Einen vielsagenden Blick brauchte er jedoch auch nicht. Jetzt, da die Wundschutzmittel nichts mehr auf seinem Gesicht bedeckten, fühlte er es. Zudem konnte er sich ebenso nicht weiter einreden, dass das merkwürdige Empfinden daher gerührt hatte.
Der Pastor schien es ebenso zu begreifen, denn er senkte seinen Kopf. Leon wusste es – er wäre von nun an für immer entstellt und jedermann konnte sich denken, was für ein Mensch er doch war. Ein Niemand, wie er schon immer einer war. Sein Schicksal, dem er sich endlich fügen sollte.
Sein Gesicht glich rein vom Gefühl einem Krater mit unzähligen Rissen, als wären entweder mehrere Vulkane auf einmal ausgebrochen oder ein Erdbeben kannte kein Halten mehr. Allein der Blick zu seinem Arm ... Wenn dieser bereits erste Anzeichen einer solchen Naturkatastrophe aufwies – wie schlimm musste dann sein Gesicht erst aussehen?
Pastor Hansen nahm unbeirrt die Salbe in die Hand und schmierte Leons Gesicht damit ein. »Es wird wieder, mein Junge. Mit Gottes Hilfe.«
Er hoffte, er würde dafür nicht in die Hölle geraten – dieser Wunsch wurde fürs Erste ad acta gelegt –, denn sein erster Gedanke auf Pastor Hansens Aussage war: Dann ganz sicher nicht. Wenn Gott wirklich existierte und alles in seinen Händen liegen würde, dann müsste er zunächst den Glauben daran brauchen.
Hansen drückte leicht gegen die Schulter von ihm, sodass der Geschundene und Entstellte zurück auf das Bett sank. »Ruhe dich noch aus.«
Er nickte ihm zu. Als er seine Augen schloss, übermannte ihn unmittelbar die Erschöpfung, die sich wie eine dicke Decke über ihn senkte. Oder es würde die Hilfe des Pastors Hansen ausreichen, war sein Gedanke, während er hörte, wie sich die Schritte des Kirchlichen von ihm entfernten. Als die Tür leise ins Schloss gedrückt wurde, nahm ihn der Schlaf bereits zu sich.
○
Beben. Risse. Trockenes Land.
Durch ein Feld mit unzähligen Klüften und Spaltungen musste er sich fortbewegen, fortwährend darauf achtend, wohin er trat, um nicht von einer Schlucht verschluckt zu werden.
Er brauchte all seinen Mut sowie Kraft und Konzentration.
Immer wieder tat sich vor ihm ein riesiger Abgrund auf. Daher war er gezwungen, ein ums andere Mal zurückzugehen; einen neuen Weg einzuschlagen; sich einen anderen Pfad zu suchen.
Lange Zeit irrte er umher. Ohne Rast, ohne Trinken. Sein Verstand würde ihn bald verlassen. Was sein Ziel beim Aufbruch gewesen war, konnte er schon gar nicht mehr bestimmen. Jetzt galt es nur noch heile durchzukommen.
Mal ertönten Schreie, die die Luft durchschnitten oder gar entzweiten. So laut und kreischend, dass er flehend am Boden kniete, sich dabei die Hände auf die Ohren presste und um Gnade winselte. Mal umhüllte ihn eine Stille, die genauso furchterregend wie die Schreie war. Die Luft blieb grausig atemlos. Kein Zittern, kein Schall. Nichts. Dann wog sie schwer und drückte sich auf ihn herab, bis er nur noch keuchend vorankam.
Er brauchte bloß noch ein bisschen durchhalten, sagte er sich immer und immer wieder in Gedanken. Irgendwann musste er auf der anderen Seite ankommen. Doch wie lange er sich das schon sagte, wusste er auch nicht zu bestimmen.
Lediglich einen Anhaltspunkt bräuchte er; nur, um sich erneut etwas auszurichten; sich zu orientieren. Er wirbelte umher. Dabei stob Staub – oder war es Asche? – auf. Ein Strudel formierte sich um ihn herum, ein paar Körner gelangten direkt in seine Augen. Hektisch rieb er sie sich, sank dann erneut zu Boden.
Als er aufschaute, tauchte vor ihm das Gesicht vom Pastor auf, das von Pastor Wolfgang. Schreckliche Panik kroch ihm in die Glieder. Wie war er hierher gekommen? Hatte er ihn gefunden?
Wolfgang lachte hämisch. Dabei zeigte er auf ihn und seine Lippen bewegten sich, doch hören konnte Leon die Worte nicht. Den Formen nach meinte er etwas wie ›Schuld‹ und ›Narben‹ herauslesen zu können.
Leon versuchte sich zu konzentrieren, etwas von der Stimme vernehmen zu können. Doch die Welt verlor das Gleichgewicht. Die Erde unter ihm fing gefährlich an zu rütteln.
Dieses Mal schien die Erschütterung durch Wolfgang verursacht zu werden. Seine Gestalt wurde dabei größer und kräftiger, während Leon durch den mahnenden Zeigefinger des Pastors zu schrumpfen schien.
»Da, wo du herkommst, wirst du wieder landen«, grollten auf einmal doch vernehmbare Worte zu ihm durch. Sie ertönten in einer grauenhaften Stimmlage, die wie eine Bedrohung klangen.
Und dann ... tat sich der Boden mit einem erneuten krachendem Beben auf. Genau unter Leon. Er konnte nichts daran ändern. Er fiel. Und fiel. Es gab kein Halten. Nirgends war etwas, woran er sich hätte festklammern können. Im dunklen Schlund würde er sein Ende finden.
›Du bist selbst Schuld, dass du diesen Weg eingeschlagen hast. Weg vom anderen. Hinzu deiner Verdammnis.‹
○
Mit kaltnassem Schweiß an seinem Körper schreckte Leon hoch. Wohlwissend, dass es ein Traum war und doch war es nicht nur Fantasie. Es steckte eine Menge Wahrheit sowie Realität in den Gefilden der Schlafgeschichte.
So streng Pastor Wolfgang gewesen sein mochte – und trotz der dunklen, verborgenen Geheimnisse –, konnte Leon ihn einordnen. Er war für ihn berechenbar und dadurch eine sichere Konstante geworden. Es gab ihm einen gewissen Halt.
Und das hat er hinter sich gelassen. Für was? Um in ständiger Angst zu leben?
Neues barg stets Unwissenheit und Gefahr in sich; es ließ sich nicht direkt einschätzen. Jede Handlung musste zunächst sorgsam überlegt und abgewägt werden. Dem Spiel der Unwissenheit wohnten nicht freudige Aufregung und schöne Erkundungen inne. Nein, es war ein andauernder Kampf mit sich, seinen Gedanken und inneren Ängsten.
Auf welcher Seite des Weges befand er sich derzeit? Was für ein Mensch war Pastor Hansen? Sollte er wirklich ausschließlich die Hilfe von Hansen gebrauchen?
Wo er herkam, wusste er ganz genau, doch würde er wieder an so einem Punkt landen?
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