Die Söhne Durins
Die gewundene Tür lag vor ihnen, wie der Deckel einer Truhe. Thorin besaß den Schlüssel dazu, doch er getraute sich nicht, sie zu öffnen. Auch Bilbo plagte die Aufregung und Sorge. Da wandte sich der Zwerg zu seinem Gatten.
»Ich habe mich immer gefragt, wie es sein würde – Ihn wiederzusehen.« Ehrfurcht lag auf seinen Gesichtszügen. Bilbo setzte einen kleinen Schritt nach vorn und griff schließlich nach Thorins Hand. Sanft platzierte er einen Gegenstand darin.
»Sie wird dir Glück bringen«, zwinkerte Bilbo. Der einstige König senkte den Kopf, um die Eichel zu betrachten. Er legte ihn schief, dann blickte er auf und zog beide Mundwinkel strahlend wie die Sonne in die Höhe. Er wisperte: »Wie machst du das nur?«
»Was denn?«, fragte Bilbo verlegen.
»Mir ein jedes Mal Mut zu verleihen. Mehr als das ...« Der Hobbit senkte den Blick. Dann deutete er abwehrend auf die Tür.
»Ach, du bist doch immer mutig. Dir gelingt alles. Ich weiche nicht von deiner Seite, wenn du wünschst.« Der Zwerg nickte glänzenden Auges. Er verwahrte die Eichel wie einen Schatz in seiner Hand, wartete Bilbos Schritte ab und getraute sich schließlich, auch nach vorn zu treten. Als könnte der Griff zerschellen, öffnete er die Tür.
Das Rauminnere glühte überwältigend. Die Goldtürme mussten an Größe gewonnen haben. In der Mitte weilte der Thron und dahinter ... Thorins Mund formte eine sture, emotionslose Linie. Seine Augen hingegen glitzerten bewegt.
Entschlossen zog er die Schultern in die Höhe, bildete eine halbherzige Faust und trat erhabenen Schrittes voran. Der Halbling folgte dem einstigen König auf leisen Sohlen. Das untere Gold schien sie von allen Seiten zu verschlingen. Obgleich Bilbo wusste, dass Thorin seit Jahren keine Krankheitsanzeichen mehr gehabt hatte, sorgte er sich dennoch um seinen Zustand.
Bewegte das Gold ihn?
Erinnerte es ihn an eine Vergangenheit, die er vermisste?
Doch der einstige König schritt weiter stolz voran, ohne den Blick nach links oder rechts abschweifen zu lassen. Bilbo hielt sich dicht hinter ihm.
Plötzlich erschallte ein dumpfes Hallen - Das Hallen von Stiefeln! Schwarzes Haar zeichnete sich hinter dem Thron ab. Dann kam ein warmes, dunkles Augenpaar zum Vorschein.
»Willkommen, Onkel. Willkommen, Bilbo«, sprach Kili. Er verneigte sich leicht. Thorin öffnete den Mund vor Staunen. Doch er bemühte sich noch immer, keine Emotion durchblicken zu lassen.
»Kili!«, raunte er. Da erklang ein weiteres Hallen. Zum Vorschein kam ein langer, gelber, seidener Umhang. Und schließlich ...
»Fili!«, staunte Thorin. Seine Haare waren länger als bei ihrem letzten Treffen und mit edlen Zöpfen geziert. Auch sein Bart war gewachsen. Auf dem Kopf trug er eine glänzende, bogenförmige Krone - jene, die einst Thorin gehört hatte. Er sah aus wie ein richtiger König.
»Onkel! Wie schön, dass ihr unsere Einladung angenommen habt.« Bilbo kroch hinter Thorins Rücken hervor. Dann verbeugte er sich reflexartig.
Fili lachte: »Aber Bilbo, das ist doch nicht notwendig! Es ist uns eine Ehre, dich zu sehen!« Verlegen pustete der Hobbit eine Locke herum. Thorin trat direkt vor seine Neffen. »Meine Schwester-Söhne. Seht euch an. Ihr seid wahrlich gereift.« Da entfiel Kili ein leises Auflachen. Fili bot seinem Bruder eine ernste Miene, doch dann schüttelte auch er die Ernsthaftigkeit ab.
