28. Die Wahrheit
Ich werde von Ava nach Hause gefahren.
»Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«, fragt sie, als sie in die Einfahrt fährt. Ihr Blick spricht tiefes Mitleid und Bedauern aus. Die großen, blauen Augen sind mit Sorgen gefüllt. »Ich... ich kann mit reinkommen und...«
»Nein«, antworte ich, als ihr die Worte zu fehlen scheinen. »Ich glaube, ich brauche etwas Zeit, um alleine zu sein.«
Ava nickt mir bekräftigend zu. »Das verstehe ich. Emma, du weißt, dass du dich immer bei mir melden kannst, wenn es etwas ist. Ruf einfach an und ich komme.«
Mir fällt es schwer die Tränen herunterzuschlucken, die danach schreien herausgelassen zu werden. Einerseits möchte ich mich auf den Boden werfen und weinen, bis ich meine letzte Träne aufgebraucht habe, aber andererseits weiß ich auch, dass es mich nicht weiterbringen wird.
Ich nicke und drücke Ava zum Abschied ganz fest an mich. »Du bist die beste, Ava. Nein, die allerbeste. Die allerallerbeste.«
Ava lacht und drückt mich genauso fest zurück. »Dafür gibt es doch schließlich Freunde, oder?«
Als ich aus dem Auto steige, scheint alles so wie immer zu sein. Die Gartenzwerge lachen mich an, als sei nichts geschehen. Jacks Auto steht an genau derselben Stelle, an der es immer steht. Selbst die Vögel, die im Garten friedlich vor sich hin zwitschern, scheinen nichts von alledem, das sich in mir widerspiegelt, zu ahnen. Welch Ironie. Dennoch ist mir nicht zum Lachen zumute. Ganz im Gegenteil. Ich muss wissen, was hier los ist. Was soll das Ganze eigentlich? Hätte hier nicht ein Notruf aus dem Krankenhaus eintreffen müssen? Hätte nicht die reinste Panik ausbrechen müssen? Was ist nur los? Sind sie vielleicht alle schon im Krankenhaus?
Mein Blick gleitet über den Zaun. Nein, das kann nicht sein. Madison spielt im Garten mit ein paar Freunden. Jack und Maria würden Madison doch nie im Leben alleine lassen, wenn sie Reece im Krankenhaus besuchen würden, oder?
Ich laufe auf die Haustür zu. Meine Hand zittert, als ich versuche sie aufzuschließen. Immer wieder fällt mir der Schlüssel aus der Hand, bevor ich es endlich schaffe, die Tür zu öffnen.
Im Wohnzimmer lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Der Fernseher läuft. Nachrichten. Es geht um Assad und Putin, wie immer. Mein Blick wandert weiter zu Jack, der auf dem Sofa sitzt und Zeitung liest. Mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich ihn da so ruhig und gelassen sitzen und Zeitung lesen sehe. Warum rennt er nicht aufgelöst im Zimmer herum? Sollte er nicht in Panik ausbrechen, weinen und - ich weiß auch nicht - im Krankenhaus bei seinem leidenden Sohn sein?
Vielleicht ist Maria ja auch alleine ins Krankenhaus gefahren, meldet sich eine Stimme in meinem Kopf. Aber warum sollte sie?
Ich räuspere mich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Vermutlich hat er mich noch nicht bemerkt. Er schaut überrascht zu mir auf. »Oh. Hallo Emma. Wie war die-«
»Hallo«, unterbreche ich ihn, fühle mich aber sofort schlecht deswegen. Ich versuche mir einzureden, dass jetzt nicht der Zeitpunkt dafür ist. Wenn ich das nicht sofort kläre, drohe ich zu platzen. Ich werde mich einfach später bei Jack entschuldigen. »Ähm... Weißt du wo Maria ist?«
»Maria ist in der Küche«, antwortet er. Ich kann ihm die Verwirrung von den Augen ablesen. Aber bevor er noch etwas sagen oder auch fragen kann, laufe ich dankend aus dem Wohnzimmer in Richtung Küche.
So langsam spüre ich die Verzweiflung in mir aufsteigen. Mein ganzer Körper zittert vor Angst. Mich überkommt das Bedürfnis, mich einfach auf den Boden zu legen, zu weinen und mich dabei in den Schlaf zu wiegen, bis ich aus diesem Albtraum erwache.
Ich bleibe am Türrahmen stehen, beobachte sie ungläubig. Maria steht vor dem Herd, tanzt und kocht summend vor sich hin. Sie schwenkt den Kochlöffel zur Musik, die aus dem Radio dröhnt.
»Maria?« Ich starre sie an.
Sie dreht sich hastig um und als sie mich erkennt, bildet sich ein Lächeln in ihrem Gesicht. »Oh hallo. Wie geht es dir, meine Süße?«
Hä?
»Äh, gut, schätze ich?«
Sie lächelnd, doch dann runzelt sie die Stirn, hebt den Kopf und schaut verwirrt hinter mich. »Sag mal, wo ist denn Reece?«
»Reece? Er... Er ist...«, stottere ich und spüre, wie meine Lippen anfangen zu beben. Was ist hier los? Was wird hier verdammt noch einmal gespielt? So langsam scheine ich wirklich durchzudrehen. Aber Maria sieht nicht so aus, als würde sie mir irgendetwas vorspielen. Habe ich mir Reeces Zusammenbruch heute in der Schule bloß eingebildet? Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Wieso bin ich dann mit Ava nach Hause gefahren? Und wo ist Reece jetzt?
»Liebling? Du siehst so blass aus. Alles in Ordnung?«, fragt sie mich und will gerade auf mich zukommen, da spüre ich eine Hand, die sich auf meine Schulter legt. Ich zucke erschrocken zusammen. Maria strahlt bis über beide Ohren. »Reece, kümmere dich bitte um Emma, bis ich das Essen mache. Sie sieht aus, als würde sie gleich umfallen.«
Reece? Hat sie gerade Reece gesagt? Ich schaue nach oben und tatsächlich. Oh mein Gott. Reece steht da lebendig und kerngesund vor mir.
Ich habe das Gefühl, nicht mal mehr auf meinen eigenen Beinen stehen zu können. Sie fühlen sich so weich an, wie Wackelpudding. Mir wird schwindelig und ich taumele, woraufhin mich zwei Arme festhalten und aus der Küche ziehen. Alles um mich herum dreht sich. Ein dumpfer Schmerz macht sich in meinem Kopf bemerkbar. Es tut höllisch weh und bringt mich beinahe um den Verstand. Drehe ich gerade komplett durch? Werde ich irre? Habe ich das Ganze vielleicht nur geträumt? Träume ich immer noch? Vielleicht sitze ich ja immer noch im Matheunterricht bei Mr. Casey. Vielleicht versucht er mich gerade aufzuwecken. Oh Mr. Casey bitte... bitte wecken Sie mich aus dieser Hölle auf.
