29. Ich habe Angst
Wir sitzen im Wartebereich der Praxis eines Herzspezialisten, den Maria gestern am späten Nachmittag noch einmal angerufen hat. Da dies in dem Sinne ein Notfall ist, wurde Reeces Termin irgendwo mit eingeschoben. Nun sitzen wir hier - Maria, Reece und ich. Reece wollte unbedingt, dass ich mitkomme, weshalb Maria uns beide heute von der Schule befreien musste.
Sie sitzt die ganze Zeit neben uns und spielt nervös mit ihren Fingern, während sie alle fünf Sekunden wieder seufzt. Mir tut sie wirklich sehr leid, vor allem wenn ich sehe, wie sie sich hier herumquält, doch als ich etwas sagen möchte, kommt eine Frau herein und lächelt uns drei abwechselnd an. »Reece Baldon bitte.«
Als Maria versucht aufzustehen, schüttelt die Frau den Kopf und hält sie davon ab, in das Zimmer zu stürmen. »Der Doktor möchte erst einmal alleine mit Reece reden und ein paar Untersuchungen an ihm durchführen. Wäre das in Ordnung für Sie, Mrs. Baldon?«
Ich drehe mich zu Reece um und drücke seine Hand, die in meiner liegt. Er erwidert meinen Blick. Ich würde ihn gerne küssen, um ihn aufzumuntern, damit er nicht mehr so verängstigt dreinschaut wie ein kleiner Welpe, aber die Blicke der Frau und die von Maria, halten mich davon ab, es zu tun. Deshalb hebe ich bloß seine Hand an und küsse ihn auf den Handrücken. Auf jeden einzelnen seiner Fingerknöchel. Vier mal. Dabei schaue ich ihm unentwegt in die Augen, die sich voller Überraschung weiten, doch dann lächelt er.
Reece steht auf und geht in Richtung Raum. Als er sich kurz vorher noch einmal umdreht, forme mit den Lippen Das schaffst du.
Die ganze Wartezeit über, reden Maria und ich kein einziges Wort miteinander. Maria sagt nichts. Den ganzen Morgen schon über. Ich glaube, sie kämpft gerade innerlich mit sich selbst. Ich würde gerne näher zu ihr rüber rutschen, vielleicht auf den leeren Sitz zwischen uns, auf dem Reece gerade zuvor noch gesessen hat, aber ich traue mich nicht. Was soll ich auch sagen? Das wird schon? Keine Angst? Wer gibt mir das Recht, so etwas zu sagen, ohne zu wissen, ob es auch wirklich der Wahrheit entspricht? Ich möchte ihr keine Lügen erzählen, möchte ihr nicht unnötig Hoffnungen machen, wenn ich selbst nicht weiß, ob ich hoffen kann.
Eine Stunde später kommt Reece aus dem Zimmer heraus. Er wirkt leicht verstört. Maria zuckt auf ihrem Stuhl zusammen und sieht ihren Sohn fragend an. »Was hat der Arzt gesagt?«
Bevor Reece antworten kann, taucht die Frau wieder auf. Ein Lächeln im Gesicht - ein aufgesetzten Lächeln, so eins, das man haben muss, wenn man in so einem Geschäft tätig ist. »Mrs. Baldon, der Doktor wird Sie gleich zu sich rufen.«
Sie nickt bloß und schaut wieder auf ihre Hände.
Zeit vergeht. Keiner unterhält sich. Wir sitzen alle einfach nur so da und starren auf die weißen Wände vor uns.
Eine halbe Stunde später taucht die Frau wieder auf und ruft uns ins Zimmer rein.
Maria springt als Erste von ihrem Stuhl auf und hastet ins Zimmer, in das die Frau uns verweist. Reece dagegen steht etwas langsamer auf, so als würde er sich zwingen dazu, als würde sich alles in ihm dagegen wehren, da reinzugehen. Er dreht sich zu mir um und nickt in den Raum, dann streckt er seine Hand aus.
»Willst du wirklich, dass ich mit reinkomme?«, flüstere ich unsicher und schaue in das Dunkel gehaltene Zimmer. Reece presst nur die Lippen aufeinander und nickt langsam. Ich greife nach seiner Hand, lasse mich von ihm ins Zimmer zerren.
