Rosé und die 336
Die Feldbetten standen so dicht, dass Rosé sich hindurchquetschen musste und trotzdem ständig irgendwo anstieß oder hängenblieb.
Nachdem der Cowboyverschnitt endlich abgeflattert war, hatte sie sich darauf eingestellt gehabt, die Nacht in dem kleinen Bunker zu verbringen. Mit dem Rücken an der Wand und den Knien am Bauch hatte sie vor sich hingedöst, als die Tür ohne Vorwarnung aufgeglitten war und einen weiteren Engel preisgegeben hatte.
Und er war wahrhaft eine Erscheinung! Rosé schaffte es jetzt noch nicht, den Blick von den Stahlmuskeln abzuwenden, die in seinem Nacken und unter dem Saum seines Achselshirts blank lagen. Auch deshalb strauchelte sie öfter, als nötig.
Der Engel manövrierte mit größter Sicherheit durch das Bettenlabyrinth. Rosés Wadenmuskulatur ziepte bereits, als er endlich stehen blieb.
„Die 336 ist noch frei."
Rosé starrte auf die Matratze und fragte sich, woran er das festmachte, denn für sie sahen alle gleich aus: Schwarzes Metallgestell, graues Bettlaken und dunkelgrüne Wolldecke. Auf keinem einzigen der zahllosen Feldbetten hatte sie bisher persönliche Dinge entdeckt.
Weil es keine gibt. Sie lassen einem nichts Privates. Die Erkenntnis war genauso einfach wie erschreckend.
„Alles klar?" Er sah sie an, als wäre er sicher, dass sie den Verstand verloren hatte.
„Äh, ja." Zögernd hob Rosé den Blick von der Matratze. Der Engel gab sich freundlicher als der andere. Seine Gesichtszüge waren schmaler und seine Haare, die er vorn länger als hinten trug, schimmerten im trüben Deckenlicht der Betonhalle aschblond. Dennoch wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ihn als zart zu beschreiben. Dafür war schon allein sein Hals zu kräftig; mal ganz zu schweigen von den Muskeln an Schultern und Oberarmen. Sein ganzer Körper strahlte die gleiche Unnachgiebigkeit aus, die sie beim Cowboy so hasste.
Auch wenn der Blick dieses Engels sanfter wirkte, so würde Rosé sich davon nicht täuschen lassen.
„Die anderen Rekruten werden gleich kommen. Nach dem Essen hatten sie Training." Er sah sich um. Offenbar rechnete er damit, dass die ganze Armee jeden Moment hereinstürmte. Rosés Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Du meinst, all diese Betten sind belegt? Ihr haltet hier so viele Menschen gefangen?"
Sie versuchte gar nicht erst, ihre Bestürzung zu verbergen.
Und schon war der Grad überschritten; die Sanftheit seines Blicks wich einer Schärfe, bei der sich Rosé prompt auf die Zunge biss. „Wir bilden sie aus." Er sah sie so fest an, dass sie schnell nickte. Erneut betrachteten sie das Bettenmeer und er erklärte mit einem Schulterzucken: „Außerdem schlafen hier nur die Rekruten, die nicht freiwillig hier sind." Er bedachte sie mit einem Blick, der klar machte, dass er das für eine ausgemachte Dummheit hielt. „Die anderen kommen jeden Tag aus dem Umland."
Rosé wollte gern fragen, zu was die Menschen hier ausgebildet werden, doch der Blick aus seinen nachtschwarzen Augen pinnte nicht nur ihre Fußsohlen am Betonboden fest, sondern auch die Zunge an ihrem Gaumen.
Zu allem Überfluss trat der Engel so nah an Rosé heran, dass sie rückwärts auswich, ans Bettgestell stieß und prompt mit dem Po darauf fiel. Er schmunzelte, als hätte er damit gerechnet, doch es hinderte ihn nicht daran, sich weiter über sie zu beugen. „Dabei lohnt es sich nicht, uns zu bekämpfen."
Seine Stimme war wie ein tiefer, dunkler Teich; auf eine gewisse Art einladend und gleichzeitig saugefährlich.
Rosé strampelte sich mühsam hoch. Sie glaubte ihm aufs Wort und dennoch rebellierte ihr leerer Magen bei der Vorstellung, von jetzt an jeden Tag nach der Pfeife dieser beiden Engelterminator tanzen zu müssen.
„Was ist denn mit demjenigen passiert, der das Bett vor mir hatte?"
Der Engel war noch viel zu nah für solche Fragen. Rosé konnte die Linien seiner Muskeln erkennen, sie sich unter dem Stoff seines Shirts abzeichneten. Es spannte über seiner Brust. Doch es half nichts; ihre Neugier war geweckt. Und bevor ihr Verstand sie zufassenbekam, flatterte sie wie ein frecher Kolibri auf und davon; bohrte ihren Schnabel in diese Sache, auch wenn es Rosé nicht mehr betraf.
Der Engel verzog den Mund. „Was denkst du?" Sein Ton war so kalt, dass Rosé eine Gänsehaut bekam.
„Tot?" Ein Hauch. Aber er streifte die Wange des Engels.
Statt sofort zu antworten, senkte er seine dunklen Wimpern und zog sich zurück.
Erst, als er in voller Größe vor ihr stand, erwiderte er: „Wieso fragst du, wenn du es weißt?"
Dann ging er. Seine Schritten waren zielstrebig und knallten in der rießigen Halle wie Pistolenschüsse. Erst an der Tür stoppte er und blickte über die Schulter zu ihr zurück. „Bis morgen - zum Training!"
Rosé ließ sich rückwärts auf ihre Bett fallen, und betete, dass dieser Tag nie käme.
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