Ich brauche einige Minuten, um mich zu sammeln. Wenn Maria ihn nicht gerade so deutlich gesehen hätte, würde ich vermutlich denken, einen Geist vor mir stehen zu sehen und verrückt zu werden. Ich kann einfach nicht glauben, was hier passiert, was hier gespielt wird. Drehe ich durch? Oder bin ich doch noch bei vollem Bewusstsein? Ist vielleicht Reece derjenige der durchdreht?
»Reece?«, zische ich irgendwann, als er am Treppengeländer lehnt und sich irgendeinen Brief, den er in den Händen hält, durchliest. Als sich unsere Blicke treffen, blitzt etwas in seinen Augen auf. Er faltet den Brief zusammen und steckt ihn sich in seine Hosentasche. »Was tust du hier? Müsstest du nicht im Krankenhaus sein?«
»Pscht«, macht er und legt seinen Finger auf meine Lippen, dabei sieht er sich leicht panisch um. Wir sitzen alleine im Flur auf der untersten Treppenstufe. Ich starre ihn verwirrt und ungläubig zugleich an. Als ich diesmal rede, flüstere ich, klinge aber immer noch aufgebracht: »Du erklärst mir auf der Stelle, was du für ein mieses Spielchen mit mir spielst, Reece, ansonsten schreie ich. Ich gehe zu deinen Eltern und erzähle ihnen alles. Von deinen Anfällen, von allem.«
»Hey«, meint plötzlich eine Stimme. Reece und ich zucken zusammen und schauen auf. Jack steht lächelnd vor uns. »Alles okay bei euch beiden?«
»Ja Dad«, meint Reece und stupst mich leicht in die Seite, woraufhin ich zusammenzucke, doch dann lächle ich Mr. Baldon an und nicke. »Alles superduperspitzenklasse.«
Jack hebt verblüfft, über meine seltsame Aneinanderreihung an Wörtern, die Augenbrauen, doch dann schüttelt er lachend den Kopf. »Na dann, ich will euch mal nicht stören.«
Und mit diesen Worten verschwindet er wieder.
Ich schaue Reece mit leicht zusammen gekniffenen Augen an. »Du hast mir so einiges zu erklären, du... du... Oh Gott, siehst du, wie du mich zur Verzweiflung treibst? Mir fällt nicht mal mehr ein passendes Wort für dich ein.«
Mir fällt gar nichts mehr ein. Nichts zu sagen, nichts hinzuzufügen. Mein Kopf ist leer.
Er lacht leise und zieht mich dann mit sich nach oben, als er aufsteht. »Komm, lass uns oben reden.«
Reece sitzt auf seinem Bett, ich auf dem Stuhl. Ich könnte mich natürlich auch neben ihn setzen, aber dazu bin ich nicht bereit. Ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird. Was er mir all die Monate über verheimlicht hat. Noch nie in meinem Leben habe ich so sehr an meinem Verstand gezweifelt, wie in diesem Moment. Was heute Morgen passiert ist, das wirkte einfach so real. Das kann ich mir doch nicht eingebildet haben. Oder etwa doch?
»Du warst im Krankenhaus«, beginne ich das Gespräch ungeduldig und tippe wütend mit meinen Fingern auf dem Tisch herum. Natürlich muss ich wieder das Gespräch suchen, denn wenn ich nicht gleich eine Erklärung für all das hier bekomme, explodiere ich. Etwas unsicher füge ich hinzu: »Warst du doch, oder?«
Er rollt mit den Augen. »Ja, das war ich.«
So lange habe ich weggeschaut. Ich habe Reeces Bitte, mich nicht einzumischen respektiert, aber so kann es doch nicht mehr weitergehen. Ich bin nicht mehr einfach nur seine Gastschwester, ich bin seine Freundin und ich habe das Recht zu erfahren, was hier los ist. Doch Reece redet nicht weiter. Ich warte und warte, aber es kommt nichts.
»Und dann? Was ist dann passiert?«, frage ich schließlich, als ich es nicht mehr aushalte.
Reece seufzt. »Nur ein paar Untersuchungen, Fragen und Tests, Emma, nichts Besonderes.«
»Nicht besonderes?«, frage ich, hebe dabei wütend die Stimme. »Willst du mich eigentlich verarschen? Nichts Besonderes? Haha, dass ich nicht lache! Reece du hast mich zu Tode erschreckt. Meine... meine Gedanken waren den ganzen Tag bei dir. Scheiße, ich dachte du kratzt ab und ich würde dich nie wieder sehen! Und dir fällt nichts Besseres ein, als zu sagen, dass es nichts Besonderes war?«
»Emma-«
»Nein«, unterbreche ich ihn und lache dabei wie eine Verrückte. Langsam aber sicher fühle ich mich auch so. Ich bin kurz davor, mir die Haare allesamt herauszureißen. Reece treibt mich in den schieren Wahnsinn. Er bringt mich dazu, an meiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. »Ich fasse es nicht, Reece. Ich fasse nicht, was du für ein Spiel mit mir spielst. Und deine Eltern? Weißt du, was du deinen Eltern da verheimlichst?«
»Lass meine Eltern aus dem Spiel, Em«, zischt er leise. Jetzt steht er auf und wirkt wütend, aber ich lasse mich nicht mehr so leicht von ihm einschüchtern und stehe ebenfalls auf. Noch einmal werde ich nicht klein beigeben, darauf kann er wetten. »Reece, du verstehst es nicht oder? Erinnerst du dich daran, was heute Morgen eigentlich passiert ist? Du hast mir gesagt, dass du nicht sterben willst. Genau das hast du gesagt und ich glaube nicht, dass du das einfach so vor dich hin gebrabbelt hast, weil du solche Schmerzen hattest. Was stimmt nicht mit dir? Man redet doch nicht einfach so vom Tod, Reece, das ist eine ernste Angelegenheit.«
»Mit mir stimmt alles«, schnaubt er. Mehr sagt er nicht. Das glaubt er doch wohl selber nicht. Ich gehe auf ihn zu, baue mich vor ihm auf. Immerhin bin ich jetzt, wo er sitzt und ich stehe, größer. Ich muss irgendwas aus ihm herausprügeln, dabei weiß ich jetzt schon, dass er nie im Leben freiwillig reden wird.
»Wie bist du einfach so aus dem Krankenhaus herausgekommen?«, frage ich ihn stirnrunzelnd. Ich versuche immer noch die kleinen Puzzleteile zusammenzufügen, die hoffentlich endlich ein ganzes Bild ergeben, aber ich werde einfach nicht schlauer.
