Eiserne Stille
Die Weite Morias lag als ein karger, finsterer Streifen vor ihren Augen. Die Gemeinschaft wanderte über einen schmalen Abschnitt, ehe sie ein Gewässer erreichten.
»Der Khaled-zaram!«, verkündete Balin aufgeregt. In Kettenform schritten sie an dem Boten Morias vorbei, nur Bilbo folgte unsichtbar mit Metern Abstand. Auf keinen Fall wollte er, dass Thorin von seinem Betrug erfuhr. Alles, was er wollte, war, ihn in Sicherheit zu wissen und zu beschützen, wenn es nötig sein sollte. Was es hoffentlich nicht sein würde ...
Wenige Meter hinter den Gewässern des Spiegelsees, erstreckte sich über ihren Häuptern das Westtor. Ein blaues, schimmerndes Muster verzierte es, so als wäre es ein Portal in eine andere Welt. Thorin schritt kühn voran und musterte den steinernen, geheimen Eingang. Silberne Runen schwebten nahezu über dem unkenntlichen Tor.
»Die Hallen unserer Väter«, flüsterte Thorin ehrfürchtig. Er legte den Kopf schief, um sich der Öffnung des Eingangs zu widmen, doch da kam ihm Gandalf schon zuvor. Zwar wussten die anderen, wie man das Rätsel löste, doch der Zauberer war mächtig stolz auf seinen Kenntnisstand. Schließlich mussten seine Erinnerungen ja für etwas gut sein.
»Mellon!«, rief der Zauberer angeberisch. Ein beißendes Steingrummeln ertönte mächtig durch die dunkle Nacht. »Das war ja leicht«, bemerkte Balin fröhlich. Alle jauchzten vor Freude und Aufregung, kurz davor zum Schritt anzusetzen. Da erklang plötzlich ein weiteres, grummelndes, blubberndes Geräusch – direkt aus den Tiefen des Spiegelsees. Bilbo schluckte.
»Macht, dass ihr hineinkommt! Rasch!«, brüllte Thorin. Die anderen befolgten seinen Befehl. Nur Gandalf warf einen Blick zurück. Wie zur Antwort stürzte der unsichtbare, im Schatten wandelnde Bilbo los. Zehn Meter vollbrachte er mit aller Kraft. Doch da geschah es: Riesige, glibberige, dunkle Tentakel streckten sich urplötzlich aus der Wasseroberfläche – und griffen direkt vor Bilbos Nasenspitze.
»Ah!«, schrie er auf und ließ den Ring fallen. Das Aufschlagen des Goldes rumorte durch die Nacht. Bilbo schwebte sichtbar über den Köpfen aller hinweg – gefangen in den Klauen eines Monsters, welches ihn soeben in die Tiefe ziehen würde. Verschlingen würde. Ermorden. Thorins Pupillen zogen sich augenblicklich zusammen. Sein ganzes Haupt sank geradezu zu Boden. Sein Herz vibrierte wie in seinem Albtraum.
»Bilbo!«, brüllte er panisch und tat einen gewagten Satz nach vorn. Er zückte augenblicklich seine Waffe, streckte zitternd die Schultern empor und fuchtelte hektisch damit herum. Der Hobbit hingegen nahm nichts wahr, außer das Schütteln und Taumeln einer umgekehrten Welt. Thorin erwischte unter seinem hektischen Wedeln einen Tentakel. Blutstropfen ergossen sich. Doch das Monster gab Bilbo nicht frei. Im Gegenteil: Seine Tentakel verkrampften sich und drohten nun den Halbling zu erwürgen – den Gatten Thorin Eichenschilds.
