Ein letztes Mal
»Wenn der letzte Sandkorn zu Boden fällt, ein Licht die dunkle Nacht erhellt. Das Relikt erlischt für immer da, doch bleibt das einst Geschehene wahr. Der eine muss das letzte Licht entfachen, doch wird ...«
Kyria stockte erneut. Sie nahm einen tiefen Atemzug, starrte auf den schattigen Boden, blickte wieder hinauf und seufzte einmal. Dann erklang ihre Stimme:
»... doch wird er ohne Erinnerung erwachen.«
Gandalf atmete scharf ein. Galadriel starrte mit versteinerter Miene auf den blassen Arkenstein. Tauriel und Legolas standen noch immer Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Und Thorin ...
»Was bedeutet das?«, brüllte der König hektisch. »Was bedeutet das!« Zornige Verzweiflung lag in seiner Stimme. Gandalf trat auf den Zwerg zu und sprach heiser:
»Es bedeutet wortwörtlich, was sie sagt.«
Galadriel versuchte die Situation zu entschlüsseln:
»Wird der Arkenstein zerstört, verschwindet auch alles, was mit seiner Magie erschaffen wurde. Jedoch fungiert er metaphorisch. Statt seine Magie und damit die Welt zu zerstören, kann er als Ersatz etwas anderes von seinem Meister verlangen.«
Sie schloss kurz die Augen.
»Bilbo Beutlin und das Relikt sind miteinander verwoben. Nur er kann das Schicksal der Welt abwenden.«
»Doch das Relikt entscheidet nicht leichtfertig über seine Zukunft«, fuhr Gandalf fort. »Es hat seine Aufgabe erfüllt. Seine Zeit ist um.«
Da sprach Kyria mit schwacher Stimme:
»Galadriel hat recht. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, die Welt zu erhalten. Jedoch muss Bilbo einen hohen Preis zahlen.«
Der schwache Hobbit hatte jedes Wort gehört. Wenngleich seine Gelenke schmerzten und sein Bewusstsein vernebelt war, erhob er sich um einige Zentimeter. Er sprach:
»Ich tue es.«
Thorin fuhr herum.
»Ich gebe meine Erinnerungen auf. Ganz gleich, was ihr von mir verlangt.« Sein Kopf sank wieder.
»Nein!«, klagte Thorin mit rauer Stimme. Es war, als würde sein Herz versinken. Mit aller Kraft schüttelte der Halbling den Kopf.
»Thorin, ich - wir - haben das alles nicht umsonst durchgestanden.« Bilbos blassen Augen blickten bestimmt in die des einen. »Wenn die Welt verschwindet, dann verschwindest auch du.«
Der Zwerg schaute in sein Inneres. Er schluckte, als er das Ausmaß dieser Entscheidung erkannte.
Zitternd fuhr Bilbo fort:
»Vielleicht vergesse ich, wer ich war, aber du lebst weiter. Du besitzt den Erebor, du bist König. Nichts anderes habe ich mir je für dich gewünscht.«
»Aber wenn du vergisst« - Thorins Stimme erstarb -, »dann vergisst du auch uns. Alles, was wir gemeinsam durchgestanden haben.«
Die Elben und der Zauberer blickten den beiden mit gesenktem Kopf entgegen. Kyria drehte sich herum und stapfte unruhig nach links und rechts. Der Arkenstein in Galadriels Händen wurde von einer neuen, schwarzen Wolke heimgesucht. Legolas und Tauriel führten Malio zurück zum Königreich. Alle wandten sich von ihnen ab und überließen den beiden den Moment.
Mit heller Stimme und einem tiefen, fürsorglichen Blick flüsterte Bilbo:
»Aber du, du wirst dich erinnern. Du wirst leben, Thorin. Die Welt hält noch so viel für dich bereit. Deine Geschichte ist nicht geendet, an jenem Tage. Sie geht weiter und du musst sie schreiben.«
Feuchtigkeit schimmerte in den saphirblauen Augen des Zwergenkönigs.
»Ich habe das alles nur für dich getan. Nur für dich habe ich die Zeit zurückgedreht. Um dich ... zu retten.«
Bilbo hustete lautstark.
»Ich habe es getan, weil ... weil du mir alles bedeutest.«
Aus tief bewegten, glitzernden Augen blickte Thorin auf Bilbos schwaches Angesicht.
»Was geschieht dann mit uns?«, fragte er blass.
»In deiner Erinnerung werden wir ewig sein«, wisperte der einstige Meisterdieb.
»Und du? Was wird aus dir?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es schaffen. Ich bin schließlich ein Beutlin. Ein Beutlin, der Geschichten schätzt, sowie die Gemütlichkeit seines Sessels. Die Abenteuer waren unglaublich, aber ich denke, ich habe mir meinen Ruhestand verdient.«
Zerrissenheit stand Thorin ins Gesicht geschrieben.
»Das ist also, was du willst? Du willst zurückkehren nach Beutelsend?«
»Ich habe es nicht gewollt. Doch jetzt glaube ich, es ... es wäre das Beste. Für uns beide. Denn ich werde nicht mehr der Gleiche sein. Ich möchte nicht als jemand anderes zurückkehren. Und ich möchte euch - dir - nicht zur Last fallen. Ihr sollt mich nicht in diesem Zustand betrachten müssen.«
Mit bemühter Akzeptanz nickte Thorin. Der Schmerz in seinem Gesicht, so tief wie eine offene Wunde, war unverkennbar in tiefe Gesichtszüge gelegt.