»Naja«, meint Reece und ich kann diesen höhnischen Unterton in seiner Stimme nicht überhören. »Ich bin aufgestanden, habe irgendwelche Formulare unterschrieben und bin rausgegangen.«
»Du kannst nicht einfach so ein Krankenhaus verlassen, Reece! Und warum haben sie deine Eltern nicht angerufen?«
»Ich bin neunzehn«, meint er und verdreht die Augen. »Ich habe meinem Arzt versichert, dass ich keine weiteren Beschwerden habe und bin gegangen. Emma, ich schwebe nicht in Lebensgefahr und solange das nicht der Fall ist, dürfen sie mich nicht gegen meinen Willen festhalten.«
»Du spinn-«
»Emma, Reece! Essen ist fertig«, ruft Maria uns von unten. Reece schaut mich an, der wütende Glanz in seinen Augen ist verschwunden und macht Platz für Reue.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragt er, als er sich ein letztes Mal zu mir umdreht. Er presst die Lippen aufeinander, doch ich schüttele bloß den Kopf. Mir ist der Hunger deutlich vergangen. Eigentlich schon seit heute Morgen, als sie Reece mitgenommen haben.
Ich starre ihm so lange hinterher, bis er aus der Bildfläche verschwunden ist, dann drehe ich mich wieder um und bin kurz davor erneut in Tränen auszubrechen. Doch dann springt mir etwas ins Auge. Etwas liegt dort. Genau dort, wo Reece gerade noch gesessen hat. Ich krabbele auf allen Vieren zu seinem Bett und greife nach dem Zettel, den er vergessen zu haben scheint.
Ich werfe einen Blick flüchtigen Blick über die Schulter, bevor ich den Brief in meinen zitternden Händen auffalte. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zucke ich zusammen. Meine Nervosität ist greifbarer, als je zuvor. Ich zittere am ganzen Körper, atme schwer, während ich den Brief in den Händen halte. Soll ich ihn wirklich lesen? Wenn ich ihn jetzt lese, gibt es kein Zurück mehr. Was soll ich tun, wenn ich endlich die Wahrheit kenne? Reece damit konfrontieren? Seinen Eltern Bescheid geben? Ich schiebe diese Gedanken beiseite, lege den Zettel aufs Bett und glätte ihn mit meinen Händen, dann presse ich meine bebenden Lippen aufeinander und beginne zu lesen. Der Brief ist vom Mayo Clinic Hospital. Ich fange an, den Text darunter zu lesen.
Sehr geehrter Herr Baldon,
unsere Untersuchungen haben ergeben, dass sich Ihre Krankheit KHK über die Jahre verschlechtert hat. Die Krankheit befindet sich inzwischen in einem fortgeschrittenen Stadium, welches Risiken mit sich trägt. In den folgenden Tagen sollten Sie sich bei ihrem Kardiologen melden und einen Termin vereinbaren. Informieren Sie sich über eine mögliche Operation und ihre Risiken.
Überanstrengende Tätigkeiten sind Ihnen hiermit untersagt. Vermeiden Sie anstrengende, sportliche Aktivitäten.
Ihr Ärzteteam.
Mir wird auf einmal ganz schwindelig. Ich halte mich am Bett fest und schaue mich nach Reeces Laptop um. Immer wieder die Worte fortgeschrittenes Stadium, Operation oder auch Risiken in meinem Kopf. Langsam ziehe ich mich vom Boden hoch und stelle mich auf die Füße, stecke den Brief in meine Hosentasche und taste mich langsam zu seinem Schreibtisch vor. Ich habe das Gefühl, jemand hätte mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Mit jedem Schritt, dem ich mich dem Schreibtisch und dem Laptop nähere, schmerzt mein Körper mehr und mehr.
KHK.
Er hat KHK.
Was ist KHK?
Ich muss unbedingt Google fragen, sonst drehe ich noch durch. Also fahre ich den Rechner hoch und setze mich hin. Ich werfe sicherheitshalber einen Blick über die Schulter. Reece ist noch unten und sitzt mit Madison und seinen Eltern am Tisch. Er schöpft keinen Verdacht. Wahrscheinlich hat er den fehlenden Brief noch nicht bemerkt. Ich beeile mich und gebe schnell die drei Buchstaben in die Suchbegriff-Leiste ein. KHK. Unendlich viele Ergebnisse tauchen auf, nach Google sind es 10.900.000 Ergebnisse, um genau zu sein. Das erste Wort, das mir ins Auge springt, ist Herzkrankheit. Ich wusste es. Ich hätte es wissen müssen. Diese ganzen Anzeichen, die Symptome und Beschwerden. Ich hätte es verdammt noch einmal wissen müssen.
Mit der Maus klicke ich auf das erstbeste Ergebnis, das mir ins Auge fällt und fange an, stumm vor mich hin zu lesen. Das einzige Geräusch, neben dem leisen Rauschen des Laptops, ist mein klopfendes Herz. Nein, nicht klopfend, sondern hämmernd.
Ich fange an den Artikel unter der Frage Was ist eine koronare Herzkrankheit (KHK)? zu lesen.
Die koronare Herzkrankheit (kurz KHK) ist eine Erkrankung des Herzens, die durch Engstellen oder Verschlüsse in den Herzkranzgefäßen (Koronararterien) verursacht wird. Die Herzkranzgefäße sind die Blutgefäße, die das Herz mit sauerstoffreichem Blut und Energie liefernden Nährstoffen versorgen.
Ich klicke mich weiter durchs Internet und lese mit offenem Mund einen Artikel nach dem anderen. Meine Augen überfliegen die Zeilen und saugen die Wörter förmlich auf. Die Maus fliegt über die Seiten, klickt mal da, mal dort hin.
Er ist also herzkrank. Natürlich ist er herzkrank. Das war einfach so glasklar. Jetzt, wo ich es schwarz auf weiß habe, wird mir so einiges bewusst. Seine Beschwerden, seine Anfälle, alles ergibt mit einem Mal Sinn.
Wie äußert sich eine koronare Herzkrankheit? lese ich und klicke ohne einen zweiten Gedanken zu verschwenden auf den Artikel.
Im Frühstadium der koronaren Herzkrankheit kommt es trotz Missverhältnis zwischen Sauerstoffbedarf und -angebot noch zu keinen klinischen Symptomen.
Sind die Gefäße bereits stark verengt, können bohrende, brennende Schmerzen um den Brustkorb auftreten. Die Schmerzen können auch in den Nacken, Hals, in das Kiefer, die Arme oder den Oberbauch ausstrahlen. Die Beschwerden treten typischerweise nach körperlicher oder psychischer Belastung, bei Kälte oder nach üppigem Essen auf. In diesem Fall muss sofort ein Notarzt gerufen werden!
Schließlich entscheide ich, einen letzten Artikel zu lesen, der mir ins Auge fällt. Ich bereue es jetzt schon, das alles gelesen zu haben, verdammt, ich bereue es, diesen bescheuerten Brief gelesen zu haben. Wäre ich nicht so neugierig gewesen, dann müsste ich mich jetzt nicht durch Selbsthass und Schuld quälen.
