Flut
Er stand allein am Strand und starrte auf die grauen Wassermassen, die sich vor seinen Füßen über den feuchten Sand wälzten. Die Luft schmeckte salzig, es roch nach Algen und Fisch. Über ihm kreischten Möwen und schossen gelegentlich vom Himmel herab, um sich einen Fisch oder eine Muschel zu schnappen.
Immer näher schoben sich die Wellen an ihn heran, immer öfter schwappte Wasser um die Sohlen seiner braunen, abgetragenen Lederschuhe. Kurz dachte er daran, dass das Salzwasser ihren Zustand nicht unbedingt verbessern würde, im nächsten Moment war es ihm aber wieder egal. Glucksend glitt Wasser über seine Schuhe. Einmal. Zweimal. Er machte einen Schritt nach vorne. Nun umspülte das kalte Wasser seine Knöchel. Das Rauschen der Wellen wurde immer lauter, ohrenbetäubend, bis er nichts anderes mehr wahrnahm. Die Schreie der Möwen klangen nun wie eine Warnung, dass er ertrinken würde, sollte er stehen bleiben, doch er hörte sie nicht. Er war sich seiner Situation bewusst. Die Kälte in seinen Knochen lähmte ihn, machte seine Gelenke steif und unfähig, sich zu bewegen.
Der Wasserspiegel stieg gemächlich, doch stetig an. Inzwischen hatte die salzige Naturgewalt, geballte Masse aller jemals vergossenen Tränen schon seine Waden eingehüllt. Er scheute sich nicht davor, der Flut zu geben, was sie sich unweigerlich holen würde, wenn er bleib. Dennoch nährte er die Flut auch mit Perlen stummer Klage. Tropfen aus Verzweiflung, Wut und Einsamkeit mischten sich unter die rauschende gischt, die seinen Körper umwehte.
Das Wasser stand ihm sprichwörtlich bis zum Hals. Das Atmen fiel ihm schwer, die Flut presste die gesalzene Luft aus seiner Lunge. Er hatte nichts mehr, das ihn noch auf dem Festland hielt, keinen Anker, der ihn daran hinderte sich einfach treiben zu lassen, keinen Hafen, der ihn nach langer Reise willkommen hieß. Er war allein. Er war ein einsamer Mensch in dem weiten Meer der Gesellschaft, die ihn mit Regeln, Normen, Werten, Pflichten und Rechnungen übergoss, gerade so, wie ihn gerade der Ozean übergoss. Er wurde von den Wellen hin und her geschleudert, unfähig, sich zu wehren oder zu bewegen. Selbst wenn er gewollt hätte, würde er das Ufer jetzt nicht mehr lebend erreichen, zu steif war sein Körper, zu unbeweglich seine Gelenke, zu weit entfernt das rettende Ufer, zu schwer die Kette mit dem Stein daran um seine Knöchel.
Ein letztes Mal holte er schnappend nach Luft, dann schloss sich die Flut über seinem Kopf, verschluckte das Meer ihn, machte ihn sich zu Eigen, hieß ihn in seinen Armen willkommen. Ihm war nicht mehr kalt. Ihm wurde wohlig warm, er ließ sich treiben und schaute einem Fisch dabei zu, wie er an seinen teuren, alten Lederschuhen knabberte, bevor er, durch eine Bewegung aufgeschreckt, davon schoss.
Schön ist es hier, dachte er selig und schloss seine Augen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro