Der Anblick des Erebors
Die Welt drehte unaufhörliche, riesige Kreise. Mit beiden Händen klammerte Bilbo sich an dem steinernen Gefäß fest, doch sein Schwindel verstärkte sich zusehends. Hinzu kam das Zittern, welches ihm den Sinn für das Oben und das Unten nahm.
Da war die Elbin in einer Millisekunde neben ihm aufgetaucht. Sie reichte ihm ein blattförmiges Gefäß mit einer schillernden Flüssigkeit. Erst als er auf der ebenen Umrandung Platz gefunden hatte, konnte er seinem Atem folgen.
»Wird es geschehen? Das, was ich gesehen habe?«, sprach seine stockende Stimme. »Das mag sein«, hallte Galadriels mystische Stimme durch den Raum, doch ihre Lippen bewegten sich nicht. Geheimnisvoll beugte sie den Kopf zur Seite. »Oder es mag nicht sein.« Da machte sie sich kleiner, beugte sich vor und brachte ein echtes, tröstliches Lächeln zustande.
»Auch dein Neffe hat einst die Visionen des Spiegels erblickt.« Bilbo horchte auf. »Er hat bewiesen, dass wir alle unser eigenes Schicksal in den Händen halten.« Suchend stahlen sich Bilbos Augen durch den Raum. »Frodo?«, stotterte er. »Das heißt, er war auch in Eurem Reich. In Lórien?«
»Ja.«
»Aber wieso habt Ihr nichts gesagt? Wieso habt Ihr nicht gesagt, dass ihr von der Zeitreise wusstet?«
»Nun, es war nicht der rechte Zeitpunkt.«
Da erhellte sich der Raum. Riesige Fenster in Neonfarben warfen Muster auf den Boden. Die Formen von Diamanten, Blättern, Blumen und Sternen.
»Es war dir vorherbestimmt, den Lauf der Zeit zu wandeln, Bilbo Beutlin. Eine Gabe, wie sie noch niemandem zuteilgeworden ist.« Da erhob sich Galadriels Gestalt und flog nahezu auf das magische Gefäß zu.
»Aber wieso? Wieso ich?« Ihre Augen blickten auf die klare Wasseroberfläche, die im Sonnenlicht zu brennen schien. »Die Antwort kennst du bereits. Sie liegt versteckt in des goldenen Schleiers, den du lichtetest«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen. Bilbo schluckte. Sprachen Elben immer in Rätseln?
»Wie viel Zeit bleibt mir noch?«
»Nichts ist je in Stein gemeißelt. Vergeude keinen Gedanken an ein Vielleicht, sondern handle so, wie du es immer getan hast. Mit Ehrlichkeit und Mut.« Wieder hallten ihre Worte nach, während die Welt sich überschlug. Während jede Distanz schier endlos wurde und alles außerhalb der Wände unerreichbar erschien.
Der Boden schien wieder an Dichte zu verlieren. Beinahe befürchtete Bilbo, ihn ebenso verschwinden zu sehen wie die Wände in seiner Vision, ehe auch er ... Ehe auch die ganze Welt verschwinden würde. Alles, wofür er mühselig gekämpft hatte. »Reiß dich zusammen«, ermahnte sich Bilbo.
»Ich weiß nicht, ob ich all dem gewachsen bin«, beichtete er. »Bis hierher mag ich es geschafft haben, aber ohne des Glückes Geschick würde ich wohl kaum hier sein, oder?«
»Und doch war kein Zweifel je stark genug, dich von deinen Vorhaben abzubringen. Es war mehr als Glück, was deinen Weg gesäumt hat.« Der Raum war nun in jeder Ecke von glitzerndem Sonnenlicht erfüllt. Die Muster auf den hölzernen Fliesen wirkten, als würden sie einen Tanz tanzen - ein Eigenleben entwickeln. All das war Magie, das wusste Bilbo, denn mehr als einmal hatte er die Wunder seiner Welt erleben dürfen. Allein seine Anwesenheit hier überzeugte ihn von der Größe all jener Geschehnisse.
Galadriel verschwand durch einen mit Büchern gesäumten Geheimgang und tauchte am anderen Ende des Raumes wieder auf, beinahe schwebend. Bilbo kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen, dass er richtig sah: In ihren Händen hielt sie den vertrauten Gegenstand fest umklammert.
»Nimm ihn.
Verwahre ihn.
Schütze ihn.«
Das seidene Tuch war warm und ließ noch immer keinen Funken Licht entweichen. Der Arkenstein, das Herz des Erebors, Thorins Erbe, offenbar der Schlüssel zur Umkehrung der Zeit, lag jetzt nach unsäglichen Ewigkeiten erneut in Bilbos Händen.
Sein Hals wurde trocken, seine Zähne bissen leicht auf seine untere Lippe. Ehrfurcht erfüllte jeden Teil seines Wesens und obgleich er wünschte, den Anweisungen der Elbin Folge zu leisten, so wünschte er ebenso, sie würde ihn wieder weit weg bringen von dem Arkenstein; dorthin, wo ihn niemals jemand finden konnte. So viel Unheil hatte er einst angerichtet.