Aus irgendeinem Grund hat Reece diese Krankheit vor mir und vielleicht sogar seinen Eltern und seiner Schwester verheimlicht. Der Grund dafür will jedoch einfach nicht in meinen Kopf.
Ich entscheide mich, auf den Link zu klicken, auch wenn meine Hände zittern. Madisons Stimme dringt von unten zu mir herauf, sie lacht über irgendetwas und mein Herz zieht sich nur noch mehr zusammen, doch ich versuche ihre Stimmen auszublenden und mich auf den Artikel vor mir zu konzentrieren. Was sind die Folgen der koronaren Herzkrankheit und Arteriosklerose im Allgemeinen?
Verengte Blutgefäße können durch ein Blutgerinnsel, das durch das Ablösen eines Plaques entstanden ist, verschlossen werden. Geschieht dies in einem Koronargefäß, wird der Herzmuskel nicht mehr mit Blut, Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Die Herzzellen erleiden einen dauerhaften Schaden und sterben ab - ein Herzinfarkt (Myokardinfarkt) ist die Folge. Geschieht dieser Verschluss in einem das Gehirn versorgenden Blutgefäß, kann dadurch ein Schlaganfall (Apoplexie) ausgelöst werden. Arteriosklerose kann jedoch nicht nur zu Herzinfarkt und Schlaganfall führen, sondern auch in anderen Arterien im menschlichen Körper Folgen haben. Sie kann:
– eine Erweiterung der Aorta, der vom Herzen weg führenden Hauptschlagader, verursachen (Aneurysma).
– zu einer Verengung oder sogar einem völligen Verschluss der Beinarterien führen (Beinthrombose). Dadurch resultieren wiederholt starke Schmerzen beim Gehen oder sogar Wundbrand.
– durch eine Verstopfung der großen Lungenarterie eine Lungenembolie auslösen, die zu Atemnot, Erstickungsangst und Krämpfen oder zum Tod führen kann.
Tod. Ich denke an heute. Tod. An seinen Anfall. Tod. Daran wie er vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden gelegen und gesagt hat, dass er nicht sterben möchte. Tod. Das Wort meißelt sich in mein Gehirn, ist in meinem Gedächtnis tätowiert, für immer eingraviert, wie ein Name in einem Grabstein. Tod. Er wusste es. Er wusste es die ganze Zeit. Meine Sicht wird unklar. Eine Tränendecke legt sich um meine Augen und nimmt mir die Sicht. Ein Schluchzer schüttelt mich, dann noch einer, bis ich vollkommen in Tränen ausbreche. Ich falle vom Stuhl, liege ganz plötzlich auf dem Boden und weine lange Zeit einfach nur still vor mich hin.
Irgendwann stehe ich vom Boden auf. Als mein Blick wieder auf den Brief fällt, ändert sich etwas. Meine Trauer wird von blanker Wut überschattet. Ich packe starr vor Zorn nach dem Brief, den ich vorhin auf den Schreibtisch gelegt habe und renne aus dem Zimmer. Noch nie habe ich mich so mies gefühlt, wie in diesem Moment. Noch nie habe ich mich so hintergangen gefühlt.
Tod.
Immer wieder dieses eine Wort in meinem Kopf. Ich renne die Treppen hinunter und gehe in Richtung Küche, dabei stopfe ich den Brief in meine hintere Hosentasche. Tränen überströmen mein Gesicht, als ich durch den Flur laufe und dann Reece vor mir stehen sehe. Er scheint gerade erst, aus der Küche zu kommen.
»Hey Em-«
Bevor er zu Ende sprechen kann, stemme ich meine Hände gegen seine Brust und stoße ihn weg. Warum genau ich das tue, weiß ich nicht, aber es hilft mir, meiner Wut Luft zu machen. Er taumelt nach hinten, scheint nicht damit gerechnet zu haben. Ich blinzle die Tränen weg, starre ihn wutentbrannt an. Seine Miene bleibt verwirrt. Madison, Maria und Jack dagegen starren mich entsetzt an, als ich Reece in die Küche stoße. Sie stehen hinter ihm. Maria und Jack bewegen sich keinen Millimeter, während Madison mich mit offenem Mund anstarrt.
Maria ist die Erste, die aus ihrer Starre erwacht und verwirrt zwischen mir und Reece hin und her blinzelt.
»Was ist denn hier los?«, fragt sie, nachdem sie zu ihrem Sohn rennt und entsetzt nach Luft schnappt. Sie dreht sich zu Madison um und ruft: »Madison, geh zu Mackenzie. Du wolltest doch noch nach dem Abendessen zu ihr.«
Madison steht zwar auf, sieht aber so aus, als würde sie protestieren wollen. »Aber-«
»Jetzt sofort«, befiehlt Maria. Madison nickt und rennt an uns allen vorbei, wirkt dabei aber unendlich traurig.
Maria dreht sich wutentbrannt zu mir und starrt mich entsetzt an. »Ich dulde keine Gewalt in meinem Haus und erst recht keine gegen meinen eigenen Sohn. Was soll das, Emma?«
»Wusstet ihr es? Wusstet ihr Bescheid?«, brülle ich unter Tränen. Mein Blick gleitet von Maria, zu Jack und schließlich zu Reece. Die drei sehen sichtlich verwirrt aus. »Ich meine, dass er diese Krankheit hat.«
Ihre Mienen scheinen sich mit einem Mal zu erhellen. Maria schaut schuldbewusst auf den Boden und Jack senkt bloß die Augenlider. Aber Reece - ja Reece - fallen beinahe die Augen aus, als ich ihn mit hochgezogenen Brauen mustere. Er starrt mich mit offenem Mund an. »Woher weißt du davon?«
Ich lache bitter auf und hole den Zettel aus meiner Hosentasche heraus, falte ihn aus und halte ihn ihm vors Gesicht, damit er auch schön jedes einzelne Wort lesen kann. Mit verstellt bemitleidender Stimme sage ich: »Der ist dir wohl aus deiner Hosentasche gefallen. Tja, was für ein Pech aber auch.«
»Moment mal«, meint Maria, während Reece noch komplett erstarrt und entsetzt vor mir steht. Reeces Gesicht wird ganz bleich, als seine Mutter die Hand nach dem Brief ausstreckt. »Was ist das?«
Sie nimmt ihn mir aus der Hand und fängt an, zu lesen. Ich beobachte Reece, dem die Panik wortwörtlich ins Gesicht geschrieben ist. Davon wusste sie also wirklich nichts? Hatte Reece überhaupt vor, es ihr zu erzählen? Ich glaube nicht. Naja, dann kann sie ihn sich ja jetzt schön in Ruhe durchlesen und sehen, was ihr lieber Sohn ihr all die Zeit verheimlicht hat. Irgendwann wacht er aus seiner Starre auf und versucht seiner Mutter den Brief aus der Hand zu reißen. »Mom, nein! Das ist nichts! Wirklich-«
»Sei leise, Reece«, mahnt sie ihren Sohn und wendet sich mit dem Brief von Reece , zu Jack. Reece wirft mir einen zornigen Blick zu, den ich nur erwidere.
Ihre Augen gleiten über die Zeilen, nehmen die Wörter auf und ich sehe wie sie langsam die Farbe im Gesicht verliert. »Schau dir das an Jack. Oh... Oh mein Gott, Jack, lies es dir durch!«
Sie fängt an, panisch nach Luft zu schnappen und Tränen füllen ihre großen, braunen Augen. Während Jack den Brief noch überfliegt, dreht sie sich um und starrt ihren Sohn fassungslos an. Ihr Gesicht offenbart ihre Emotionen, spiegelt jedes einzelne Gefühl in diesem Moment wieder. Schmerz, Kummer, Enttäuschung und Wut.
Reece starrt auf den Boden, kann ihr nicht einmal ins Gesicht schauen und ich kann verstehen wieso. Der Schmerz und die Enttäuschung in Marias Blick ist wohl das Schlimmste an allem. Er kaut auf seiner Lippe herum und vermeidet jeglichen Augenkontakt. Ich stehe bloß dumm da und beobachte das Geschehen.
»Reece«, flüstert sie mit ruhiger, aber unendlicher trauriger Stimme. »Sieh mich an. Bitte.«
Er schaut auf und sieht seine Mutter an.
Mein Blick fällt auf Jack, der weiter hinten steht und die Hand mit dem Brief sinken lässt. Er starrt mit purem Entsetzen in den Augen zu Reece.
»Wann hattest du vor, uns davon zu erzählen?«, fragt sie mit nun bebender Stimme. Reece senkt wieder den Blick und schüttelt den Kopf. Sie geht einen Schritt auf ihren Sohn zu. »Niemals oder? Du hattest nie vor, uns davon zu erzählen. Wolltest du so tun, als sei alles in Ordnung? Was dachtest du? Dass das gut laufen würde?«
»Reece«, meldet sich nun auch Jack. »Das geht so nicht weiter. Du kannst nicht immer so tun, als hättest du alles im Griff. Du musst mit uns reden. Niemand wird dich für schwach oder einen Versager halten, wenn du einmal zugibst, Schmerzen zu haben. Ich weiß genau, dass du es hasst, andere Leute um Hilfe zu bitten oder zuzugeben, dass es dir nicht gutgeht, aber das hat nichts mit Schwäche zu tun. Du kannst dir vorstellen, dass meine Mutter und ich ziemlich enttäuscht sind oder?«
Seit meiner Ankunft habe ich Jack noch nie so viel auf einmal reden hören. Er geht auf seine Frau zu und nimmt sie in den Arm.
»Seit wann hast du diese Schmerzen?«
»Schon länger«, murmelt er bloß.
»Seit wann?«, fragt Maria noch einmal, lauter. Ich hätte nie gedacht, dass Maria auch eine andere Seite, als die kleine, süße und temperamentvolle Latina, hat.
Reece seufzt und schaut seine Mutter wütend an. Mit einem Mal scheint ihn die Wut zu packen. »Seit etwa über einem Jahr, okay? Bist du jetzt zufrieden, ja?«
Dann sieht er mich an. »Und du - du hast alles zerstört. Alles! Warum konntest du dich nicht einfach um deine eigenen Angelegenheiten kümmern, Emma? Warum musstest du nur so neugierig sein?«
Seine Lippen beben, als er spricht; die Augen sind feucht, so als würde er seine Tränen zurückhalten. Er dreht sich um und geht aus dem Haus, nicht ohne die Haustür hinter sich fest zuzuknallen. Im nächsten Moment hören wir den Motor aufspringen und ihn wegfahren.
»Oh mein Gott«, ruft Maria entsetzt. Sie verliert den Halt und fällt in Jacks Arme. Ihr Schluchzen ist der einzige Laut, der den Raum erfüllt. Es sind herzzerreißende Geräusche. Jack hilft ihr, damit sie sich auf einen Stuhl setzen kann. Immer wieder murmelt sie: »Ich fasse es nicht. Ich fasse es einfach nicht.«
»Ähm«, ich räuspere mich. Im nächsten Moment sind alle Blicke auf mich gerichtet. Eigentlich wollte ich etwas sagen, doch erst jetzt fällt mir auf, wie unhöflich ich gerade wirken muss. Also schüttele ich bloß den Kopf und murmele ein: »Egal.«
»Sag schon, was dir auf dem Herzen liegt«, seufzt Maria. »Dich muss es wohl am meisten von uns allen schockieren. Ich habe Reece von Anfang an gesagt, dass er dir die Wahrheit sagen soll, aber weißt du, nur wir und Maddy wissen davon. Er möchte es niemandem sagen.«
»Warum denn nicht?«, frage ich verwirrt.