»Reifer ... vielleicht. Aber gewiss nicht weiser als du. Wir bemühen uns bloß, dem Thron Ehre zu erweisen; dir ehrenhafte Nachfolger zu sein.« Der einstige König nickte stolz.
»Ich weiß, dass ihr das seid.« Beinahe vergaß er vor Anerkennung den anfänglichen Anlass. Das letzte Hallen ertönte wie ein Glockenschlag. Alle Köpfe fuhren synchron herum.
Da war er.
Ein grauer langer Bart. Eine spitze Nase. Zwei dunkle Augen. Und ein gesenktes, gefurchtes, mit schwarzen Mustern geziertes - doch offenes, warmes Gesicht. Thorin klappte der Mund auf. Seine Augen spiegelten den Goldschein. Sie schimmerten unter aufsteigenden Tränen. Tränen der Vergangenheit. Er schlich nach vorn. Dann schüttelte er den Kopf. Und schluckte.
»Mein Sohn!«, zitterte es. »Mein Sohn!« Es schluchzte - doch nicht wie die Traurigkeit der Welt. Es schluchzte so herzerwärmend, dass auch den anderen die Tränen aufstiegen.
»Vater«, hauchte Thorin. »Vater.« Thráin und Thorin traten aufeinander zu. Der ältere beäugte seinen Sohn warmen Glanzes. Und fiel ihm in die Arme. Bilbo wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Dann lösten sie sich voneinander.
Thráin stammelte: »Thorin, mein Sohn - sieh dich an.« Der Zwerg lächelte so froh, dass jeglicher einstiger Kummer des Erebors verlosch. »Meine Güte, wie du dich verändert hast! Du bist gewachsen!« Überwältigt hob Thorin - Sohn von Thráin - beide Mundwinkel.
»Aber Vater. Ich ... Ich ...« Ihm entfiel kurzzeitig jedes Wort. »Ich bin doch nicht ...«
»Oh doch, das bist du - Im Innern.« Bilbo schluckte. »Welch ein Segen, Thorin! Welch eine Wonne, dich zu sehen, mein Sohn! Wohlauf! Unversehrt ...« Erneut musterte der Zwerg seinen Sohn voller Wärme. »Kein Kummer mehr, keine Tränen. Nur wenige Narben sind uns geblieben. Doch dafür sind wir die Söhne Durins.« Geborgenheit umschloss Thorin wie eine warme Decke. Fili trat neben Bilbo und nickte ihm ermutigend zu.
Thorin bemerkte gerührt: »All die Jahre warst du so nah. All die Jahre ...«
»Ich war gedanklich immer bei dir; bei euch allen. Ich wusste immer, dass ihr es schaffen würdet - wenngleich ihr ein enormes Risiko auf euch genommen habt, den Berg zurückzuerobern. Ihr seid stark. Und du, der tapferste aller Krieger - ich könnte nicht stolzer auf dich sein.« Erneut erklang eine Melodie in Thorins Innerem. Es war die Melodie der Heimkehr. Da bewegten sie sich von ihrem Platz.
Fili, Kili und Bilbo kamen sich plötzlich recht ungelegen vor. Der Hobbit wollte schon einen unauffälligen Rückzieher machen, da kam ihm sein Gatte zuvor.
»Vater, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Der Angesprochene kräuselte die Nase. Dann brachte er eine erhobene, höfliche Haltung zustande.
»Du musst der Hobbit sein«, bemerkte Thráin. Der Hobbit. »Ich habe deine Geschichte bereits memoriert, so oft erzählt man sie sich unter dem Berge.« Bilbo versank vor Verlegenheit. Er strich sich über die Schulter und stierte in Thorins kristallblaue Augen, die ihn voller Stolz musterten.
Der Hobbit stammelte: »Mein Name ist Bilbo - Bilbo Beutlin. Aus Beutelsend. Sehr erfreut.« und machte einen kleinen Knicks. Thráin winkte ab. Dann tat er einen plötzlichen Schritt nach vorn; umarmte den Hobbit und klopfte ihm kräftig auf die Schulter.
»Ich habe gehört, du hast meinem Sohn das Leben gerettet. Mehr als einmal.«
»Ach, das war doch nur ein bisschen Hilfe. Etwas, das jeder getan hätte.« Da trat Thorin neben Bilbo. Er legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter.
»Hör nicht auf seine Bescheidenheit, Vater. Ohne ihn wären wir nicht hier. Keiner von uns.« Der Halbling schluckte von der Erkenntnis getroffen. Zum zigten Mal zogen die grausigen Bilder durch seinen Kopf: Die letzten Augenblicke der Erben Durins.
»Außerdem ... gibt es etwas, das du wissen musst.« Bilbo wurde heiß und kalt. »Du weißt, dass ich nicht länger König unter dem Berge bin. Ich verließ den Erebor aus einem bestimmten Anlass. Und dieser Anlass ...« Thorin wandte den Blick zu ihm und lächelte, »... war Bilbo.«
Thráins Augen blitzten vor Überraschung auf. Einen Moment fürchtete Bilbo, diese Neuigkeiten mochten Thráin nicht gefallen.
»Ich lebe im Auenland, mit ihm. Westlich von Bree. Ich weiß, dies mag dir ungewöhnlich erscheinen, doch ... ich weiß, dass dies mein einzig wahrer Platz ist - an seiner Seite.« Noch immer verweilte Thráins Blick. Er durchbohrte sie damit. Alle hielten die Luft an. Dann plötzlich klopfte er dem Hobbit nochmals auf die Schulter.
»Also dann ... Willkommen in der Familie; mein Junge!« Fili und Kili entfuhr ein frohes Lächeln. Auch Thorin fiel ein Stein vom Herzen.
»Familie«, dachte Bilbo. »Meine Familie.« Jeglicher Kummer, den er zuvor noch mit Balin geteilt hatte, wurde kurzweilig wie vom Wind davongetragen.
»Es erscheint mir, als sei viel geschehen während meiner Abwesenheit. Du musst mir alles erzählen!« Im Schlepptau verschwanden der Vater und Sohn hinter den Gemäuern der hohen Treppe. Thorin schenkte Bilbo noch einen letzten entschuldigenden Blick, ehe nur noch er und die beiden Herrscher in der Halle hockten.
»Welch ein Wiedersehen«, sprach Fili bewegt. »Ja ...«, hauchte Bilbo. Dann schlugen die vergangenen Sorgen doch wieder über ihm ein.
»Na komm, Bilbo. Lassen wir ihnen Zeit. Bist du erschöpft von der langen Reise?« Erst jetzt bemerkte der einstige Abenteurer das Zanken seiner tonnenschweren Glieder.
»Es geht ... sagt mal, werdet ihr auch nach Moria aufbrechen?« Die beiden Brüder tauschten einen raschen Blick aus.
»Nein, das werden wir nicht. Wir wachen über Erebor«, verneinte Fili. Bilbo nickte. Ihn verfolgte das wirre Stechen des Verlustes wie ein Schatten. Man konnte ihn betrachten, aber nie berühren: Sowie seine verlorenen Erinnerungen.
»Aber die meisten anderen sind fort. Bald auch Balin und Ori. Fürchtet ihr um sie?« Dieses Mal war es Kili der sprach: »Natürlich tun wir das. Sie sind unsere Freunde.« Ein klagendes Magengrummeln.
»Könnt ihr sie nicht aufhalten? Oder warnen?« Fili schaltete sich ein: »Das versuchten wir bereits - erfolglos. Sie werden nicht ruhen. Sie sind Zwerge. Und du weißt, wie die sind.« Allerdings.
»Aber irgendetwas werden wir doch tun können!« Bilbo legte die Stirn in Falten. Erst später bemerkte er, dass er im Kreis lief.
»Du glaubst doch nicht, dass dieses Monster wirklich existiert?«, fragte Kili.
»Nun ja, ich habe da so ein Gefühl ... Ausgeschlossen wäre es nicht.« Fili ließ von seinem Thron ab. Dann meinte er:
»Er hat recht, Bruder. Wenn Bilbo etwas sagt, dann stimmt es meistens - die Gefahr ist zu groß.« Beeindruckt unterbrach Bilbo seine Kreise. Es war wunderbar, wie sehr ihn die anderen schätzten.
Kili raunte: »Aber was sollen wir tun? Sie sind fort. Wir könnten sie nicht aufhalten, selbst wenn wir wollten.« Erwartungsvoll wandten sich die Köpfe der Herrscher zu dem einstigen Meisterdieb. Der lächelte begriffsstutzig, ehe er des Begriffes gewahr wurde.
Kili erläuterte: »Du Bilbo, sag mal; Du hast doch Erfahrung im Schleichen und Stehlen. Außerdem bist du einfallsreich. Glaubst du nicht, dass du ...«
»Nein nein nein!«, klagte Bilbo. »Ich habe erstmal genug von Abenteuern.« Fili trat vor seinen Bruder. Seine schweren Stiefel hallten ehrfurchtgebietend. Sein langer Bart lag edel um sein Kinn. Seine Bewegungen waren kontrolliert und gewissenhaft. Er gab ein fabelhaftes Bild als König unter dem Berge ab.
»Lassen wir ihn in Frieden, Kili. Bilbo hat sich seinen Ruhestand mehr als verdient. Er hat so viel für uns getan.« Bilbo nickte beschwichtigend. »Außerdem ist das unsere Angelegenheit.« Der jüngere Bruder gab klein bei. Plötzlich kam dem einstigen Meisterdieb jedoch ein Gedanke.
»Gandalf«, wisperte er.
Kili fragte: »Was sagtest du?«
»Gandalf«, verkündete er nun deutlich. »Wir könnten ihn im Rat bitten!« Kili sprang auf.
»Das ist ein fabelhafter Einfall! Zauberer wissen immer, was zu tun ist. Außerdem ist er mächtig.«
»Ich weiß ja nicht«, mischte sich Fili ein. »Er war nicht mächtig genug, Smaug eigenhändig zu bezwingen. Vermutlich kann er nicht mehr ausrichten als wir.« Thráins Enkel wusste inzwischen, wie ein König denken musste. Dass es ratsam war, jedweder Gefahr Beachtung zu schenken.
Bilbo gab zu: »Ja, sonderlich mächtig ist er vermutlich wirklich nicht. Aber ich habe da so eine Ahnung. Einen Versuch ist es wert.« Der König nickte ergebenst. Dann stapfte er zurück zu seinem Thron.
»Ich werde mich dann mal auf den Weg machen. Es war tatsächlich eine anstrengende Reise.« Der Hobbit wollte sich gerade abwenden, da folgte ihm Kili.
»Könnten wir ein Wort miteinander wechseln?«, fragte er verlegen. Bilbo nickte überrascht. Dann liefen sie durch den schmalen, nur noch spärlich beleuchteten Höhlenschacht.
»Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, Bilbo. Du weißt immer, was zu tun ist.« Bleiern und tröstlich reagierte der Hobbit. »Auf deine Meinung kann ich bauen. Und es ist, also ...«
»Spucks ruhig aus, Kili. Nur keine Scheu.«
»Also ...« Der Zwerg fuhr sich über die Schulter. Dann plapperte er plötzlich alles aus: »Es ist wegen ... einer Frau. Die schönste, edelste und eleganteste Frau der Welt. Sie ist tapfer, und mutig, und rein herzig. Sie ist alles, was ich mir überhaupt erträumen könnte.«
»Das freut mich sehr für dich!«
»Ja, nur ... gibt es da ein Problem.« Bilbo machte Halt. Thorins tiefe Stimme drang dumpf durch den Korridor. Doch man konnte nicht hören, wovon er sprach.
»Das Problem ist, nun ja, sie ist nicht ganz, was der zwergischen Kultur entspricht. Sie ist anders als wir.«
»Oh.« Thorins Stimme entfernte sich wieder. Ein mulmiges Gefühl waberte wie dichter Nebel durch Bilbos Magengegend.
»Sie ist eine ... Elbin. Ihr Name ist Tauriel. Ich habe sie bei unserem Abenteuer kennengelernt, im Düsterwald.« Ein kleines Déjà-vu erleuchtete in Bilbos Geist wie eine Sternschnuppe.
»Ich habe bisher niemandem von ihr erzählt. Doch ich weiß, dass sie die einzige für mich ist. Auch wenn wir unterschiedlich sind.« Verständnisvoll wandte sich Bilbo zu ihm. Er konnte dies zu gut nachempfinden.
»Was mache ich bloß? Was, wenn die anderen sie nicht akzeptieren? Damit meine ich nicht Fili oder unsere Freunde, sondern unser Volk. Ich werde hier doch gebraucht.«
Ja. Der Hobbit wusste, wie es war, wenn einen scheinbar zwei Welten trennten. Er kannte die missgünstigen Blicke seiner Nachbarn, als sie Thorin zum ersten Mal gesehen hatten. Konnte man zwei so verschiedene Welten miteinander vereinen? Bis heute hatte er diese Frage nicht vollständig beantworten können. Und sie verfolgte ihn bis in seine tiefsten Träume.
»Hast du vielleicht einen Rat für mich? Wo du doch, du weißt schon, du und Thorin ...« Erwachsen richtete Bilbo den Kopf auf. Balin ähnelnd sah er - obwohl Kili größer war - wie ein Mentor von oben nach unten.
Er sprach: »Ich habe nicht die perfekte Antwort für dich parat, Kili. Ich bin selbst nicht der Beste, was solche Dinge anbelangt. Aber ich weiß, dass ich meine Entscheidung, mit Thorin zu sein, nie bereut habe. Wenn es etwas gibt, von dem du weißt, dass du es tun musst - dann tu es. Folge deinem Herzen. Denn sonst wirst du es bereuen.« Kilis Augen vergrößerten sich. Dann nickte er hastig.
»Danke für deinen Rat! Das hilft mir sehr! Jetzt lasse ich dich mal zur Ruhe kommen. Man sieht sich!« Und so hastete der Sohn Durins wieder hinab.
Bilbo seufzte in sein Alleinsein. Plötzlich kam er sich schrecklich verlassen vor.
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Thorins Herz pochte vor Überwältigung. Wie im Traum schritten er und sein Vater voran.
»Ich hatte nicht zu träumen gehofft, dich wiederzusehen, mein Sohn«, schwärmte Thráin. »Als ich hörte, dass ihr in den Berg wollt, rechnete ich, um ehrlich zu sein, mit dem Schlimmsten.«
»Wer erzählte dir von dem Vorhaben?« Sie passierten die letzte schmale Stelle, ehe sich über ihnen der Nachthimmel ausbreitete.
»Frau Galadriel. Sie rettete mich in Dol Guldur. Sie war gerade rechtzeitig zur Stelle - wenige Augenblicke später und es wäre vorbei gewesen mit mir.« Thorin schluckte wissend. »Ich fürchtete um dich. Eigentlich hättet ihr den Berg niemals betreten sollen. Denn die Drachenkrankheit wütet vermutlich noch immer in diesen Hallen. Ich dachte, sie würde dich überkommen.«
Der Sohn räusperte sich. Dann fiel sein Blick hinaus, über den Rand des Aussichtspostens. Die Stadt Thal flimmerte wie kleine Kerzen in der Ferne. Das Auenland lag weit hinter dem Horizont versteckt. Die kleine, gemütliche Hobbit-Höhle mit dem wunderbaren, warmen Kamin. Und Bilbo und er ...
»Das hat sie auch«, gab er zu. »Ich verlor die Kontrolle über mich. Doch ich war nicht allein. Das rettete mich.« Thráin nickte stolz.
»Du hast sie tatsächlich besiegt. Du bist der Erste, der sie je eigenständig überwunden hat.« Sie stellten sich ganz an den Rand. Die Luft war glasklar und wohltuend. Nur ein Deut eisernes Kriegsblut meinte der Zwerg noch in der Luft zu riechen.
»Das war nicht mein Verdienst.«
»Wessen dann?« Thorin zögerte. Dann seufzte er: »Bilbos. Es stimmt, was du sagtest: Ohne ihn wäre ich lange nicht mehr am Leben.«
»Du lebst jetzt mit ihm, bei den Hobbits?«
»Ja, das tue ich.« Der Ältere nickte.
»Ich sah dich immer auf dem Thron. Du warst schon damals ein stolzer Prinz. Königlich. Majestätisch. Und ehrfurchtgebietend. Jeder sah zu dir auf.« Thorin wurde flau zumute. »Du hast dich sehr verändert, mein Sohn.«
Der Jüngere senkte die Schultern; stierte auf den metertiefen, trockenen Abgrund und träumte. Von all seinen Erinnerungen. All den Jahren, die er in Erebor zugebracht hatte. Als alle ihn noch Prinz genannt hatten. Wo wäre er wohl, wenn Smaug das Königreich nie heimgesucht hätte? Er wäre Bilbo nie begegnet.
Da setzte Thráin hinzu: »-zum Guten. Damals wirktest du stets, als würde die Last der Welt auf deinen Schultern weilen. Heute ist es, als hätte man dich davon befreit.« Erleichtert atmete Thorin aus. »Ich glaube, der Thron war nie für uns beide bestimmt.« Nachdenklich fuhr Thorins Kopf hinauf.
»Willst du nicht zurückkehren? Wieder regieren? Nach unserer Thronfolge steht es dir zu.« Thráin schüttelte heftig den Kopf. Seine Augen wirkten fade und müde.
»Nein, diesen Posten überlasse ich lieber den jüngeren Zwergen. Meine Enkel wissen schon, was sie tun.« Grillenzirpen rauschte durch die Luft. Mit einem Mal zog eine Briese auf. Sie pfiff und keuchte.
»Was wirst du stattdessen tun?«, fragte Thorin vor Gedanken kauernd.
»Das, was jeder Zwerg heutzutage tut - Ich gehe fort, unsere Heimat zurückerobern.«
»Nein«, keuchte der Sohn. »Das kannst du nicht meinen.« Schleier wirbelten durch seinen Geist. Nebelschwaden mit halb verdeckten Bildern. Etwas stimmte ganz und gar nicht. »Geh nicht nach Moria.«
»Aber Thorin, mein Sohn. Für mich existiert keine Zukunft in Erebor. In Khazad-Dúm könnte ich einen Neuanfang wagen. Ein neues Leben beginnen. Ähnlich wie du.« Das Grillenzirpen verschärfte sich. Der Mond lag nun gespenstisch am Himmel. Er hatte die Farbe gewechselt. Er war blutrot.
Prompt krächzte Thorin: »Nein, geh nicht! Nicht, ehe die Minen als sicher befunden werden. Wir haben bereits zu viel riskiert. Ich ... Ich möchte dich nicht verlieren, jetzt, wo ich dich wiedergefunden habe.« Gerührt blickte Thráin zu seinem Sohn.
»Du hast dich verändert. Ich bin stolz auf dich«, wiederholte er. Nachdenklich richtete sich der Graubärtige auf. »Ich kann deine Sorgen nachvollziehen. Doch wo ein Zwerg hingeht, folgen alle anderen. So verhält es sich in unserer Gemeinschaft. Vielleicht wünschst auch du eines Tages alte Hallen zu erblicken, doch ich wünsche bloß dein Glück.«
Der Sohn Durins schluckte schwer und presste beide Hände gegen die steinerne Mauer. Wollte sein Vater, dass er ihm folgte? Ausgeschlossen. Doch mit einem Mal kam es ihm vor, als wäre sein Herz nicht mehr eines. Es war, als schlage es an zwei Orten zugleich.
»Ich wünsche dir eine erholsame Ruhe, mein Sohn. Ich bin so glücklich, dich wieder um mich zu wissen.« Thorin erwiderte die Wünsche knapp. Er wandte sich ab. Wie ein Murmeltier schlich er über die kalten Treppen. Die steilen, düsteren, einsamen Pfade des Königreichs hinauf. Zu seinem Raum.
Ein gurgelndes Brummeln flog in Thorins Ohren. Er schlief bereits tief und fest. Obgleich sein Geist kopfüber stand, hob der Zwerg beide Mundwinkel. Auf Zehenspitzen schlich er über das kalte Gestein.
Sorgsam ließ Thorin sich auf der Bettkante nieder. Und beobachtete Bilbo, wie er es einst getan hatte. Wovon träumte er? Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Niedlich, doch zugleich anmutig.
Thorins Herz war schwer wie ein Stein. Kalt und zerrissen wie der Arkenstein einst. Doch ebenso leuchtend.
Vorsichtig strich er durch Bilbos weiches Haar. Und seufzte. Nur der rote Mond schien seinen Gedanken zu lauschen.
So verweilte Thorin noch lang.
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