33. Lass mich nicht alleine
Ich sitze noch lange Zeit bei Reece und seiner Familie. Wir schweigen alle, jeder starrt auf einen Punkt an der Wand oder auf Reece. Keiner bewegt sich. Ab und zu hört man ein leises Wimmern, einen Schluchzer oder sogar ein Räuspern, aber ansonsten ist es die ganze Zeit über still. Jeder ist in seine eigenen Gedanken und Sorgen vertieft, obwohl wir vermutlich gerade alle dasselbe denken, um dieselbe Person trauern.
Mein Blick ruht die ganze Zeit auf Reece, während ich ihm in meinem Kopf immer wieder befehle aufzuwachen, aber er bewegt sich nicht. Wach auf, Reece! Eigentlich weiß ich, dass er nicht aufwachen wird - jedenfalls nicht jetzt - dennoch habe ich einen Fünkchen Hoffnung in mir. Ich hoffe, dass er mich hört, dass er uns alle irgendwie wahrnimmt, wie wir hier sitzen und hoffen, dass das Schicksal gut ist. Dass das Leben nicht grausam und kalt ist.
Irgendwann steht Maria schließlich auf und drückt sanft meine Schulter. Ich habe die Zeit gar nicht so richtig beachtet, während ich hier sitze. Aber jetzt wo sie das Eis bricht und mich aus meiner Starre weckt, bemerke ich, dass es hell geworden ist. Verdammt. Ist schon der neue Tag angebrochen? Reece Operation rückt immer näher.
Marias Hände auf meinen Schultern tun gut. Es fühlt sich gut an etwas zu spüren, denn die ganze Zeit über, während ich hier saß, hatte ich das Gefühl bloß eine leere Hülle zu sein. Ein Nichts. Eine vor mich hinvegetierende Hülle, die keine Empfindungen und Gefühle mehr hatte. Doch Marias Berührung lässt mich wieder ein wenig aufleben.
»Wir lassen dich mal alleine mit ihm. Der Arzt meinte, dass Reece um zehn operiert wird. Also, beeil dich«, flüstert Maria mir ins Ohr und streicht mir meine Haare hinter meinen Rücken. Also, beeil dich. Innerlich muss ich auflachen, auch wenn mir eher zum Heulen zumute ist. Damit möchte Maria doch bloß sagen, dass, falls er die Operation heute nicht überstehen sollte, ich mir die Zeit nehmen sollte um ein letztes Mal Zeit mit ihm zu verbringen. Auch wenn ich mir unser vielleicht letztes gemeinsames Mal anders vorgestellt habe, nehme ich, was ich kriegen kann.
Madison springt vom Bett runter und ich kann noch sehen wie sich Tränen in ihren großen, runden Augen bilden, als sie auf ihre Eltern zu rennt, die das Krankenzimmer gerade verlassen. Maria schließt die Tür hinter sich, nachdem sie mir ein letztes Lächeln zu wirft. Dann bin ich endlich alleine mit Reece im Raum.
Ich drehe mich wieder zu ihm um. Mein Blick fällt auf seine Brust, die sich langsam hebt und senkt. Sein Mund steht offen, wegen den Schläuchen, doch seine Augen sind friedlich geschlossen. Seine dunklen Wimpern werfen Schatten auf seine Wange. Ich lächle in mich hinein und streiche ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Sanft fahre ich mit dem Finger die Konturen seines Gesichts nach, aber nur so, dass ich es kaum berühre. Er ist so verdammt schön.
»Ich liebe dich«, flüstere ich, als ich mich zu ihm vorbeuge um sein Ohr zu berühren.
Ich spüre wie mir die Tränen in die Augen steigen, als ich seinen ruhigen Atem höre. Er lebt noch. Ob er mich wohl hört? Wo er wohl gerade ist?
Am liebsten würde ich ihn küssen - ihn wach küssen, wie es der Prinz mit seiner Prinzessin getan hat, nur dass wir die Rollen tauschen - aber das geht nicht. Ich halte kurz inne, fast als würde ich darauf warten, dass er mir antwortet Ich dich auch, Kätzchen, aber es kommt natürlich nichts. »Ich hoffe du wirst mir noch einmal sagen können, dass du mich auch liebst. Bitte Reece.«
Ich setze mich zurück auf den Stuhl und wische mir schnell die paar Tränen weg, die ich nicht hatte zurückhalten können. Dann schaue ich ihn wieder an, greife nach seiner freien Hand und umklammere sie mit meinen Händen. Sie fühlt sich so warm und weich an, ich lege sie an meine Wange und lächle traurig. »Wenn ich gewusst hätte, dass du vielleicht nicht mehr aufwachen würdest, dann hätte ich alles anders gemacht. Oh Gott, ich wollte dir noch so vieles sagen und zeigen. Ich habe versucht deine Krankheit zu vergessen und was habe ich jetzt davon? Ich habe dich wahrscheinlich verloren.«
Ein lauter Schluchzer entschlüpft meinen Lippen, als ich die erneut aufkeimenden Tränen unterdrücken will. »Du kannst mich nicht einfach so alleine lassen hier, hörst du Reece? Wehe du verschwindest einfach. Wenn du das tust, wirst du mich erst richtig kennen lernen. Ich werde dir den Arsch versohlen. Ich werde dich jagen.«
Ich schließe die Augen und streiche mit meinen Fingern über seinen Handrücken. »Du hast Madison gerade nicht gesehen. Sie sah aus als würde sie sich am liebsten neben dich legen wollen, die Augen schließen und nie wieder öffnen, um dahin zu gehen wohin du auch gehst. Das kannst du ihr nicht antun. Hörst du mich? Sie würde vermutlich zusammenbrechen. Du bist doch ihr einziger Halt im Leben, Reece. Es wäre unverantwortlich von dir einfach so zu verschwinden. Und was ist mit deinen Eltern? Ich weiß nicht ob sie es verkraften würden. Oh Gott-«
Schließlich schaffe ich es doch nicht und breche in Tränen aus. Mein Wimmern muss überall zu hören sein, draußen, auf den Fluren, am Empfangsbereich, vielleicht auch dort wo Reece gerade ist. »Und ich... Scheiße, Reece! Ich- ich kann das nicht. Ich habe dich doch gerade erst gefunden, da kannst du nicht einfach so wieder aus meinem Leben verschwinden. Ich brauche dich. Ich brauche deine Berührungen, deine Umarmungen, deine Küsse und deine süßen Worte. Wer nennt mich denn ab jetzt Küken oder Kätzchen? Wer sagt mir, dass ich schön sei? Wer ärgert mich und lacht mich dann aus? Ich klinge so verdammt schnulzig, Reece, vielleicht stehst du ja auf wenn du das hörst und verlässt den Raum, weil dir das Ganze zu kitschig ist. Vielleicht stehst du ja auch auf und bringst mich zum Schweigen, indem du mich küsst.«
Ich warte kurz, aber er bewegt sich immer noch nicht. Schließlich lege ich seine Hand wieder sanft neben ihn und lasse sie los.
Langsam stehe ich auf und gehe auf das Fenster zu, an dem vorhin noch Jack stand und herausgeschaut hat. Ich tue es ihm gleich und sehe Menschen, eine Straße und ein Meer aus hupenden Autos und ungeduldigen Autofahrer. Für sie alle da unten geht das Leben einfach so weiter.
Sie trauern nicht um Reece, um jede Sekunde die verstreicht und uns näher bringt zu seiner risikoreichen Operation. Sie wissen gar nicht, dass er hier oben liegt und um sein Leben kämpft. Sie wissen vermutlich nicht einmal von seiner Existenz, werden es nie wissen. So viele Menschen werden niemals wissen was für ein Mensch Reece war. Dass er fies und eingebildet sein konnte, aber dass das ganze nur Fassade war, dass er gar nicht so arrogant und selbstverliebt war, wie er immer getan hat. Er hat sich fast schon selbst gehasst, hat seine Krankheit gehasst und das was sie in seinen Augen aus ihm gemacht hat. Er hat sich für einen Krüppel gehalten und gedacht, dass er nichts verdient hat, was er hatte. Dieses Ego, das er sich aufgebaut hat, war vielleicht all die Jahre nur eine Schutzmauer gewesen, damit er nicht in Selbstmitleid und Selbsthass versinkt.
Reece hatte nicht viele Menschen in sein Herz gelassen, aber die die er in sein Herz gelassen hat, hat er respektiert und gut behandelt, er hat sie geliebt mit allem was er konnte. Mit seinem gebrochenen, kranken Herzen, dass nicht mal sich selbst lieben konnte.
Mein Blick fällt wieder auf die Menschen im Verkehr.
Ob diese Menschen auch einmal jemanden verloren haben? Ob sie vielleicht einmal, genauso wie ich jetzt, hier standen und nach unten geschaut haben? Vielleicht haben sie dasselbe gedacht und gefühlt. Was sie wohl danach getan haben? Einfach weitergelebt? Wann hat der Schmerz wohl aufgehört? Wann war der Verlust nicht mehr so schmerzhaft? Verblasst dieses Gefühl, dieser Schmerz überhaupt irgendwann?
Dreht sich die Welt auch weiter, wenn einem der liebste Mensch - der einzige Mensch, der einem so wichtig und teuer ist wie sein eigenes Leben - genommen wird? Kann es dann überhaupt weitergehen, wenn einem wortwörtlich das Herz gebrochen, nein, herausgerissen wird?
So viele Fragen stellen sich mir in diesem Moment. Noch nie habe ich mir so viele Gedanken über Leben und Tod gemacht. Warum leben wir, wenn wir sowieso alle irgendwann einmal sterben und sich am Ende kein Arsch an uns erinnert? Was passiert nach dem Tod? Wird es besser? Wird es schlechter? Oder wird vielleicht gar nichts sein? Ein schwarzes endloses Nichts?
Ich drehe mich langsam um und schaue von meiner Position am Fenster aus zu Reece. Er liegt immer noch genauso da wie gerade. Natürlich liegt er genauso da. Warum sollte er sich auch bewegen?
»Wenn du mich jetzt sehen könntest«, flüstere ich leise, dennoch kommt mir meine Stimme so laut vor in diesem Raum. »Ich heule und heule und dabei weiß ich sogar, dass es nichts bringt. Ich bin schwach und nutzlos. Statt hier zu heulen sollte ich vielleicht beten und hoffen, aber«, ich senke leicht beschämt den Kopf und kneife fest die Augen zusammen. »Ich habe die Hoffnung schon lange aufgegeben. Ich rede mir das Gegenteil ein - aber es ist eine Lüge. Ich hasse mich dafür, Reece. Du glaubst gar nicht wie sehr ich es hasse, dass ich so bin wie ich bin. Dabei sollte ich doch diejenige sein, die dir sagt dass alles wieder gut wird. Ich sollte diejenige sein, die die Brust ausstreckt und den Kopf hebt. Aber ich habe den Glauben in den letzten Stunden fast schon komplett aufgegeben.«
Ein letztes mal gehe ich zu ihm, setze mich hin und nehme seine Hand in meine. Ich küsse sie. Küsse jeden einzelnen Knöcheln, jeden Finger, jeden verdammten Millimeter seiner Hand, während ich sie mit salzigen Tränen bedecke.
Dann stehe ich schließlich auf und gehe langsam in Richtung Tür, dabei drehe ich mich nicht noch einmal um, denn ich weiß, würde ich das machen, dann würde ich vermutlich erneut in Tränen ausbrechen, mich auf ihn werfen und ihn nie wieder loslassen, aber das darf ich nicht. Also schließe ich die Augen, drücke die kalte Klinke herunter und trete heraus auf den Flur.
Erst als ich die Tür hinter mir wieder schließe, öffne ich die Augen und sehe in Avas große, blaue Augen. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, aber sie lächelt als sie mich sieht und klopft auf den Platz neben sich.
»Hast du die ganze Nacht hier gewartet?«, frage ich sie entsetzt.
Ava senkt den Blick und verschränkt ihre Finger ineinander, als sie langsam nickt und schließlich wieder hochschaut. Mein Mund steht offen, als ich sie mustere. »Emma, ich musste es tun. Immerhin bin ich deine Freundin und ich wusste, dass du jemanden brauchst, sobald du da wieder herauskommst. Komm her, Süße.«
Die Tränen brechen erneut aus meinen Augen und ich werfe mich in Avas Arme während ich laut heule.
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