Erst jetzt erkannte der Hobbit zwischen den Tentakeln Thorins Angesicht. Seine verzweifelten Versuche, ihn vor dem Tode zu bewahren. »Das ist mein Ende«, konnte Bilbo nur noch denken. »Hier und heute geht es also zu Ende mit Bilbo Beutlin. Doch immerhin sterbe ich nicht allein – sondern an seiner Seite.«
Thorins Arm vibrierte. Ihm entglitt bei dem Anblick, Bilbos beinahe versunkener Gestalt vor Schock das Schwert. Dann sanken seine Knie zu Boden. Innerhalb einer Millisekunde rauschten sie durch seinen Geist: die Bilder von Bilbos Tod. Die letzten Sekunden, die sie miteinander auf dem Rabenberg geteilt hatten. Das letzte Licht in Bilbos Augen, ehe es verblasste. Entrann. Erlosch. Doch dies waren keine Erinnerungen. Es war, als würde Thorin buchstäblich dorthin zurückversetzt werden, als würde er jede Sekunde haargenau erneut erleben. Es buchstäblich noch einmal durchstehen. Thorin krallte sich besiegt in den Boden.
Da konnte Gandalf das Elend einfach nicht mehr mit ansehen. »Licht! Flamme!«, gellte die Stimme des Zauberers. Mit einem Mal schien die Welt in weißen Flammen zu stehen.
Der Tentakel schleuderte Bilbo geblendet aus den Krallen. Dabei wurde der Hobbit unsanft gegen die Felswand geschleudert, derart mächtig, dass ein dumpfer Aufschlag, ein Knacken zu vernehmen war. Ohnmächtig taumelte der Hobbit zu Boden. Blindlings packte Gandalf ihn sowie Thorins Arm. Beide zog er in die Hallen Morias, ehe ein weiterer Tentakel hindurch brechen konnte. Das Tor fiel schwer zu. Dann blieb nichts mehr, nichts als verschlingende, garstige Dunkelheit. Sie war siedend dunkel, dunkler als in den Grüften der Trollhöhle, als Bilbo in einem anderen Leben mit Gollum gefochten hatte. Und eiserne Stille. Bis zu jenem Tage hatte keiner der Zwerge gewusst, dass man Stille überhaupt vernehmen konnte – dass sie lauter sein konnte als Schall.
Für eine halbe Ewigkeit kauerte die Gemeinschaft reglos und schweigend, von dem Schock mitgenommen, lautlos in der Vorhalle. Sie konnten nicht einmal die Hand vor Augen erahnen. Thorin kauerte sich mit um den Körper geschlungenen Armen in den rauen Boden. Regungslos, wie im Koma, saß er da. In Erinnerungen ertrinkend, die er für das Jetzt hielt. Annehmend, Bilbo sei tatsächlich tot.
Nach einer ungewissen Zeit, vielleicht zwei, vielleicht sieben Stunden, erklang ein murmelndes Treten. Ein weißer Lichtschein zebarst die Farblosigkeit, wie der Schein eines Engels. Ihre Gestalt war auch engelsgleich: Blonde, seidene Haare und blaue, himmelfarbene Augen. Galadriel schritt elegant wie eine Feder heran. Gandalf erhob sich zufrieden und wies sie darauf hin, schnellstmöglich zu ihm zu kommen.
»Frau Galadriel, welch eine überraschende Zusammenkunft!« Doch sie wusste bereits über alles Bescheid.
»Bilbo Beutlin«, sprach sie. Das energetische Licht enttarnte die leblos anmutende Gestalt des kleinen Hobbits. Da erwachte Thorin aus der Starre. Er preschte zu seinem Halbling, senkte den Kopf tief und atmete schmerzhaft durch die Zähne ein. Eine riesige, offene Platzwunde klaffte an Bilbos Schläfe. Seine Augen waren fest geschlossen, seine Haut kreideweiß, doch sein Brustkorb hob und senkte sich noch leicht. Die Panik stieg Thorin bis in die Schädeldecke. Keinen Mucks brachte er hervor.
»Ich werde seine Wunden zeitig versorgen. Folgt mir, dann wird auch euch ein sättigendes Mahl erwarten«, erklärte Galadriel. Bei dem Wort »Mahl« fuhren die anderen Zwerge synchron auf. Sie hatten seit Tagen nichts Anständiges zwischen die Zähne bekommen. Nur Thorin kauerte noch immer neben Bilbos verwundetem Körper. Dass er selbst auch einige Schrammen abbekommen hatte, bemerkte er gar nicht.
Einige Zwerge, mit unbekannten Gesichtern, tauchten auf. Dann luden sie Bilbo gemeinschaftlich auf eine aus Hanf gebundene Trage. Erst als sie mit ihm losliefen, erhob sich auch Thorin, als trüge er Felsen auf den Schultern. Im Schritt griff er nach Bilbos Hand. Unentwegt blieb er an seiner Seite – und beobachtete aufmerksam, ob sich seine Brust auch ja weiter bewegte.
Dem Zwerg entging die Schönheit Morias an diesem Tage. Die meterhohen, steinernen, vor Reichtum glitzernden Hallen. Die teilweise noch grasbewachsenen Gänge, auf welchen die Minenarbeiter ihre Bergwerkswagen und Kipper zogen. Die eisernen Aufzüge, mit welchen man über alles hinweg sehen konnte – wie über ein edles Land. Das Land eines ehrwürdigen Volkes. Das Land Durins.
Das Hämmern der Arbeiter drang wie Hilferufe in Thorins Wahrnehmung. Die Flammen der Fackeln sah er wie Smaugs Feuer vor sich. Dann bogen sie in einen dünnen Schacht. Eine kahle Steinwand führte zu einer breiten Öffnung. Als wäre sie zufällig hineingestampft worden, erstreckte sie sich plötzlich schmal zu ihrer Rechten. Das zwang Thorin Bilbos Hand loszulassen. Mit gesenkter Haltung folgte er der Liege in den silbrigen, fensterlosen, breiten Raum. Dunkle Steine, mit blutroten Decken, reihten sich aneinander. Es stank nach Kraut und Medizin. Dies war das Krankenlager.
Die Zwerge hievten Bilbo auf eines der Betten. Selbst der winzige Aufprall weckte den Hobbit nicht. Dann verließen die Zwerge den schummrigen Saal. Es blieb nichts, nichts als eine ertränkende Ruhe. Eine Zweisamkeit, die doch eher einer Einsamkeit gleich kam.
Thorin kniete sich schwer nach vorn gebeugt neben das Bett. Mit weichen Augen betrachtete er Bilbos klägliches Angesicht. Die Arme des kleinen Hobbits lagen hilflos und schwach zur Seite gestreckt. Seine Haare trieften vor Wasser und Sand. Angst und bange legte Thorin eine Hand auf Bilbos Stirn. Sie war eiskalt. Dann strich er durch sein nasses Haar, über seine blutrote Schulter und beugte sich vor, sodass er ihn beinahe umarmen konnte. Er umfasste Bilbos Hand. Dann wisperte er verzweifelt: »Bilbo?«
Doch es regte sich kein Leben unter den Augenlidern seines Gatten. Verzweifelt klammerte der Zwerg sich an seine Hand. »Ich war ein Narr!«, zischte es in seinem Kopf. »Ich hätte ihn niemals hierher bringen dürfen. Wären wir doch nur in Beutelsend geblieben.«
»Bilbo? Bitte, wach auf«, versuchte er es erneut. Er zog die Halblings Hand unter sein Kinn und beinahe an seine Lippen. Bewegte sich seine Brust noch? Heiße Tränen stiegen Thorin in die Augen. Was, wenn Bilbo nie wieder erwachte? Er sah schrecklich schwach, zerbrechlich aus. Der Aufprall war schlimm gewesen. So schlimm, dass man meinen könnte, er sei ... Thorins Herz verkrampfte.
»Hörst du mich, Bilbo? Ich bin hier. Ich ... Bitte ...«
Thorin wimmerte leise. Heiße Tränen schwebten in seinen blassen, eisigen Augen. Kläglich legte er den Kopf auf Bilbos Brust. Auf sein unhörbares Herz. Dann wisperte er nur noch: »Amrâlimê ...«
Eine tonlose, erfrierende Ruhe umschloss die beiden. Die Stille dröhnte in Thorins Ohren, als sei seine Hörfähigkeit verendet. Doch da: Mit einem Mal drückte es gegen seine Hand. Thorin hob den Kopf sachte. Die blassen Augen lagen einen Spaltbreit geöffnet. Bilbo erwiderte die Berührung. Mit glasigen Augen fuhr der Zwerg in die Höhe. Unter Tränen schillerte seine Iris, als wäre sie den Reichtümern der Zwerge entsprungen. Dann zog der Hobbit die Hand des Zwerges ganz nah an sich heran.
»T-Thorin. Was ist ... wo sind wir?«, flüsterte Bilbo schwach. Dem Zwerg fielen Felsen vom Herzen. Seine Mundwinkel zogen sachte hinauf vor Erleichterung.
»I-In Moria«, brachte Thorin heiser und weich hervor. »Du wurdest verwundet.« Jetzt erinnerte sich Bilbo – an den grausigen, feuchten, eiskalten Griff des Tentakels. Die umgedrehte Welt. Dem Ende ins Gesicht zu blicken. Er erbebte bei der Vorstellung. Bilbo spürte die Platzwunde vor Kopfschmerzen nicht. Es war, als hämmerten Minenarbeiter gegen seinen Schädel. Also fragte er dumpf: »S-Sehr schlimm?« Thorin nickte unmerklich. »Du blutest. Du wärst beinahe ...« Dann stockte er. Bilbo verstand. Er drückte Thorins Hand zur Besänftigung.
»Es hätte schlimmer ausgehen können. Aber ich lebe. Wir beide leben. Das ist, was zählt«, versuchte Bilbo seine typische Positivität anzuwenden.
Thorin räusperte sich, um seine Sorge zu verbergen und blickte hinab. Täuschend monoton hörbar sprach er: »Die Elbin versorgt deine Wunden. Fühlst du dich allzu schwach?« Erst jetzt brach beißendes Licht in Bilbos Sicht. Er fühlte sich, als wäre jegliches Leben aus seinen Gliedern gesaugt worden. Doch er meinte nur:
»Nein. Bald bin ich wieder auf den Beinen. Du wirst sehen.« Ihm entfuhr ein leises Husten. »Bald ist alles wieder gut.« Schließlich fielen seine Augenlider hinab. Thorin lauschte, ob sein Herz weiter schlug, doch da vernahm er schon das dumpfe Hallen von Schritten.
Galadriel trat ein, samt einer kleinen, hölzernen Schale. Ein Ruck durchfuhr Thorin. Solch ein Gefäß hatte er schon einmal erblickt – in der Nacht, in welcher Bilbo seine Erinnerungen verloren hatte. Er erschauderte bei der lebhaften, hyperrealen Erinnerung daran.
»Seid gegrüßt, Thorin, Sohn des Thráin«, hallte Galadriels helle Stimme in seine taub anmutenden Ohren. Dann bedeutete sie ihm, von der Stelle zu rücken. Das gefiel Thorin gar nicht, doch er ließ Bilbos Hand mit Mühe los und stellte sich genau neben sie. Unentwegt stierte er über ihre Schulter. Seit er Kyria kannte, hatte der einstige Zwergenkönig größtenteils Frieden mit ihrer Spezies geschlossen. Doch er musste zugeben, dass ein Teil seiner Selbst noch immer Vorurteile gegen Elben hegte.
»Was ist das? Was macht Ihr mit ihm?«, fragte Thorin streng.
»Ich flöße ihm einen Heiltrank ein. Er wird seine Wunden schließen und seine Schmerzen lindern.« Sie führte einige Bewegungen mit ihren Händen aus. Daraufhin erwachte Bilbo so weit, dass sie ihm den Trank einflößen konnte, ehe er wieder tonnenschwer zurücksackte. Thorin schluckte hörbar.
»Er ist in einen tiefen Schlaf verfallen«, erklärte Galadriel. »Er wird ruhen, bis seine Kräfte wieder hergestellt sind.« Dann drehte sie sich um und deutete auf Thorins Schrammen. »Auch Euch wird Ruhe nicht schaden. Der Halbling wird wieder gesunden. Ihr dürft ruhig gehen.«
»Nein«, murrte Thorin scharf. »Ich bleibe.« und rückte wieder an den Platz neben seinem Bett. Als Galadriel fort war, griff er nach seiner Hand und murmelte vor sich hin. Murmelte von der Vergangenheit, von allem, was ihm in den Sinn kam. Etwas, das er später vergaß. So gefangen war er, in den lebendigen Visionen vergangener Zeiten.
Ewig wachte Thorin über Bilbo. So lange, dass er die Zeit vergaß. Kein Uhrenticken drang in seine Wahrnehmung. Kein Lichtstrahl erreichte ihren gemeinsamen Ort. Mit klammerndem Griff beugte Thorin sich vor. Ehe auch er, im Klang von Bilbos Herzschlag, einschlief.
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Am anderen Ende des verschachtelten Ganges herrschte reger Trubel. Nachdem die Ankömmlinge ihr Mahl schmatzend und rülpsend verschlungen hatten, konnten sie wieder klar denken. Erst jetzt entsannen sie sich des Schockmoments. Gandalf, der mit nachdenklicher Stirn neben ihnen lauerte, dachte zum ersten Mal nicht daran, seine Pfeife zu rauchen. Da fragte Ori plötzlich: »Wo sind Thorin und Bilbo denn?«
Auch Balin brachte sich ein: »Ja, wo stecken die beiden? Ergeht es Bilbo gut?«
»Und mein Sohn? Was ist mit ihm?«, rief Thráin unter zurückgehaltenem Rülpsen. Der Zauberer schlug entnervt eine Hand vor den Mund und blinzelte in den dunklen, unmöblierten Raum. Im Gegensatz zum Erebor bestanden die Krüge hier nicht aus Juwelen. Keine Kronleuchter verschönerten die Atmosphäre. Es war dunkel. Und staubig. Und braun. Statt auf die Fragen einzugehen, wandte Gandalf sich ab. Da bewegte sich etwas an der Wand. Ein Schatten.
»Meine Güte!«, jubelte der. »Khazad! Khazad! Meine Freunde!« und stürmte an Gandalf vorbei. Es war Bofur. Bofur verpasste Balin eine freudige Kopfnuss und klopfte Ori auf die Schulter. »Was macht ihr hier bloß? Ich freue mich ja so, euch zu sehen! Unsere Gemeinschaft!« Dann drehte er sich um und erkannte das Gesicht des älteren Zwerges. Thráin lächelte willkommen. Bofur runzelte die Stirn. »Ist das etwa ...«
»Thráin: Thorins Vater«, stellte Balin ihn vor.
»Oh.« Der Zwerg mit der Mütze wollte sich gerade verbeugen, da winkte Thráin ab.
»Thorin und Bilbo sind auch hier«, setzte Balin hinzu. Bofurs Augen wurden kugelrund. »Oh wirklich! Wie toll, sie wiederzusehen. Sie sind ... hier.« Da brach seine Stimme, als hätte etwas seine Kehle zugeschnürt. Der sonst heitere, offene Zwerg wurde plötzlich bitterernst. Gandalf kräuselte eine Braue.
»Was ist los, Bofur?«, fragte der Zauberer, während er langsam näher trat.
»Es gab ... Es ist so: Ihr solltet eigentlich nicht hier sein.« Bofur spähte in die finsteren Gänge, als lauerte dort jemand – oder etwas. »Es sind merkwürdige Dinge passiert. Ganz schreckliche Vorkommnisse! Erst in den Minen, jetzt auch noch in den Hallen.« Gandalf fuhr grübelnd herum und spähte erneut durch die finsteren Gänge.
»Einige wurden verletzt. Andere sogar getötet. Und wir wissen nicht, wieso. Oder vielleicht von wem«, erklärte Bofur rau. »Wir haben versucht, die anderen zu evakuieren, doch wir können nirgends hin. Hier gibt es nichts als das Berginnere. Als Kammern und wieder Kammern. Und einige schenken uns nicht einmal Glauben.« Balins und Oris Gesichter ergrauten. Gandalf rührte nur unüberrascht den Kopf. Dann schritt er mit dem Klingen seines Zauberstabs zum Eingang und stierte durch zusammengekniffene Augen in die Gänge.
»Bofur«, sprach Gandalf. »Geheiß die anderen sich nicht von der Stelle zu rühren. Verlasst nicht die vorderen Kammern, ehe ich euch die Aufforderung erteile.« Die Zwerge murmelten aufgeregt wie Hummeln, doch niemand widersprach. Eilig schwand Gandalf durch die schmalen Schächte. Durch die hohen Schluchten und Gruften, die grauen Wände und Abschnitte, die er einst gemeinsam mit der Gemeinschaft des Rings erklommen hatte. Stunden über Stunden wanderte er wie ein Geist.
So erreichte Gandalf sie: Die besagte Kammer. Hier hatte die Gemeinschaft des Rings vor der Zeitreise die Leichen entdeckt. Dieses Mal war sie dem Himmel sei Dank verlassen. Lediglich ein grauer Einband klebte zwischen den Spinnenweben. Jemand musste hier vorbeigekommen sein und ein Buch vergessen haben. Ein schlechtes Omen.
Nachdenklich hastete der Zauberer durch die Säulen. Mit wehendem Gewand stapfte er über den trockenen Pfad. Die schmale Brücke erstreckte sich wie ein dünn gespanntes Seil, über den tiefen Grüften Morias – darunter vermutlich sein finsterster Einwohner. Der Zauberer schluckte, doch fokussierte gefasst sein Ziel. Mit gewohntem Selbstvertrauen schritt er bis an den Anfang der Brücke, dann stierte er auf den schier endlosen, verschlingenden Abgrund. Gerade wollte er zum Schritt ansetzen, da unterbrach ihn eine helle Stimme:
»Nicht, Mithrandir.« Galadriel kam mit erhobenem Haupt auf ihn zu. Telepathisch teilte sie ihm mit: »Noch ist nicht der rechte Zeitpunkt gekommen. Vernichten wir ihn, vernichten wir das Schicksal dieser Welt.« Gandalf brummte erkennend. »Die Zukunft liegt in Schleiern und Finsternis verborgen, doch nicht im Grabe. Keine Tat war umsonst, kein Wille verschenkt. Nicht, wenn wir das Schicksal umschreiben.«
Einladend streckte sie die Hand aus. Der Zauberer ergriff sie, blickte einmal zurück und verließ das Haus des Balrogs. Das Haus des Monsters, dem er einst ins Grab gefolgt war.
»Frau Galadriel«, sprach Gandalf, als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten. »Was gedenken wir zu tun? Was bleibt uns?« Die Elbin lächelte ruhig.
»Dem Schicksal zu folgen. Die Aufgabe der Wächter wird nicht umsonst sein.« Gandalf schüttelte leicht verdutzt den Kopf.
»Aber solch eine große Aufgabe. Können wir ihnen das wirklich auferlegen? Sie haben so viel durchgestanden.« Galadriel und Gandalf schritten zurück zur Kammer. Der Istari hob das Buch auf und verwahrte es sicher.
»Sie werden der Aufgabe gewachsen sein, wenn die Zeit reif ist. Vorerst ist jeder Tag ein Geschenk. Und Mittelerde noch erfüllt von dem Licht des Neubeginns. Lassen wir es ihnen. Lassen wir sie weilen. Sie haben es sich redlich verdient.«
So schritten die beiden, alten Freunde zurück zum Zwergenvolk. Der Balrog erwachte an jenem Tage nicht aus dem Schlaf. Die Prophezeiung blieb unerfüllt. Doch die Zukunft lag vor ihnen, wie ein Schleier, den es zu lüften galt.
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