»Weißt du, vor Jahren war alles noch in Ordnung. Klar, wenn er mal zu viel gerannt ist, hatte er Schmerzen, aber wir dachten das sei normal. Es war auch nichts schlimmes. Aber eines Tages ist er mit Madison auf dem Jahrmarkt gewesen und hat, wie aus dem Nichts, einen Anfall bekommen. Er hat geschrien und geweint, bis er bewusstlos geworden ist und der Krankenwagen kam. Maddy hat es wohl nie verkraftet, ihren Bruder so zu sehen. Ab da an fing er an, sich zu verändern.«
Ich setze mich neben sie. »Wie meinst du das?«
Maria sieht Jack kurz an, dieser nickt und verschwindet im nächsten Moment aus der Küche. Eine Träne kullert über ihre Wange, als sie ihre Hand auf meine legt. »Der Arzt hat uns gesagt, dass Reece eine koronare Herzkrankheit hat. Aber er hatte Glück, Emma, er war in keinem fortgeschrittenen Stadium. Er hatte zu der Zeit einfach zu viel Stress, hat sich überanstrengt, kaum geschlafen, deshalb kam es zu diesem Zusammenbruch, aber er war nicht ernsthaft in Lebensgefahr. Ich habe versucht, Reece alles zu erleichtern, damit es nicht noch einmal zu so einem Anfall kommen kann. Der Arzt meinte, es sei alles okay mit ihm, bei solch einem Stadium der Krankheit gab es kaum Probleme oder Risiken.«
Sie schluckt kurz und presst die Lippen aufeinander, bevor sie weiterspricht. »Ich glaube Reece hat an einem Punkt gespürt, dass er schwächer wird und hat geglaubt, dass er irgendwann sterben muss. Vielleicht hat er deshalb angefangen hier tagtäglich Mädchen einzuladen und anderen Mist zu bauen. Ich habe nichts dagegen gesagt, ich meine, er ist mein Kind, mein Baby. Wenn ich ihn sehe, sehe ich immer noch dieses schreiende, kleine Wesen, das sie mir nach seiner Geburt in die Arme gedrückt haben. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich konnte nicht mehr aufhören ihn anzusehen, mit seinen kleinen Fingern zu spielen und ihn in den Armen zu halten. Gott, ich war so glücklich.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Doch bevor ich mir irgendeine Antwort überlegen kann, redet sie weiter. »Gott - er kann das doch nicht machen oder? Mir einfach mein Kind wegnehmen. Maddy und Reece sind neben Jack das Wichtigste in meinem Leben. Wenn er mir Reece wegnimmt, nimmt er mir ein Teil von meinem Leben weg. Ein Teil von mir.«
Sie schaut auf und sieht mich an. Dann nimmt sie mich heulend in die Arme. »Danke Emma. Du hast meinem Sohn vermutlich das Leben gerettet.«
»Moment, wieso das denn?«, frage ich verwirrt. »Ich habe gar nichts getan.«
»Hättest du uns nie von diesem Brief erzählt, dann hätte Reece weiterhin so getan, als würde es ihm gut gehen. Ich glaube... ich schätze, er wäre irgendwann still und leise von uns gegangen. Eines Nachts nicht mehr aufgewacht oder so«, flüstert sie. »Ich muss unbedingt einen Arzt anrufen gehen und einen Termin vereinbaren. Egal ob Reece will oder nicht, er muss sich wenigstens über eine Operation informieren lassen und wenn ich ihn zum Arzt mitschleifen muss.«
»Warum vertraut er sich denn niemandem an?«
Maria rollt die Augen. »Er will einfach keinem zeigen, dass er Schmerzen hat, weil er denkt, dass es automatisch heißt, dass er schwach wäre. Männer und ihr Ego, das kennst du doch bestimmt. Und vor allem bei Reece. Sein Ego ist größer als... als...«
»Größer als Kim Kardashians Hinterteil?«, helfe ich ihr nach und erinnere mich an unser damaliges Gespräch auf dem Dach. Anfangs wollte er nicht aufs Dach klettern und ich habe gedacht, er hätte Höhenangst. War es am Ende keine Höhenangst? Wusste er, dass es ihm zu viele Schmerzen bereiten würde, da rauf zu klettern? Ich schlage mich innerlich. Und ich habe ihn auch noch dazu provoziert, weil ich ihn ärgern wollte. Wenn ich damals gewusst hätte, dass es daran liegt, dass er Schmerzen empfindet, hätte ich es nie getan.
»Emma?«, fragt Maria und sieht mich traurig an. »Meinst du, dass eure Beziehung darunter leiden wird? Du wirst doch nicht Schluss mit ihm machen? Er hat sich ein bisschen verändert, seit du hier bist. Zwar ist er immer noch so verschlossen, aber ich weiß nicht... seine ganze Aura wirkt viel lebensfroher inzwischen.«
Ich lege meine Hand auf ihre und lächle. »Ich liebe ihn. Nur weil er mir etwas verheimlicht hat, verschwindet meine Liebe nicht einfach so. Aber er kann sich auf was gefasst machen, wenn ich ihn finde.«
»Apropos finden«, meint sie und schaut sich um. »Weißt du wo Reece ist? Oh Gott, nicht dass er sich etwas antut.«
»Das glaube ich nicht«, antworte ich und erinnere mich an Reece Worte, als er damals sagte Ich will leben. Endlich verstehe ich, was er damit gemeint hat. Seine Worte von heute Morgen fallen mir auch wieder ein. Ich will nicht sterben. Reece will leben, er würde sein Leben nicht einfach so wegwerfen. Und ich glaube auch, dass ich weiß, wo ich ihn finden könnte.
Der Strand ist um diese Zeit ziemlich leer.
»Ich hole ihn zurück«, sage ich, stehe auf und hole mein Handy heraus um Avas Nummer zu wählen. »Das verspreche ich.«
»Schau dir diesen Ausblick einmal an, Küken.«
Ich schaue auf und begegne Reeces Blick, der genau vor mir steht. Er zeigt auf das Meer, auf die untergehende Sonne. Das weiß ich auch ohne, dass ich den Kopf in die Richtung wende. Denn genau das kann ich nicht. Den Blick von Reece abwenden, meine ich. Er ist so schön. Und damit meine ich nicht nur seine äußerliche Anziehungskraft. Nein, so oberflächlich ist das nicht gemeint. Seine Schönheit geht so viel tiefer. Damit meine ich alles an ihm. Alles, in das ich mich unsterblich verliebt habe. Seine Ausstrahlung, seine Art, sein gesamtes Auftreten. Er ist wie ein leuchtender, energiegeladener Ball. Wenn er strahlt, habe ich das Gefühl, die gesamte Menschheit strahlt mit ihm um die Wette.
Ihm hängen ein paar zu lange Strähnen im Gesicht, während er den Blick nicht von der Sonne wenden kann. Ich möchte nicht in die Richtung schauen, ich möchte ihn ansehen; ich möchte ihm die Strähnen aus dem Gesicht streichen. Möchte mir jedes noch so kleine Detail an ihm einprägen und für immer im Gedächtnis behalten, in eine Ecke meines Unterbewusstseins eingravieren.
Zum Beispiel die kleine Narbe über seiner Augenbraue, die man nur bemerkt, wenn man ganz genau hinschaut. Oder die Bartstoppeln, die ihn so viel attraktiver und reifer wirken lassen, als er es ohnehin schon ist. Mein Blick wandert weiter über sein Gesicht, als ich lächelnd den Kopf schieflege.
Er hat ein Muttermal im Gesicht, direkt auf der rechten Wange, das kaum auffällt, außer bei näherer und längerer Betrachtung.
Das wohl schönste an ihm, sind seine Grübchen, wenn er lacht. Sie wirken irgendwie so fehl am Platz. Grübchen in einem so männlichen Gesicht wirken fast schon grotesk. Aber vermutlich ist es das, was dieses Merkmal so faszinierend macht. Es erweckt in mir den Wunsch, die Hand auszustrecken und über sein Gesicht streichen zu wollen, seine Grübchen zu küssen und ihn den ganzen Tag zum Lachen zu bringen, damit ich sie stundenlang betrachten kann und ihn damit aufziehen kann, wie süß er aussieht. Er mag es nicht, wenn man ihn süß nennt.
Ob er wohl bemerkt, dass ich ihn anstarre? Ob er wohl spürt, dass er meine Sonne ist?