»Wenn du es so wünschst.«
Tröstend fuhr Bilbo fort:
»Und du wirst zum Erebor zurückkehren. Du, der einzige König unter dem Berge. Versprichst du mir, dass du weiterleben wirst?«
Thorin schluckte bemüht. Lange zögerte er, ehe er die nächsten Worte hervorbrachte:
»Ich verspreche es.«
Dann deutete Thorin auf die smaraggrüne Brosche an Bilbos roter Strickjacke. Liebevoll sagte er:
»Ich möchte, dass du sie behältst. Als Andenken. Vielleicht blickst du eines Tages auf die Bäume in deinem Garten und träumst: Von einem weiteren Abenteuer mit dreizehn Zwergen und einem verrückten Zauberer.«
Ein vorsichtiges Lächeln kennzeichnete den Blick des Hobbits. Zum letzten Mal strich Thorin durch sein lockiges Haar. Zum letzten Mal berührten sich ihre Lippen. Zeitlosigkeit ergriff sie. Dann fielen Bilbos Augenlider plötzlich wieder hinab.
»Schnell!«, rief Thorin mit hoher Stimme. Galadriel stürmte im fliegenden Kleid auf sie zu. Hastig berührte sie die Stirn des Hobbits. »Er glüht!« Ihr Kopf fuhr in die Höhe. »Kyria! Komm her! Ich benötige deine Hilfe!«
Die Elbin kam ihr rasch, mit gesenkten Schultern entgegen, samt dem Arkenstein. »Er muss das Relikt in den Händen halten«, erklärte Kyria hastig. Mühevoll bewegte Bilbo die Augenlider nach oben. Seine Arme hievten seinen schweren Körper hinauf. Thorin hielt ihn bei der Hand und stützte ihn unentwegt. »Währenddessen werde ich die Prophezeiung wiederholen.«
Zitternd griff Bilbo nach dem Relikt. Es fühlte sich so kalt wie Eis an. »Hör zu, Bilbo, es ist alles in Ordnung. Du musst gar nichts tun, außer dich zu erinnern. Zu erinnern an alles, was während der Zeitreise geschehen ist«, beendete die mystische Kyria mit den smaragdgrünen Augen.
»Ich verstehe«, brachte Bilbo mühselig hervor. Ein letztes Mal spürte er die Wärme von Thorins Hand. Zum letzten Mal vernahm er seinen Atem. Sah seine schimmernden, wundervollen, blauen Augen, in welchen er ewig versinken wollte. Sie sprachen von Trauer. Lautlos flüsterten sie, was sie beide wollten. Doch der Zeitreisende hatte seine Entscheidung getroffen. Es war besser so. Schweren Herzens ergriff er das schwach leuchtende Relikt und ließ die Hand des anderen schmerzlich los. Er sprach: »Ich bin bereit.«
Einmal noch kam Thorin der Gedanke, das Geschehen zu unterbrechen. Zu hoffen, dass es eine andere Lösung gäbe. Doch er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Sollte der Arkenstein erlischen, würde es auch für Bilbo keine Zukunft geben.
Bilbo gab nicht zu, wie sehr er sich vor dem Nichts der Erinnerungslosigkeit fürchtete. Fest schloss er beide Augen. Kyria zitterte: »Denk an alle Augenblicke, die dir jemals kostbar waren. Momente, in denen du dich lebendig gefühlt hast.«
Alles, was er danach vernahm, war Kyrias prophetisches Flüstern, das unverständlich im Hintergrund erklang. Die Bilder vor seinem inneren Auge wurden realer als die Wahrnehmung seiner Sinne.
Ein letztes Mal vernahm er ein dumpfes Klopfen an seiner grünen Tür. »Bilbo, alles in Ordnung?«, fragte Gandalf, ehe der Hobbit bei Thorins Anblick zu Boden fiel.
Zum letzten Mal durchritt er die grünen Weiten Mittelerdes, Seite an Seite mit dreizehn Zwergen und einem Zauberer. »Also gut, ich werde dich nicht mehr bitten zu gehen«, flüsterte Thorin in der Stille einer pechschwarzen Höhle.
»Meister Beutlin. Ich habe diese Feier für dich veranstaltet, weil ich, wie du bereits weißt, sehr dankbar bin, dass du ein Teil der Mission bist. Du bist eine große Bereicherung für uns und demnach gebührt dir unsere größte Wertschätzung«, vernahm Bilbo Thorins Worte.
Ein einziges Mal kämpfte er gegen Trolle, Spinnen, Orks und einen Drachen. Ein Mal noch erlebte er die Zeit gemeinsam mit Thorin. Kämpfte an seiner Seite, während die Welt um sie herum verschwand. Verlor sich in seinen Augen. Umarmte ihn. Das war alles, was er je gewollt hatte.
»Du bist ... so viel mehr als das«, hallten Thorins Worte in seinem Inneren nach. Wie ein Echo, von einem fernen Berg, zu ihm zurück schallend.
Dann wurde alles ganz still. Ein weißes Licht breitete sich aus, verschluckte von Sekunde zu Sekunde jeden Winkel der Welt. Die letzten Worte, die Bilbo hervorbrachte, waren: »Ich liebe dich, Thorin.«
Dann verschwand alles in einem ewigen Nichts.
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Hi
Ich werde ab jetzt zwei Kapitel pro Woche veröffentlichen.
Außerdem habe ich angefangen alle - besonders die ersten Kapitel der Geschichte - zu überarbeiten, da mir mein alter Schreibstil nicht mehr gefallen hat und ich das schon lange mal machen wollte. Aber keine Sorge, ich lösche und verändere nichts grundlegendes an der Handlung, sondern füge im Gegenteil, wenn ein paar kleine Details hinzu. Also falls ihr euch je wieder in den Beginn der Geschichte einlesen möchtet, wird es euch vielleicht auffallen.
Die Geschichte neigt sich nun langsam dem Ende entgegen. Ein paar Kapitel folgen aber noch.
Also bis bald
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