Wissen ●●
Seine Mutter schrie ihn an an. Sie war wütend , so verdammt wütend. Sein Vater stand daneben, den Stock schon in der Hand. Auch er war wütend und bereit, seinem Sohn Vernunft einzuprügeln. Sein Studium dauerte schon zu lange, viel zu lang. Die Eltern wollten Ergebnisse sehen, schließlich steckten sie viel Geld in die Ausbildung ihres Sprösslings. Doch Ergebnisse konnte er ihnen nicht liefern, wie sollte er auch. Das Studium war schwer für ihn, sehr schwer, fast zu schwer, unschaffbar. Er war dumm, zu dumm für den Hörsaal.
Für die Klausuren zu lernen, dafür fehlt ihm ausreichend Zeit. Er gehörte nicht zu den Studenten, die alles auf Anhieb begriffen. Er musste üben, viel üben, sehr viel üben, um alle Einzelheiten zu verstehen und die Materie komplett zu erfassen. Und er hatte viele Klausuren zu schreiben, in jedem Semester so viele Klausuren. Wie sollte er das jemals schaffen. Diese unter dem Druck, unter dem er stand, zu bestehen, machte es nicht einfacher oder leichter.
Sein Vater holte aus. Schmerz durchflutete seinen Oberkörper. Ein roter Striemen gesellte sich zu den anderen, die bereits seinen nackten Rücken schmückten. Eine leise Träne rollte über seine Wange. Der Vater lachte ihn aus für seine Schwäche, sagte zu ihm, er solle ein Mann sein und zu sein Fehlern stehen. Die Mutter stand daneben und weinte schluchzend über die Unfähigkeit ihr Sohnes, etwas aus seinem Leben zu machen. Inzwischen zierte ein Muster aus roten Streifen die Haut des Sohnes, der wimmernd am Boden lag.
Er wollte es doch, wollte so sehr gut genug sein, wollte, dass seine Eltern stolz auf ihn waren. Würden sie jemals stolz auf ihn sein oder würde nach dem Studium sein Job nicht gut genug sein. Würde seine Leistung jemals anerkannt werden, konnte er jemals ihren Ansprüchen genügen. Er wusste es nicht, wusste so wenig. Wie sollte er auch mehr wissen, er war schließlich dumm, nicht klug genug, um mit den anderen mitzuhalten, nicht schlau genug, um etwas aus seinem Leben zu machen, etwas zu erreichen, Ziele zu haben.
Dabei hatte er durchaus Ziele, Träume, Wünsche. Er wollte etwas erreichen, doch als er seinen Eltern sagte, er wollte Tänzer werden, hatten sie ihn ausgelacht. Sein Vater hatte ihn als schwach beschimpft, seine Mutter geweint. Was hatten sie in ihrer Erziehung falsch gemacht, dass er so etwas Lächerliches werden wollte. Eine Hupfdohle, die über die Bühne sprang und seine ganze Familie mit Schande belegte. Was hatten sie falsch gemacht, dass ihr Sohn keinen anständigen Beruf lernen, studieren und erfolgreich sein wollte. Er würde Geld verdienen, so viel Geld und könnte seinen Eltern alles zurück zahlen, was sie in seine Ausbildung gesteckt hatten. Sie hatten viel Geld in ihn investiert, sagten sie. Er wusste nicht, wo dieses Geld hin gegangen war, er hatte davon nie etwas gesehen. Als er einmal um Nachhilfe gebeten hatte, wurde er verspottet, ob er zu dumm sei, es nicht selbst zu verstehen, das sei doch nicht so schwer. Der Vater hatte es schließlich auch geschafft. Wenn der Sohn nur ein bisschen Grips hätte, würde er es mit Leichtigkeit verstehen. Erklärt hatte es ihm weder die Mutter noch der Vater.
Müde und traurig lag er im Bett. Wie sollte er es jemals schaffen, seine Eltern stolz zu machen. Er wollte so gerne genau so erfolgreich sein wie der Vater, so beliebt wie die Mutter, doch er war es nicht. Er hatte nichts mit den beiden gemein. Sie waren intelligent, klug, gut aussehend, charmant und erfolgreich. Ihr Sohn war nichts von alledem. Es wunderte ihn nicht, dass sie enttäuscht von ihm waren, ihrem einzigen Kind. Sie wollten stolz auf ihn sein, doch er gab ihnen keine Gelegenheit dazu. Er schaffte ja nicht einmal ein einfaches Studium.
Ausgelaugt schleppte er sich am nächsten Tag in die Hochschule. Er erfuhr von dem Impulssatz und Kräften, die auf einen ruhenden Körper wirken, von Newtons erstem Gesetz:
>Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch einwirkende zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.<
Darin erkannte er sich wieder. Täglich wurde er gezwungen, seinen Zustand zu verändern. Er wollte in Ruhe bleiben, seinen eigenen Weg gehen, doch seine Eltern zwangen ihn aus dieser Ruhe heraus. Er sollte sich in ihre Richtung bewegen, nicht in seine.
Den ganzen Tag grübelte er und versank in seinen Gedanken. Was könnte er tun, gab es einen Ausweg aus seiner Situation. Niemandem fiel seine düstere Stimmung auf, Freunde hatte er keine, nur flüchtige Bekanntschaften aus Pflichtveranstaltungen. Er machte sich nichts daraus, war gerne allein in seinem Kopf, sehr gerne, sehr allein.
Auf dem Weg nach Hause kam ihm wieder Newtons Gesetz in den Sinn. Er kreuzte Bahnschienen, viele Schienen, in viele Richtungen. Sie alle führten irgendwohin. Rechts von ihm lag ein Güterbahnhof. Ein Gedanke reifte in seinem Kopf, nistete sich tief in seine Gehirnwindungen, machte es sich gemütlich, wuchs langsam und beständig zu einem Plan.
Einen Monat später war der Plan ausgereift, bald würde er Früchte tragen, eine große, saftige Frucht. Newton würde dem Sohn helfen.
>Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch einwirkende zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.<
Ein Güterzug rauschte heran. In der Hochschule hatte er viel über Masse und Bewegung gelernt. Er wusste genug, um zu wissen, dass seine Masse keine Chance hatte gegen die Masse eines Zuges, eines schnellen, schweren Zuges. Güterzüge waren schnell und schwer, sehr schwer, so wie dieser hier. Dieser hatte keine Chance mehr, zu bremsen, bevor er den ruhenden Körper in Bewegung zwang.
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