Warme Strahlen fallen auf sein Gesicht, als er es der Sonne entgegenstreckt. Er kneift leicht die Augen zusammen, bevor er schließlich seine Sonnenbrille aufsetzt. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich sage: »Eine Sonnenbrille im späten Herbst, weißt du eigentlich wie uncool das ist?«
Reece schiebt die Sonnenbrille nach oben, schaut mich an und hebt eine Braue. »Hm, weißt du, Em, du musst noch so einiges lernen. Alles was ich tue, ist automatisch cool.«
Er ist heute mit mir an den Strand gefahren und meinte, dass das ab jetzt wohl unser Platz sei. Vorher habe ich nie darüber nachgedacht, doch als er mir diese Worte ins Ohr geflüstert hat, habe ich nachgedacht und musste ihm recht geben. Es ist der Ort, an dem wir uns das erste Mal in nüchternem Zustand geküsst haben. Das ist der Ort, an dem wir zusammengekommen sind. Für einige mag das ein dummer Strand sein. Ein Strand wie jeder andere, an dem man sich sonnen kann, an dem man mit seinem Hund Gassi gehen kann oder an dem man auch joggen geht, aber für uns ist dieser Ort so viel mehr. Er hat etwas Zauberhaftes an sich, etwas Magisches, dass nur uns beide verbindet. Dass uns zusammenschweißt und uns zusammenhält. An diesen Ort werde ich mich wohl ein Leben lang erinnern.
Als wir angekommen sind, war ich so unendlich glücklich. Wie eine Verrückte bin ich auf und abgesprungen.
Ich liebe den Strand und das scheint er zu spüren. Vielleicht liebt er ihn ja auch genauso sehr wie ich? Ich habe ihn nie danach gefragt und er hat es mir nie von sich aus erzählt.
»Mensch, Küken.« Er schaut mich an und endlich begegnen sich unsere Blicke. Seine Augen sehen mich eindringlich an. Was ist denn jetzt los?
»Küss mich endlich«, sagt er neckend und zwinkert mir zu. Zuerst muss ich lachen, doch dann bemerke ich, dass er das ernst gemeint hat. Ich rolle mit den Augen und verschränke die Arme vor der Brust. »Also, wenn hier ja wohl jemand jemanden küsst, dann küsst du mich.«
»Ich warte«, seufzt er und tut so, als hätte er nicht gehört, was ich gerade gesagt habe. So zu tun, als hätte er etwas überhört, kann er ziemlich gut.
Er wackelt anzüglich mit seinen Augenbrauen, woraufhin ich leise in mich hinein kichere und ihn auf die Brust boxe. Nicht einmal küssen tun wir uns, ohne zu streiten. Ein Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus.
»Nein«, bleibe ich stur.
Als Antwort rollt er bloß mit den Augen. Im nächsten Augenblick nimmt er meine Hand in seine und führt sie zu seinem Kragen. Verwirrt lasse ich ihn machen. Mit meiner Hand, die von seiner umschlingt wird, zieht er an seinem Kragen. Er tut so, als hätte ich ihn zu mir heruntergezogen, dabei ist er derjenige, der das ganze bloß inszeniert. Während er das tut, sagt er in einem sehr schlecht gespielt-überraschten Ton: »Oh nein, Em, nicht so stürmisch.«
Und in der nächsten Sekunde liegen seine Lippen auf meinen.
»Halt an«, rufe ich, als Ava neben dem Strand entlangfährt und ich eine Gestalt auf einer Klippe sitzen sehe. Das muss er einfach sein. In der Dunkelheit kann ich nicht viel ausmachen, aber ich hoffe und bettle innerlich so sehr, dass er es ist und niemand anderes. Seit einer guten halben Stunde fahren wir den Strand jetzt nun schon rauf und runter.
Sobald Ava das Auto zum Stillstand bringt, reiße ich die Tür auf und springe heraus. »Du musst nicht auf mich warten, wenn du nicht willst. Ich fahre mit Reece zurück, egal ob er will oder nicht.«
»Okay«, meint sie und nickt. »Ich weiß zwar nicht, was hier passiert, aber ich drücke dir die Daumen, Süße. Viel Glück.«
Ich lächle sie an und beuge mich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Danke Ava! Du bist einfach die Beste.«
»Erzähl mir was neues«, meint sie und lacht. Ich kann nicht anders als zu grinsen. Ist das nicht Freundschaft? Für einen da zu sein, wenn man ihn braucht? Einem zu vertrauen, auch wenn man nicht weiß, worum es geht? Jemanden zum Lächeln zu bringen, obwohl einem zum Weinen zumute ist? Ava ist immer für mich da, das weiß ich. Ich kann immer auf sie zählen, weiß, dass sie immer hinter mir stehen wird. Und das gleiche kann sie auf jeden Fall auch von mir erwarten.
»Reece«, rufe ich und renne auf ihn zu. Jedenfalls renne ich auf die Silhouette auf der Klippe zu, die ich in dem Moment für Reece halte. Es ist stockfinster, als ich durch die Dünen laufe und versuche mich unfallfrei fortzubewegen.
Mir ist egal, dass es vielleicht nicht Reece sein könnte und ich mich blamieren würde. Dass ich Reece jetzt endlich finde, ist das einzig wichtige im Moment.
Mein Herz hämmert schon seit Stunden. Seitdem Ava und ich losgefahren sind, um ihn zu suchen, dabei weiß ich nicht einmal hundertprozentig, dass er sich am Strand befindet. Vielleicht irre ich mich auch. Immerhin ist es nur eine wage Vermutung. Doch tatsächlich, als ich mich der Person nähere und immer wieder nach seinem Namen rufe, dreht er sich um.
Ich komme nach Luft schnappend neben ihm an. Ein letzter Blick genügt und ich erkenne Reece schließlich. Ich bin so glücklich, ihn zu sehen, das kann ich gar nicht in Worte fassen. Außer Atem lasse ich mich neben ihn auf den Boden fallen und rufe: »Gott sei Dank!«
»Was willst du hier?«, zischt er und dreht sich wieder um, um aufs Meer vor sich zu schauen. »Verschwinde, Emma. Hau einfach ab.«
Natürlich habe ich damit gerechnet, dass er nicht so gut auf mich zu sprechen ist, doch dass er so reagiert, habe ich nicht erwartet. Da wir anscheinend die einzigen am Strand sind, hebe ich völlig verzweifelt die Stimme und rufe: »Reece, bitte! Wir müssen reden.«
»Wir müssen gar nichts, Emma, und reden schon gar nicht.«
»Reece, ich will dir erklären, warum ich das getan habe«, sage ich.
