27. Ich will nicht sterben
Habe ich schon erwähnt, dass ich den Matheunterricht inzwischen liebe? Denn falls nicht: ich liebe Mathe. Und das liegt ganz bestimmt nicht an Mathe selbst, sondern daran, dass ich am Fenster sitzen und Reeces Sportkurs beobachten kann. Ich meine, was gibt es Besseres als meinem heißen Latino-Freund beim Sport machen zuzusehen?
So kommt es, dass ich eine Woche nach unserem fast-ersten-mal im Matheunterricht sitze und seufzend Reece dabei beobachte, wie er die Übungen macht, die Mr. Dawson ihnen aufdrückt. Meinem Mathelehrer dagegen schenke ich keinerlei Beachtung. Wir haben momentan das Thema Vektoren und Ebenen. Der übliche Mist eben.
»Wenn ihr also zwei Ebenen im Raum habt, dann können diese entweder orthogonal, parallel oder identisch sein«, erklärt mein Lehrer gerade an der Tafel. Immerhin höre ich mit einem Ohr zu, denke ich und seufze wieder zufrieden vor mich hin. Ich bin so glücklich und verliebt, wie noch nie zuvor.
»Ms. Reichert«, höre ich plötzlich die strenge Stimme von Mr. Casey, der vorne an der Tafel steht und gerade zwei Ebenen in einem Koordinatensystem angezeichnet hat. Ich zucke zusammen und wende den Blick von Reece und seinen Dehnübungen ab.
»Ja, Mr. Casey?« Ich wickele mir eine Strähne um den Zeigefinger, versuche die Blicke meiner Mitschüler zu verdrängen. Er legt den Kopf schief und sieht mich mit einem falschen Lächeln an. »Sind Sie dem Unterricht sowohl körperlich, als auch geistig gefolgt und haben mir ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt?«
»Ich habe Ihnen zugehört, Mr.«
»Achja?« Er hebt amüsiert die Brauen. »Dann erklären Sie mir mal, warum zwei Ebenen keinen gemeinsamen Schnittpunkt haben können.«
Ich denke nach, aber mir fällt, wie so oft in Mathe, leider nichts ein. »Ich habe keine Ahnung.«
»Nun«, meint er, immer noch sichtlich amüsiert. Er setzt sich in einer lockeren Pose auf den Pult und verschränkt die Arme ineinander. Ich muss zugeben, Mr. Casey - unter den weiblichen Schülern der Arcadia High School auch bekannt als Dean - ist ein junger, attraktiver Lehrer und sich dessen mehr als bewusst. So nutzt er seine Autorität öfter gerne mal aus, um seine Schülerinnen oder auch Schüler in den Wahnsinn zu treiben. Er ist kein schlechter Lehrer, ganz im Gegenteil. Ich gehe mal so weit zu behaupten, dass er mit Abstand einer der beliebtesten Lehrer dieser High School ist.
Mr. Casey lehnt sich zurück und meint: »Nun, beantworten Sie mir meine Frage ehrlich. Waren Sie nur körperlich oder auch geistig in meinem Unterricht anwesend?«
Ich schaue schuldbewusst auf meinen Tisch. »Ich schätze, ich war nur körperlich anwesend. Sorry.«
Er nickt und wendet sich schließlich wieder der ganzen Klasse zu. Der Unterricht verläuft weiterhin ziemlich unspektakulär. Ich schaue kein einziges Mal mehr zu Reece, weil ich einfach nicht mehr den Mumm dazu habe, egal wie sehr ich gerne würde.
Als wir endlich Aufgaben bekommen und sie alleine im Stillen bis zum Ende der Stunde lösen sollen, nutze ich die Zeit und schaue wieder verliebt aus dem Fenster, während Mr. Casey vorne sitzt und irgendwelche Arbeiten korrigiert. Meine Augen brauchen einige Zeit, bis sie Reece endlich ausmachen und als ich ihn sehe, begreife ich sofort, dass da etwas ganz falsch läuft.
Inzwischen hat Mr. Dawson seine Schüler anscheinend dazu verdonnert, zu laufen. Keine Ahnung wie lange sie schon laufen, aber die meisten sind schon weiter vorne in einem Haufen, während Reece mit einem großen Abstand zu ihnen mehr humpelt, als läuft. Ich sehe Mr. Dawson am Rand stehen. Er sieht Reece zornig an und scheint ihm etwas zuzurufen, woraufhin Reece anfängt, schneller zu laufen, sehr schnell. Aber nach einigen hundert Metern bleibt er plötzlich stehen. Zuerst sieht es so aus, als würde er sich nur kurz erholen müssen, er stützt die Hände auf die Knie und atmet schwer, was ich selbst von hier aus erkennen kann.
In meinen Fingern und Füßen brennt es. Ich möchte aufspringen und zu ihm rennen, doch dann sehe ich, dass er einfach weitergeht. Und ja, dieses Mal geht er, er läuft nicht, rennt nicht. Er geht in Schrittgeschwindigkeit. Ich spiele mit meinem Bleistift herum und beobachte ihn die ganze Zeit. Doch Reece kommt nicht weit. Er läuft einige Meter, drei vielleicht, bis er plötzlich komplett zusammenbricht.
Wie unter Strom stehend, springe ich von meinem Platz auf. Mein Stuhl knarzt über den Linoleumboden, als ich vor meinem Tisch stehe. Mr. Casey schaut genervt auf und verdreht die Augen. »Was ist denn jetzt schon wieder, Ms. Reichert?«
»Es tut mir leid«, murmele ich und renne hastig aus dem Raum. Ich denke kein zweites mal nach, als ich an meinen flüsternden und tuschelnden Mitschülern vorbeirenne. Ich muss unbedingt zu Reece. Jetzt sofort. Und niemand wird mich davon abhalten können.
Ich renne - nein ich springe förmlich - die Treppen hinunter, durch die Gänge, an den Spinden vorbei bis ich endlich am Haupteingang ankomme. Von weiten sehe ich Reece schon am Boden liegen. Niemand ist bei ihm. Ich schaue einmal über den Sportplatz und sehe Mr. Dawson weiter hinten mit einem anderen Lehrer reden. Warum bemerkt keiner was mit Reece los ist? Ist er ihnen so egal?
Ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, haste ich über den gesamten Platz zu Reece, der stöhnend auf dem Boden liegt. Sport war noch nie meine Stärke und Rennen gehörte definitiv nicht zu meinen Lieblingsthemenbereichen, doch ich reiße mich zusammen, versuche durchzuhalten, obwohl mein Herz schon zu hämmern beginnt und meine Lungen nach Luft schreien. Während ich renne, brülle ich »Krankenwagen! Ruft einen verdammten Krankenwagen!«. Alle drehen sich zu mir um und es vergehen gefühlte tausend Jahre, bis der erste reagiert und hastig sein Handy hervorholt, um den Notruf zu alarmieren.
Als ich bei Reece ankomme, werfe ich mich einfach auf die Knie. Der Aufprall auf dem harten Boden schmerzt so stark, dass ich das dringende Bedürfnis verspüre aufschreien zu wollen, weil meine Haut an den Knien zu jucken und brennen beginnt, doch ich versuche alle meine Gefühle zu verschließen und mich voll und ganz auf Reece zu konzentrieren. Die möglichen Schürfwunden, die ich mir jetzt zugetragen habe, sind nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die Reece gerade spürt. Das erkenne ich sofort.
Ich lege seinen Kopf auf meine Beine und sehe auf ihn herab.
»Hey«, flüstere ich leise und streiche ihm behutsam durch das Haar und über das Gesicht. Und obwohl ich nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist, schaffe ich es, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Hey Großer! Alles okay mit dir? Der Krankenwagen ist auf dem Weg. Oh Gott, bitte halte durch. Bitte, du musst einfach durchhalten. Nicht mehr lange, Reece, okay?«
Er antwortet nicht, stattdessen hat er die Augen zusammengekniffen und sich zusammengekrümmt.
»Schau mal, heute scheint die Sonne. Wir... wir könnten an den Strand und Eis essen gehen. Ich lade dich sogar auf ein Eis ein, so viele Kugeln wie du willst. Lass uns doch Madison mitnehmen. Das wird toll. Wenn du willst trage ich auch dieses Kleid, das du so gerne magst. Nur für dich, klingt das nicht super? Aber dazu musst du durchhalten, bis der Krankenwagen kommt. Alles wird gut, Reece. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich...Ich...« Er presst die Lippen kurz aufeinander. »I-Ich will nicht... sterben.«
»Warte, was? Wer hat hier etwas von sterben gesagt, Reece? Niemand wird sterben. Nicht du«, flüstere ich, um ihn zu beruhigen, dabei könnte ich jemanden gebrauchen der mich beruhigt. Wovon redet er? Wie kommt er jetzt auf so etwas? Wieso sagt er so etwas? Ich nehme sein Gesicht behutsam zwischen meine Hände und küsse jeden Millimeter. »Du wirst noch viele Jahre leben, ein langes und unbeschwertes Leben führen und viele kleine Reece-Teufel in die Welt setzen, die vermutlich vielen Mädchen später das Leben zur Hölle machen werden. Und wenn du eine Tochter haben wirst, dann nennst du sie bestimmt Küken. Vielleicht wird sie dann in der Schule gemobbt, aber dann kommt Papa-Reece vorbei und verprügelt die ganzen Jungs, die seine Prinzessin schief angucken. Naja, du solltest vielleicht nicht unbedingt Minderjährige-«
Reece drückt fest meinen Arm, woraufhin ich abrupt aufhöre zu reden. Wer möchte mein dummes Geschwafel schon hören? Wenn ich nervös bin, neige ich dazu, viel zu reden und vor allem einfach draufloszureden.
»Es tut so weh, Emma«, wimmert er leise in mein Ohr. Ich spüre den Druck hinter meinen Augen, als ich mein Gesicht an seinen Hals drücke und ihn sanft küsse. Das Bedürfnis gleich zusammenzubrechen und mich neben ihn zu legen, ist so groß. Ich bin verzweifelt, schaue umher, um zu sehen, ob jemand kommt, um zu helfen. Mein Brustkorb zieht sich schmerzlich zusammen. Meine Lungen werden immer trockener, der Drang husten zu müssen und nach Luft zu schnappen, wie es Reece tut, überschwemmt mich. Ich habe das Gefühl zu ersticken, keine Luft zu bekommen, egal wie viel Luft ich in mich einsauge, sie erreicht mich nicht.
Ich versuche mich zu beruhigen, denn es bringt Reece nichts, wenn ich jetzt eine Panikattacke bekomme. Er braucht mich, ich muss für ihn da sein, muss für ihn stark sein. Er muss wissen, dass ich bei ihm bin, dass er das nicht alleine durchmachen muss.
Wenn ich ihm die Schmerzen abnehmen könnte, würde ich es auf der Stelle tun, selbst wenn es nur ein Teil ist, ich würde alles tun, um ihm das hier zu erleichtern.
»Wo tut es weh?«, frage ich und höre von weitem schon die Sirenen des Krankenwagens. Nur noch ein paar Sekunden. Ich muss ihn irgendwie beruhigen.
Er beißt sich auf die Unterlippe und schnappt nach Luft, als wäre er ein Fisch an Land. Und ich kann nichts anderen tun, als dumm dazusitzen und darauf zu warten, dass die Sanitäter kommen.
Er antwortet nicht mehr auf meine Frage.
Ich versuche ein letztes Mal Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, als die Sanitäter mit einer Liege kommen und ihn davontragen, aber er schaut nicht mehr zu mir. Seine Augen sind fest zusammengekniffen.
Einer der Sanitäter drängt mich von ihm weg. Und erst da fällt mir die Menge an Schülern auf, die sich um das Geschehen gesammelt hat, als sei das alles eine lächerliche Zirkusattraktion.
Wut steigt in mir auf, als ich versuche mich gegen den Sanitäter zu wehren. »Ich habe ihn gefunden! Ich bin seine Freundin! Er braucht mich jetzt!«, werfe ich ihm brüllend an den Kopf.
»Solange Sie nicht verwandt sind, steht Ihnen nicht zu mitzufahren.«
Ich starre ihn mit offenem Mund an und schüttele ungläubig den Kopf. »Fragen Sie ihn doch! Fragen Sie Reece!«
Der Mann schüttelt bedauerlich den Kopf und schiebt mich zu den anderen. »Es tut uns leid.«
Mein Unterkiefer klappt auf, als ich dem Krankenwagen hinterherschaue. Um ehrlich zu sein, begreife ich immer noch nicht, was gerade passiert ist.
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