niemals zu etwas nütze sein.
Leon betrachtete die Uhr, als er sich auf den Stuhl niederließ. Noch etwa fünfzig Minuten müsste er warten. Mit seiner Fingerkuppe – Nägel hielten nicht lange bei ihm – fing er an, die Maserungen der Tischplatte nachzuzeichnen. Immer und immer wieder. Es gab eine Stelle, die sich unterschied. Eine Art Schandfleck. Zum rechten Rand hin wurde eine Maserung massiv unterbrochen. Durch eine Kerbe. Leon musste dabei leicht grinsen. Der Tisch passte zu ihm. Klein und narbig.
Als Pastor Hansen kam, um ihn abzuholen, verweilte er noch immer in der Narbe des Tisches.
Am Eingang des Gemeindehauses waren seine Jacke und Schuhe ordentlich für ihn bereitgestellt worden. Er zog sie sich an. Sie gingen über den gleichen Weg wie vor ein paar Tagen. Über den kleinen Innenhof, den sie durch einen Torbogen passierten. Da der Schnee geschmolzen und Leon in besserer Verfassung war, konnte er sich einen umfangreicheren Eindruck machen. Wie er gemutmaßt hatte, befanden sich auf der einen Seite des Pfades Beete.
»Das ist unser ganz kleiner Kräutergarten«, äußerte sich Pastor Hansen, der seinen Blick wahrnahm.
Auf der anderen Seite des Pfades stand eine in die Jahre gekommene Bank, umringt von einer kleinen Rasenfläche. Nach wie vor stellte er es sich als einen schönen Ruhepol vor.
Er nickte dem Pastor zu und sie schritten durch den Seiteneingang in die Kirche hinein. Drinnen wurden sie von sanftem Licht empfangen, ausgelöst durch einzelne kleine flackernde Kerzen. In der Luft lag ein rauchiger Duft, der sie mit einer anderen Art von Wärme umhüllte. Während der Pastor vorging, blieb Leon am Eingang stehen.
»Mein Kind, ich weiß nicht, was dir alles widerfahren ist«, begann er und suchte offenbar nach den richtigen Worten, während er zu Jesus hinaufblickte.
Um den Worten des Pastors besser folgen zu können, näherte sich Leon ihm. Ihm wurde bewusst, dass er ihm und seiner angenehmen Stimme gerne lauschte.
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