Der Doktor sitzt schon erwartungsvoll auf seinem Platz. Dr. Shirvington ist ein alter Mann, mit einem herzlichen Lächeln. Er deutet auf die Stühle und schüttelt uns kurz allen die Hand, bevor er sagt: »Setzen Sie sich doch bitte.«
Reece sitzt unruhig neben mir, spielt mit seinen Fingern herum und scheint abzuwarten, was der Arzt zu sagen hat. Maria hüpft ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Und ich? Ich sitze da, versuche mein Zittern zu unterdrücken und presse die Lippen aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Doktor, seien Sie bitte ehrlich zu uns«, krächzt Maria und schaut ihn dabei unentwegt an. »Gibt es eine Chance für meinen Sohn, zu überleben?«
Dr. Shirvington atmet tief ein und aus und schaut uns dann alle drei der Reihe nach an. Nachdem er bei mir angekommen ist, schaut er wieder zu Reece und lächelt ihn aufmunternd an. »Ihr Sohn hat ein sehr schwaches Herz. Ich vermute mal, dass Sie in der Familie schon jemanden hatten, der an einem schwachen Herz gelitten hat.«
Marias Mund öffnet sich in Schock und dann nickt sie heftig. »Ja. Ja, Reeces Großvater hatte mehrmals einen Herzinfarkt. Beim letzten Mal ist er schließlich gestorben.«
Das wusste ich gar nicht. Ich schaue zu Reece, der unentwegt auf seinen Schoß starrt. Warum hat er mir nie davon erzählt? Andererseits, er hat mir auch nichts von seiner Krankheit gesagt. Es gibt vermutlich unendlich viele Dinge, die wir voneinander nicht wissen.
Der Doktor nickt, als würde er verstehen. Dann nimmt er seine Brille ab und seufzt. »Sein Herzfehler ist daher, wie ich vermutet habe, erblich veranlagt. Seine Herzkranzgefäße funktionieren nicht richtig. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Herz mit sauerstoffreichem Blut und Energie liefernden Nährstoffen versorgt wird. Bei Ihrem Sohn ist es so, dass sein Herz nicht mit reichlich Blut oder anderen Nährstoffen versorgt wird, die das Herz aber zum Überleben braucht.«
»Bedeutet das, dass er sterben muss?«, fragt Maria schluchzend. Der Doktor seufzt schwer und setzt seine Brille wieder auf. Mein Herz setzt aus, denn in diesem Moment rechne ich wohl mit dem Schlimmsten aller schlimmsten Dinge. Dann schüttelt er aber den Kopf. Ein Stein fällt mir vom Herzen.
»Nein«, meint er. »Nicht unbedingt. Er sollte sich einer Operation unterziehen. Sie müssen sich aber der Risiken bewusst werden.«
»Was für eine OP soll das denn genau sein?«, fragt nun Reece und meldet sich so zum ersten Mal, seit wir hier sitzen, zu Wort. Marias und mein Kopf schnellen zu ihm, aber er starrt einfach nur Dr. Shirvington an. Der Mann lächelt und wendet sich jetzt an Reece. »Nun mein Junge, du müsstest dich einer HTX unterziehen. Also einer Herztransplantation. Das bedeutet, dass wir erst einmal ein passendes Spenderorgan für dich aufbringen müssen, um es dann an dich zu empfangen.«
»Und wenn es kein Spenderorgan gibt?«, fragt Maria geschockt. Dr. Shirvington wendet den Blick von Reece ab und schaut seine Mutter an. »So etwas passiert sehr selten, Mrs. Baldon. Sie sollten optimistisch bleiben.«
Maria seufzt.
»Während der OP kann natürlich einiges schiefgehen.«
Ich bemerke aus dem Augenwinkel, dass Reece bei seinen Worten zusammenzuckt.
»Aber mit Risiken und Schwierigkeiten muss man bei fast jeder OP rechnen«, fährt Dr. Shirvington unbeirrt fort. »Er könnte an inneren Blutungen sterben, sein Körper könnte zum Beispiel das fremde Organ abstoßen. Sie sollten alle wissen, dass die OP tödlich enden kann, aber wenn er gar nichts tut, wird er auf jeden Fall, nicht mehr lange zu leben haben, bis seine Gefäße komplett verstopft sind und er vermutlich an einem Herzstillstand sterben wird. Ich kann verstehen, dass Sie Angst haben vor diesem Eingriff, aber ich würde ihn als Spezialist wirklich dazu raten. Somit haben Sie wenigstens eine Chance, zu überleben.«
Marias Schluchzen wird immer lauter, bis sie plötzlich in Tränen ausbricht. Reece sitzt bloß da und starrt vor sich hin, als wäre er kein Mensch mehr, sondern nur noch eine leblose Hülle. Er schaut niemanden und nichts an.
»Mrs. Baldon, ich kann Sie vollkommen verstehen. Das sollten Sie wissen«, flüstert der Doktor, als er zwischen uns dreien hin und her blickt. »Aber weinen bringt in so einem Fall niemandem etwas. Sie müssen stark sein und hoffen.«
»Es geht um mein Baby-«
»Mom«, stöhnt Reece jetzt, aufgewacht aus seiner Starre neben mir. Ich dagegen zucke bei seiner unerwartet lauten Stimme zusammen.
Sie seufzt und wischt sich die Tränen weg, als sie den Arzt diesmal ansieht. »Es geht um meinen Sohn, Doktor, ich habe nur Sorge, dass er... naja, Sie wissen schon.«
»Was meine Mutter meint, ist, dass sie Angst hat, dass ich abkratze und sie-«
»Reece«, mahnt nun Maria und schnappt dabei empört nach Luft. Sie ist kurz davor erneut in einem Tränenbad auszubrechen.
Im nächsten Moment knarzt ein Stuhl über den Boden. Reece steht auf und flucht. »Ich habe keine Lust mehr mir so etwas anzuhören. Das ist ja fast so, als wäre ich auf meiner eigenen Beerdigung dabei.«
»Reece«, ruft sie noch einmal, diesmal weniger mahnend, mehr verzweifelt.
»Scheiß drauf. Ich sterbe doch sowieso irgendwann, Mom. Dann eben früher, als später.« Er öffnet die Tür und lässt uns alleine zurück.
»Hey Reece«, rufe ich und jogge auf ihn zu, um ihn einzuholen. Er hat die Arztpraxis verlassen und läuft gerade Richtung Auto. Maria hat mich gebeten, ihm hinterher zu laufen, da sie behauptet hat, dass er wohl mehr auf mich, als auf sie hören würde und sie sich Sorgen um ihn macht. Auch mich überkommt manchmal die Angst, dass er etwas unüberlegtes tut, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden.
Der Arzt hat nichts zu Reeces Abgang gesagt. Vielleicht hat er damit gerechnet oder er ist solche Reaktionen gewohnt. Es ist Reece immerhin nicht zu verübeln. Ich, an seiner Stelle, hätte vielleicht noch viel extremer in dieser Situation reagiert, denn immerhin geht es hier um sein Leben. Das, was Dr. Shirvington da erzählt hat, ist nichts, was man einfach so verdauen kann.
Er dreht sich zu mir um, die Hände in den Hosentaschen und der Blick eiskalt. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, was eigentlich verdammt süß aussehen würde, würde er nicht gleichzeitig so verloren wirken. Seine roten Wangen, die rote Nase und sein verzweifelter Blick bringen mich fast um. Er rollt mit den Augen, als ich bei ihm angekommen bin und stöhnt: »Was willst du, Emma?«
Ich schnappe kurz nach Luft, woraufhin er anfängt weiter zu laufen. Hastig gehe ich neben ihm her und versuche, die richtigen Worte zu finden. Maria meinte vorhin zu mir nur, dass ich mit ihm reden solle, aber sie hat mir nicht genau gesagt, was ich sagen soll und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was man in solch einem Fall noch sagen kann. Alles schön und gut reden, möchte ich nicht, aber ihm irgendwelche eiskalten und harten Dinge an den Kopf werfen, möchte ich noch viel weniger.
»Lass uns sitzen«, sage ich daraufhin einfach nur und zeige auf eine Bank. Er wirft einen Blick auf die Bank und zuckt bloß mit den Schultern. Ich lächle ihn an. Auch wenn es nicht wirklich einen Grund zum Lächeln gibt, habe ich das Gefühl, dass es die Stimmung wenigstens ein wenig anhebt.
Seine Laune scheint im Moment total im Keller zu sein, wofür ich ihn nicht verurteile, dazu habe ich sowieso überhaupt kein Recht, aber es tut mir weh, ihn so zu sehen. Ich liebe Reece. Nein, es noch weiter darüber hinaus. Ich habe das Gefühl, dass ich fühle, was er fühlt. Und wenn er schlechte Laune hat, geht es mir genauso. Ich bin so traurig in diesem Moment. Am liebsten würde ich irgendetwas sagen, aber ich weiß einfach nicht was. Ich wünschte, die richtigen Worte würden nur so vom Himmel und auf meinem Schoß fallen, damit ich endlich wüsste, wie ich aus diesem Dilemma wieder herausfinden könnte.
Er ist an einem Punkt in seinem Leben angekommen, an dem er sich Fragen stellen muss, für die er eigentlich zu jung sein sollte. Fragen, die nicht für einen neunzehnjährigen Jungen gedacht sein sollten. Fragen, für die er eigentlich noch sehr viel Zeit haben sollte.
Während wir auf die Bank zusteuern, greife ich nach seiner Hand und anders, als ich es erwartet hätte, drückt er sie noch fester. Wir setzen uns hin und für einige Minuten sagt keiner von uns etwas. Meine Hand liegt umschlungen von seiner auf seinem Schoß.
»Du bist sauer, oder?«
Reece schaut mich gar nicht erst an, nickt einfach nur - den Blick auf den Boden vor uns gerichtet. Ich schlucke kurz bevor ich meine nächste Frage stelle. »Auf wen bist du sauer? Auf deine Mutter? Auf mich? Oder vielleicht auf den Doktor?«
Er hebt den Blick und starrt mich an, als könnte er nicht fassen, was ich gerade gesagt habe. »Küken«, flüstert er. »Ich könnte niemals sauer auf dich sein. Warum auch? Du hast nichts getan. Auf meine Mutter bin ich auch nicht sauer, ich kann sie ja verstehen... und auf den Arzt sowieso nicht, ich meine, sie wollen mir ja alle nur helfen. Ihr wollt mir ja nur alle helfen.«
»Auf wen bist du dann sauer?«, flüstere ich, obwohl es keinen Grund gibt zu flüstern, denn wir sind alleine. Reece unterbricht unseren Augenkontakt erneut. Ich sitze da und warte auf seine Antwort, während ich mit meinen Fingern Linien auf seinem Handrücken nachzeichne.
Irgendwann seufzt er laut und flucht. »Scheiße man! Ich bin sauer auf mich, Küken. Nur auf mich und mein beschissenes Herz. Dieses Herz ist ein Fluch.«
»Reece-«
»Nein, Emma«, unterbricht er mich und irgendwie bin ich froh darüber, denn um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, was ich dazu sagen soll, lieber würde ich in Tränen ausbrechen und beten, dass Reece nicht einfach so von uns geht. Aber irgendjemand von uns muss doch optimistisch bleiben.
»Wie fühlt es sich an, wenn du einen Anfall hast?«, frage ich. Ich meine, was soll ich denn auch sagen? Wahrscheinlich wäre alles, was mir jetzt in den Sinn kommt, bloß eine lächerliche Lüge. Und Reece ist kein Kind, das man anlügen sollte, um es zu beruhigen.
Er antwortet nicht direkt und das kann ich verstehen. Für ihn ist das wahrscheinlich keine einfache Frage. Doch irgendwann höre ich ihn seufzen. »Manchmal, wenn ich diese Anfälle habe, da wünsche ich mir, zu sterben. Zuerst, bevor ich den Schmerz eigentlich richtig spüre, sehe ich Maddy und meine Eltern, die panisch herumschreien. Danach ist alles weg. Ich habe diese... ich kann dir diese Schmerzen einfach nicht beschreiben. Es ist so schlimm, dass ich alles um mich herum nicht mehr wahrnehme und einfach nur noch hoffe, dass endlich diese Schmerzen aufhören.«
Während er redet, fange ich an, zu weinen. Ich schaue weg, damit er meine stillen Tränen nicht sehen kann. Du hast keinen Grund zu heulen!, sage ich mir. Einer von uns muss doch stark sein. Aber egal wie sehr ich mir das einrede, es nützt nichts. Seine Worte brennen sich in meinen Kopf. Mein Freund erklärt mir hier gerade, dass seine Schmerzen so schlimm sind, dass er sich sogar lieber wünschen würde, zu sterben.
»Hey«, flüstert er und dreht meinen Kopf zu sich. Seine Augen schimmern in einem dunklen grasgrün, als unsere Blicke sich begegnen und er mein Kinn mit seinen Fingern umfasst. Mit der freien Hand streicht er über mein Gesicht, um die Tränen wegzuwischen, aber es kommen immer wieder neue. »Du sollst doch nicht weinen, Küken.«
»Ich kann nicht stark sein für dich«, schluchze ich und breche erneut in Tränen aus. »Ich wollte es so gerne, Reece, wirklich. Ich wollte stark sein für mich, aber vor allem für dich, und optimistisch bleiben, aber ich kann nicht so tun, als sei ich stark. Ich habe Angst. Ich habe solche Angst.«
»Ich auch, Küken. Ich auch«, flüstert er leise. Er legt die Arme um mich und drückt mich fester an sich. Ich weiß nicht, ob er stumm mit weint, aber wir sitzen lange Zeit einfach nur so auf der Bank. Sagen nichts. Bewegen uns nicht. Selbst nachdem meine lauten Schluchzer verstummen, bleiben wir noch lange so sitzen.
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