»Weißt du was, Emma?«, faucht er. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, warum du es getan hast. Mir geht es eher darum, dass du es getan hast.«
»Ich musste es tun«, rufe ich laut und sehe ihn verzweifelt an, aber er starrt weiterhin auf das weite Meer vor sich. Ich seufze und schiebe hinterher: »Ich hatte doch keine andere Wahl.«
»Ohh«, macht er und tut so, als täte ihm das Ganze tatsächlich leid. »Du musstest es tun? Du armes, armes Ding. Wirklich. Das tut mir ja so leid.«
»Reece«, flüstere ich. »Ich war so sauer, weil du es mir nicht erzählt hast. Es hätte niemandem geholfen, wenn du es weiterhin verheimlicht hättest.«
»Ich hatte meinen Grund, warum ich niemandem davon erzählt habe, Emma«, knurrt er. »Kannst du dir das vorstellen? Es gibt keine verdammte Hilfe mehr für mich. Ich werde sterben. Ich weiß es einfach. Und ich wollte es meiner Mutter ersparen, jetzt schon zu leiden. Meinem Vater und Madison diesen Kummer zuzubereiten. Sie hätten vielleicht noch ein paar Monate so tun können, als sei nichts gewesen. Ich hätte einfach leise aus ihrem Leben verschwinden können.«
»Du wärst weg gewesen und deine Familie hätte immer noch den Kummer gehabt, was mehr als verständlich ist, wenn man sein Kind verliert«, antworte ich und versuche, Augenkontakt mit ihm aufzunehmen, aber er weicht meinen Blicken gekonnt aus. »Reece, der Schmerz wäre nur noch um so schlimmer gewesen, weil sie sich nicht hätten verabschieden können. Sie hätten nie abschließen können.«
»Hör auf mit deinem scheiß Psychozeugs«, stöhnt er und hält sich den Kopf, als hätte er höllische Schmerzen. »Geh aus meinem Kopf raus.«
»Reece«, flüstere ich und versuche ihn am Arm anzufassen, aber er schlägt meine Hand weg und schüttelt nur den Kopf. Natürlich kann ich verstehen, dass er sauer auf mich ist und sich deshalb so kalt verhält, aber trotzdem tut es weh. Doch ich schlucke meine Enttäuschung herunter.
»Du verstehst nicht, wie es ist, so eine Krankheit zu haben, Emma«, flüstert er. »Es ist ein Fluch. Ich mache damit jeden in meiner Umgebung nur unglücklich. Jeden Menschen den ich liebe, bereite ich nur Kummer. Von Anfang an war ich eklig zu dir, damit du dich von mir fernhältst. Ich brauche keine Freunde, ich brauche nicht noch mehr Menschen in meinem Leben, die ich unglücklich mache.«
Er presst kurz die Lippen aufeinander, aber bevor ich irgendetwas erwidern kann, redet er weiter: »Es ist ein scheiß Gefühl, auf andere angewiesen zu sein. Das Mitleid von anderen zu spüren oder es in ihren Augen zu sehen. Selbst du kannst mich nicht mehr ohne diesen Blick in deinen Augen ansehen. Ich fühle mich so mies, wenn ich weiß, dass Menschen denken, sie müssten mich anders behandeln, nur weil ich diese verdammte Krankheit habe. Deshalb will ich nicht, dass irgendjemand davon weiß. Ich möchte genauso, wie jeder andere behandelt werden. Vielleicht würden Menschen mich sogar meiden, wenn sie davon wüssten, weil sie denken sie könnten nicht mit mir umgehen. Vielleicht bist du sogar gekommen, um mit mir Schluss zu machen, denn mal ganz ehrlich Emma, was willst du von einem Kerl wie mir?«
»Reece du-«
»Geh schon. Hau ab! Ich bin ein verdammter Krüppel, jetzt weißt du es. Ich kann nicht einmal mehr Sex haben, weil es zu anstrengend für mich ist. Klingt das nicht erbärmlich? Gott, ich bin so erbärmlich.« Er starrt mich an und endlich kann ich ihm ins Gesicht sehen, aber als sich unsere Blicke treffen, wünschte ich, ich hätte es nicht gesehen. Er weint. »Verlass mich einfach, Emma. Ich werde sowieso sterben, ich bin niemand, den man lieben sollte.«
»Hey«, flüstere ich noch einmal. Versuche einen erneuten Anlauf. Wenn er nicht sofort aufhört mich so anzusehen, fange ich auch an zu weinen. Ich nehme ihn in die Arme und glücklicherweise lässt er mich machen. Er stößt mich nicht weg, er beschimpft mich nicht. »Reece hör auf so eine verdammte Memme zu sein und fang endlich an ein Mann zu sein! Du bist doch sonst nicht so verdammt sensibel. Du wirst nicht sterben. Deine Mutter ist dabei einen Arzt anzurufen, um über deine OP zu reden.«
Er starrt mich an.
»Was?«, frage ich leicht irritiert.
»Hast du mich gerade als Memme bezeichnet?« Er hebt die Brauen. Dann aber schüttelt er den Kopf. »Diese OP hat ziemlich viele Risiken, Emma, es ist nicht so einfach, wie du denkst.«
»Woher weißt du das?«
»Meinst du nicht, dass ich mich vorher schon informiert habe?«, fragt er ironisch. »Ich habe Monate damit verbracht mir alles, was ich über diese verfluchte Krankheit gefunden habe, durchzulesen.«
»Wenn du so pessimistisch bist, wird natürlich alles schiefgehen, Reece«, sage ich. »Ich möchte nicht mit dir Schluss machen. Ich liebe dich. Du könntest von mir aus jemanden umgebracht haben und ich würde dich trotzdem lieben. Ich stehe hinter dir, egal was passiert. Und anders behandelt wirst du auch nicht, mein Freund, für dich gibt es keine extra Behandlung. Ich werde dich genauso hart rannehmen wie früher.«
Während meiner Rede haben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln gehoben, doch am Ende wächst aus dem Lächeln ein dreckiges Grinsen. Er hebt dabei die Brauen und sieht mich einfach nur so an.
Als mit klar wird, worauf er hinaus möchte, werde ich knallrot und boxe ihn in die Seite. »So war das nicht gemeint, du Perverser.«
Er lacht, als ich ihn schlage und greift nach meiner Hand, die seine Brust trifft, um mich zu sich heran zu ziehen. Reece drückt mich fest an sich, legt sein Kinn auf meinen Kopf und flüstert: »Gott, Emma ich liebe dich so sehr.«
»Ich liebe dich auch Reece«, flüstere ich zurück und drücke mein Gesicht noch mehr an seine Brust. Ich atme seinen Geruch ein. Er riecht nach seinem typischen Aftershave, nach seinem Eigengeruch, den ich so liebe, und noch ein wenig nach Krankenhaus.
Sein Griff wird immer fester. Er hält sich an mir fest, als wäre ich sein Anker.
»Du solltest es nicht tun«, wispert er in mein Ohr. Ich kralle meine Finger in sein T-Shirt und schüttele den Kopf an seiner Brust. »Ich tue es aber. Und nichts und niemand wird mich je umstimmen können. Nicht du, nicht deine Krankheit, niemand.«
»Das ist wohl der größte Fehler, den du machen kannst«, antwortet er und seufzt schwer. »Aber ich bin viel zu selbstsüchtig, um dich von mir aus gehen zu lassen.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro