13 | Vertrauen
Leon war mittlerweile vierzehn Jahre alt. Bald schon würde er sogar fünfzehn werden. Damit hatte er schon vier Jahre mehr überlebt, als er es damals an diesem grauenhaften – und ebenso auf einer merkwürdigen Art und Weise wunderbringenden – Tag selbst für möglich hielt.
Die erste Zeit war desaströs.
Sich versteckt haltend – ob hinter einem Gemäuer, einer Säule oder bloß einer Wand – hatte er immerzu Ausschau gehalten, ob Wolfgang noch einmal auftauchte.
Das Bild von Wolfgang als Rattenfänger tat sich ihm in regelmäßigen Abständen auf. Wie er mit einem monströsen Netz herumlief, bis er ihn – die eklige Ratte – aufgespürt hatte, um sie einzufangen. Und schlussendlich, um sie für den Verrat zu bestrafen.
Immerhin weiß Wolfgang sicherlich genauso um unser unfreiwilliges Geheimnis Bescheid. Doch war das überhaupt etwas Gutes oder ebenso eher etwas Schlechtes?
Leon hoffte, dass sein vermeintlicher Verfolger annahm, dass er bei dem damaligen Schneetreiben umgekommen wäre. Eine Meldung über ein verstorbenes Waisenkind – vor allem ihn – hätte es ohne Zweifel sowieso nicht gegeben. Auch wenn ihn das beruhigen hätte können, blieb es in seinem Inneren nicht still.
Blitze so hell und blendend, dass wenn er Glück hatte, noch leichte Umrisse und das Donnergrollen nur gedämpft wahrnehmen konnte, übermannten ihn nach wie vor. Die wiederkehrenden Gedanken schlugen fortwährend explosionsartig auf ihn ein. Am meisten, wenn er sich über etwas freute oder wenn er dachte, das Leben könnte es doch – wenn auch nur ein wenig – gut mit ihm meinen. Jedes Mal übermannte es ihn; es zog ihn in einen Strudel unablässiger Zweifel, die ihm sein wahres Ich vor Augen hielten. Sie ließen nicht von ihm ab.
Immerzu wurde ihm aufgezeigt: Du bist ein Niemand.
Auch die quälenden Albträume mit ihren Gestalten zogen wie wilde Horden durch sein Bewusstsein. Zeitweise sogar, wenn er wach war. Allmählich verwischten die Grenzen, sodass er manchmal nicht einmal mehr unterscheiden konnte, ob er unter den schlafenden oder unter den wachen Menschen herumirrte. Einen Ausweg daraus fand er nie.
Doch es gab nicht nur das. Er erlernte auch einiges in dieser Zeit für sich. Neben all diesen fürchterlichen Dingen ließ er sich auf die Schattenseite ein. Auf jene, die er als dunkle Seite kennenlernte, doch viele als die leuchtende empfunden. Mit Pastor Hansens Hilfe versuchte er, Vertrauen in sich und Jesus – Gottes Sohn – aufzubauen.
Der Pastor zeigte große Geduld im Umgang mit ihm, denn Leon brach sein Schweigen all die Zeit nicht. Mit der Zeit kristallisierte sich jedoch ein Weg heraus, auf dem sie sich einigermaßen problemlos miteinander verständigen konnten. Gesten und Mimiken, insbesondere Gesichtsausdrücke und Handzeichen wurden neben dem bekannten Kopfschütteln und Nicken von immenser Bedeutung.
Auf dem Weg zurück zum Glauben spielte der Pastor eine große Rolle. Leon ging es nicht unbedingt darum, zu seinem Glauben zurückzufinden, sondern eher um einen Glauben. Etwas, an dem er sich festhalten; vielmehr daran klammern konnte.
Leon wollte seine eigene Bibelstelle finden, zu der er eine Bindung herstellen konnte, die ebenso einen Anker darstellte. Pastor Hansen zeigte ihm ein paar Stellen, die er als geeignet ansah.
»Ich liebe den Herrn; denn er hört meine Stimme, mein Flehen um Gnade. Ja, er hat sein Ohr mir zugeneigt, alle meine Tage will ich zu ihm rufen«, las Hansen die ersten beiden Verse aus dem hundertsechszehnten Kapitel des Psalmenbuches des Alten Testaments vor.
Der Pastor hatte recht, denn es passte inhaltlich. Doch da die Verse innerlich nicht den gewünschten Effekt bei ihm auslösten, schüttelte er demütig mit dem Kopf. Das Unbehagen wurde ihm durch ein sanftes Drücken an der Schulter genommen.
Kurz darauf hörte er, wie der Pastor in der Bibel weiterblätterte, während er selbst wieder in seine Gedanken abdriftete.
Obgleich er sich abseits von Grauen befand, war er sich seiner Bleibe mit allem Drum und Dran die gesamte Zeit hindurch nicht sicher. Er verharrte in seinem eigenen Zwiespalt zwischen Gut und Böse, dessen Kampf er jeden Tag aufs Neue unermüdlich ausfocht. Zudem beschlich ihn wiederkehrend ein zermürbendes, fatales Gefühl. Er fragte sich, ob es die richtige Entscheidung war, dem Pastor seinen Hintergrund mit Wolfgang vorzuenthalten; ihm es nicht hätte lieber anvertrauen sollen.
Als hätte sich eine höhere Macht eingeschaltet, wurden Leons Gedanken durch Pastor Hansen unterbrochen, der in diesem Moment bekundete, dass er eine weitere Bibelstelle gefunden habe. Im Neuen Testament den fünfzehnten Vers des fünften Kapitels im Brief Jakobus.
»Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.«
Diese einfachen Worte drangen sofort an seine Ohrmuscheln vorbei in sein Inneres, um sich dort auszubreiten. Um eine Wärme zu versprühen. Sie spiegelten einen Teil seiner Vergangenheit wider – vielmehr den Beginn nach Grauen. Genauso deuteten sie seine Sorgen und Zweifel an, gleichsam verfügten sie über die Macht, sie einzufangen.
Lächelnd hob er sein Gesicht und nickte Pastor Hansen zu.
»Das ist ein wahrlich schöner Bibelvers, finde ich auch«, freute sich der Pastor. Mit einem Stift unterstrich er die Stelle. Dann legte er das goldenschimmernde Band in die Seite, schloss es und überreichte Leon die Bibel. Die Bibel, aus der der Pastor ihm von Anbeginn an vorgelesen hatte.
Andächtig fuhr Leon mit seinen Fingern über den Einband. Etwas Schöneres hatte er noch nie bekommen. Bevor er Pastor Hansen kennengelernt hatte, hatte er noch nie wirklich etwas geschenkt bekommen.
Bis auf sein Leben und dass Wolfgang bei ihm aufnahm. Wofür du dankbar sein solltest, schaltete sich erneut seine Seite voller Zweifel und Schuld ein.
In diesem Augenblick, als er die Bibel von Pastor Hansen überreicht bekam, wusste er jedoch, dass die beiden sich unterschieden und dass er nicht nur dankbar sein musste, sondern dass er es auch war. Vom ganzen Herzen.
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