Versuchung
Der Fernseher plärrte sie schrill an. Der Nachrichtensprecher berichtete von schrecklichen Szenen. Nüchtern. Eine junge Frau war tot in einem Boot aufgefunden worden. Vermutlich Suizid. Sie hinterließ einen Mann und zwei kleine Töchter. Traurig.
„Wie bitter das Leben manchmal schmeckt!", murmelte sie und schüttelte seufzend den Kopf, sodass ihre Haare ihre Wangen kitzelten. Niesen.
„Was mag sie nur dazu gebracht haben, diese Frau? Sie hatte doch alles?"
Genau. Sie war schön. Jung, reich, mit einer hübschen kleinen Familie und einem großen Haus. Sie hatte alles, was du immer wolltest und nie haben wirst!
Entschlossen hielt sie sich die Ohren zu, schloss die Augen und begann laut zu summen. Die Stimme sollte endlich schweigen! Sie wollte solche Sachen nicht hören.
„Es geht mir gut! Ich bin stärker als das Tier!", sang sie. Lauter. Dazu hatte ihre Therapeutin ihr geraten. Sie sollte singen und etwas Schönes tun, wenn das Biest sich meldete. Doch heute wollte es sich nicht übertönen lassen. Über ihre Stimme hinweg schnurrte es sie an.
Du bist schwach und klein. Du bist allein, trällerte das Monster.
„Das stimmt nicht! Ich bin glücklich, habe wundervolle Freunde und einen tollen Job!" Sie schlug die Hand vor den Mund. Erschrocken. Stumm verfluchte sie sich selbst. Es war nie eine gute Idee, sich auf eine Diskussion mit dem Tier einzulassen. Denn das Biest gewann. Immer. Und wenn es gewann, triumphierte es. Lautstark. Sie selbst lag dann meistens heulend in einer dunklen Ecke ihres Zimmers, während das Monster sie mit Schokolade fütterte und dabei hämisch grinste.
Schnell fing sie wieder an, ihr Mantra zu singen, noch lauter und mit mehr Überzeugung als zuvor, doch es war zu spät.
Oh meine Liebe, da hast du Unrecht, schnurrte das Ungeheuer in ihr Ohr.
Deine Freunde sind nicht echt. Sie sind Abschaum, der dich ausbeutet und ausnutzt. Und du bist so erbärmlich, ihnen hinterher zu rennen und alles für sie zu tun, die Stimme des Tiers wurde weicher. Aber wann tun diese Leute jemals etwas für dich? Kurz pausierte es seine Hassrede. Ich sag's dir: Nie! Stolz über diese Schlussfolgerung blickte das Bist zu ihr hoch. Es hatte sich auf ihren Schoß gesetzt und rollte sich dort nun wie eine Katze ein. Es zwinkerte ihr zu. Aber weißt du was? Ich habe eine Idee, einen Plan, flüsterte es sanft. Die surrende Stimme des Tiers bohrte sich in ihren Kopf. Unaufhaltsam. Das Monster wusste darum, spürte ihre aufkommende Unsicherheit und nutzte sie, um nachzusetzen: Weißt du, Kätzchen, du und ich, wir sind doch ein super Team. Wozu brauchen wir da die anderen? Die machen uns zwei doch nur alles kaputt. Spielerisch schlug das Biest nach einer Strähne von ihren Haaren. Aber schau, ich mache dir einen Vorschlag. Lass uns gemeinsam herausfinden, wie viel du den anderen Menschen, die vorgeben, dich zu mögen, wirklich bedeutest. Müde hoch sie den Kopf und rieb sich über die Augen. Sie hatte es längst aufgegeben, dem Tier nicht zu lauschen. Seine Worte klangen logisch und sinnvoll und sie war es leid, sich ständig einzureden, wie toll ihr Leben ist. Sie war fett, hässlich, den Job hatte sie nur Dank Vitamin B von ihrem Vater und die Wohnung konnte sie sich nur auch nur knapp leisten. Ihr Leben war kacke, daran würde keine Therapie der Welt etwas ändern können. Sie holte tief Luft.
„Was schlägst du also vor?", fragte sie das Monster, welches anzüglich grinste.
Nun, zischte es, ich würde vorschlagen, du schreibst einen Brief. Schön kurz und ein bisschen dramatisch. Davon machst du ein Foto und schickst es deinen ‚Freunden'. Das Biest grinste breit, voller Vorfreude wackelte es mit dem Kopf. Und anschließend schluckst du alle Tabletten und Tropfen, die du zu Hause hast. Das Grinsen wurde noch ein bisschen breiter und hämischer, bis das Monster aussah, wie die Grinsekatze von Alice im Wunderland. Zischend murmelte es: Und dann warten wir ab, wer im Krankenhaus neben deinem Bett sitzt, wenn du wieder aufwachst.
Der Plan klang gut, fand sie. Dramatisch, aber nicht übertrieben. Das gefiel ihr sehr. Eilig suchte sie Papier und Stifte zusammen und machte sich daran, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie wollte wirklich wissen, wem sie etwas bedeutete.
Es dauerte länger, den Brief zu schreiben, als sie gedacht hätte. Mehrmals fing sie neu an, weil ihr oder dem Biest das Ergebnis nicht zusagte. Zu melodramatisch, zu harmlos, zu verzweifelt, zu...
Doch schließlich, es wurde draußen schon dunkel, hatte sie ihn fertig, den Brief, ihre Botschaft. Wunderschön.
Bevor sie das Foto abschickte, suchte sie, wie das Tier vorgeschlagen hatte, alle Mittelchen zusammen, die sie finden konnte. Es waren einige: Schmerzmittel, Schlafmittel, Antidepressiva, Hustentropfen und, der krönende Abschluss, Jägermeister. Was sich halt so im Laufe der Zeit ansammelte, wenn man regelmäßig einen Therapeuten aufsucht.
Nun das Finale. Das Foto. An 15 Kontakte schickte sie es.
Als ihr Handy anfing zu klingeln, schlief sie schon, tief und fest. Das Biest lag zufrieden in ihrem Arm und schnurrte, bis es ebenfalls einschlummerte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro