Stille
Das Publikum johlte. "Zugabe!", schrien tausende Menschen gleichzeitig, das Rauschen ihrer begierigen Rufe dröhnte dumpf in seinen Ohren. Kurz schloss er die Augen, ließ den Klang der Massen auf sich einwirken, dann nahm er einen letzten Schluck aus seinem Flachmann und schritt mit ausholenden Bewegungen auf die Bühne zurück, wo er sich ein letztes mal feiern ließ.
Er gab sein bestes, legte eine Zugabe hin wie noch nie. Die Gittarensaiten unter seinen Fingern bebten, der Bass ging ihm bis ins Mark. Mit dem Verklingen der letzten Akkorde verbeugte er sich ein letztes mal vor seinen begeisterten Fans. Dieses Konzert würde für immer in ihrer Erinnerung sein, als das Beste, das sie je erlebt haben.
Stolz auf sich und seine Leistung kippte er den restlichen Inhalt seines treuen Begleiters hinunter. Das Prickeln und Brennen des scharfen Alkohols benebelt seine Sinne und versetzten ihn in einen angenehmen Dämmerzustand.
Draußen vor der Bühne machte sich das Publikum zufrieden auf den Heimweg, das Rauschen ihrer Schritte und Stimmen dröhnte von jenseits der Bühne an seine Ohren. Er nahm es kaum war. Müde sank er auf einem der Sofas im Backstage-Bereich zusammen und gab sich der Lethargie des Alkohols hin. Seine Bandkollegen und die Crew feierten ungebremst weiter, tanzten und lachten, tranken.
Ein Rütteln an seiner Schulter riss ihn schließlich aus seiner Trance. Erst leise, dann immer klarer drang eine weibliche Stimme zu ihm durch.
"Wach auf! Du kannst hier nicht einfach abdriften!" Arme schoben sich unter seine Achseln, ein Ruck und er stand halbwegs auf seinen Beinen. "Komm mit. Ich bring dich heim." Die Stimme klang liebevoll, aber bestimmt. Er kannte diesen Ton, Widerspruch würde sie nicht dulden. Dazu fehlte ihn sowieso jegliche Kraft.
Redlich bemüht, es der Stimme recht zu machen, setzte er schleppend ein Fuß vor den anderen, bis er schließlich auf den weichen Ledersitz eines Autos fiel.
"Nach Hause, Tom. Fahr uns bitte einfach heim." Die Stimme klang so müde und erschöpft, wie er sich fühlte. Leer. Das war das Wort, das er die letzten Tage gesucht hatte. Da war nichts mehr, kein Antrieb, nichts das ihn davon abhielt, einfach weiter zu schlafen und sich der bleiernen Müdigkeit hinzugeben, die ihn seit geraumer Zeit fest im Griff hielt.
"Wach auf, Schatz. Ich hab uns Frühstück gemacht." Liebevoll küsste Andrea ihn auf die Stirn. Sein Schädel dröhnte, doch er öffnete sröhnend seine Augen einen Spalt, um ihre Kehrseite noch einmal zu bewundern.
"Ann?", rief er ihr leise hinterher. Lächelnd und mit schief gelegtem Kopf drehte sie sich zu ihm um.
"Ja?" Ihre Augen leuchteten. Diesen Dialog hatten sie schon häufig geführt. Er rief warme Erinnerungen an leichtere Zeiten hervor.
"Nichts. Ich wollte dich nur noch einmal ansehen." Grinsend warf sie wie immer ihre langen Haare über die Schulter und deutete einen Luftkuss an.
"Ich liebe dich."
"Ich dich auch." Als sie den Raum verließ, rollte eine Träne über seine Wange. "Du wirst mir fehlen" murmelte er.
Das Hämmern in seinem Kopf war unerträglich. Nicht einmal ein Schluck konnte ihm Ruhe verschaffen. Fahrig durchsuchte er den Badezimmerschrank nach den erlösenden Medizin. Als er das kleine Döschen schließlich fand, zitterten seine Hände so stark, dass er beim Öffnen fast die Hälfte des Inhalts auf dem Boden verteilte. Schnell schluckte er drei von den weißen Pillen hinunter und spülte gründlich mit dem Inhalt der bereitstehenden Flasche nach.
Entspannt lehnte er sich zurück, spürte die kühlen Kacheln in seinem Rücken und wartete auf die erlösende Stille in seinem Schädel. Hände und Füße wurden ihm taub, fühlten sich wie Fremdkörper an, die jemand aus Jux an ihn angenäht hatte. Das Rauschen und Wummern hinter seinen Schläfen wurde immer eindringlicher. Wimmernd wand er sich auf dem Boden, hielt seinen Kopf und schrie stumm unter namenlosen Schmerzen.
Immer mehr Tabletten fanden, mit brennender Flüssigkeit beschleunigt, ihren Weg seinen Rachen hinab. Keine gebot dem Lärm in seinem Kopf einhalt, erlöste seine Gliedmaßen aus ihrer Stumpfheit. Im Gegenteil, sein Körper wurde immer tauber, bis nur noch das Hämmern in seinem Schädel blieb uns ihn komplett erfüllte. Er war nichts mehr, außer der stechende, beißende Schmerz, der ihn wie eine dunkle Gewitterwolke einhüllte und mit Blitzen auf seine Gedanken schoss. Er musste eine Lösung finden. Schnell. Tränen rannen in Strömen über sein Gesicht. Sein verklärter Blick fiel auf den Duschvorhang. Wenn er nicht mehr Atmen könnte, wenn seinem Hirn im wahrsten Sinne des Wortes die Luft abgeschnitten würde, hätte er vielleicht einen Moment Ruhe. Nur kurz. Zum erholen.
Mühsam kroch er auf allen Vieren zur Dusche. Seine Finger - wenn es denn seine waren, sie fühlten sich so fremd an - verkrampften sich in dem Kunststoff Vorhang. Eigentlich hatte er sich an dem Stoff hochziehen wollen, doch die Halterung gab nach und begrub ihn mit einem lauten Scheppern, das ihn schmerzerfüllt aufschreien ließ, unter blauem Plastik.
Keuchend richtete er seinen Oberkörper auf und zog den Stoff zu sich hin. Dann packte er ihn mit beiden Händen und wickelte ihn sich mehrmals fest um den Schädel. Er spürte bereits, wie seine Lunge brannte und nach Sauerstoff verlangte, die er ihr nicht gewähren würde. Dafür genoss er die Empfindung zu sehr, die ihn von seinen Kopfschmerzen ablenkte.
Immer träger wurde er und wehrte sich nicht dagegen, ließ es einfach zu. Der Schmerz in seinem Kopf wurde immer dumpfer, als er sich schließlich der Stille hingab und in ihre schwarze Watte gleiten ließ.
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