»Das Relikt ist nun dein, Bilbo Beutlin. Halte dein Schicksal in beiden Händen. Wirst du dich an meine Worte erinnern?«
~~~
Der Himmel war von einem wirren Schleier bedeckt, welcher das Licht in ein fernes Grün tauchte. Aus einer anderen Welt war es, aus einer anderen Zeit. Und doch war es meilenweit entfernt von ihren Köpfen, während es bedrohlich auf sie hinab stierte wie ein Monster, welches noch nicht entschieden hatte, ob es sie angreifen oder verschonen mochte.
Das Pochen Bilbos Herzens war einem regelmäßigen Puls gewichen. Dennoch lag auf seinem Gesicht nichts als ein monotones Schweigen. Als wäre es aus Stein, besaß es keinerlei Mimik und seine Augen waren leer. Nur seine Hände waren von einem Zittern begleitet, während sie ganz von selbst das müde Pony lenkten. Der Stein in seiner Tasche schien zudem ein beachtliches Gewicht zu haben.
Seit ihrem Erwachen hatte keiner ein Wort gesprochen. Fünf Stunden waren seitdem vergangen. Die Erkenntnisse von Bilbos Vision - die er jedes Mal, wenn er daran zurückdachte, mit Sorgfalt auszuradieren versuchte - hatte er unter festem Verschluss gehalten. So trotteten sie dahin. Das Ziel, nur noch zwei Stunden in Ferne.
Die rauen Stämme der uralten Bäume verschmälerten sich und am Ende des Waldes waren nichts als mit schweren Tropfen gefüllte Wolken, welche bald zu weinen beginnen würden. Da wurde die Stille schmaler, als Kyrias blasses Gesicht neben seinem auftauchte. Die Vorstellung ihres Wiedersehens, die Erinnerung, die Bilbo unentwegt verfolgte, ließ ihn für einen Augenblick schweben, nur um ihn dann Meter für Meter in einen Abgrund zu stürzen. Nein, an die Vision konnte und wollte er nicht denken, also versuchte er lieber, sich gar nichts vorzustellen.
»Du hast sie gesehen, hab ich recht? Eine Vision?«, fragte Kyria. Bilbos Kopf wanderte leicht in ihre Richtung, doch seine Augen wichen den ihren aus.
»Ja«, brachte er knapp hervor. Seine Stimme klang lautlos und dumpf, als hätte jemand seinen Mund mit einem Tuch verbunden.
»Also enthielt sie keine ... gute Botschaft?« Stumm und langsam wanderte der Kopf des Halblings nach oben und unten. Dabei kräuselte er die Nase und versteckte das Grau in seinen Augen. Die Wahrheit, nichts als ein ewiges Echo.
»Es tut mir leid«, sagte Kyria. »Ich habe nicht um die Gefahren des Arkensteins gewusst. Ich wusste nicht, dass so etwas geschehen kann; dass er seine Kräfte verlieren würde.«
»Schon in Ordnung«, antwortete Bilbo mit einem verkrampften Lächeln. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nichts von alledem ist deine Schuld.«
Das Gesicht der Elbin war von Zweifeln geprägt. »Aber ich ...«
»Nein, Kyria. Du hast es nur gut gemeint. Ohne dich wäre ich nicht hier, hätte ich all das nicht erleben können. All die neuen Erfahrungen, die ich machen durfte. All die neuen Chancen, die ich erhalten habe. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Mehr als ich je in Worte fassen könnte.«
Ein wenig Farbe malte sich auf das Gesicht der Elbin, welche nun ebenso wie der Hobbit das Grau der Luft zu überspielen versuchte.
Da geschah etwas, das dem Hobbit beinahe den Atem stahl und ihm kurz Frieden brachte. Der Anblick des Erebors rückte in sein Sichtfeld. Hoch oben am weiten Horizont. Der Herzschlag des Hobbits beschleunigte sich. Ein Hauch der inzwischen seltenen Sommerluft stieg in seine Nase.
»Mittelerde ist wundervoll«, bemerkte Kyria. »Auch ich habe neue Erfahrungen machen dürfen. Wärst du nicht gewesen, hätte ich Valinor wohl nie verlassen.«
»Ja«, stimmte Bilbo ihr zu. »Der Erebor ist - er ist wirklich etwas Magisches.«
Dort oben war er: Thorin. Das einzige, was sie noch trennte, weniges Uhren-Ticken.
Ja, Bilbo fürchtete die Zukunft mehr als jeden Drachen; jede Gefahr, der er jemals begegnet war. Doch der Hobbit wusste auch, dass er, nur für den Moment, wieder in Thorins tiefblaue Augen blicken konnte. Und wenn dies so schnell vergänglich war, dann musste es eben so sein. Dennoch war es alles, was Bilbo wünschte. Es war mehr als das Rauschen tausender Sanduhren.
So folgte er dem Pfad.
~~~
»Eine Wolkenfront türmt sich auf. Bald wird der Regen fallen«, bemerkte der Berater des Königs. Augenblicklich fuhr Thorin herum.
»Man könnte meinen, jemand hätte dich hier eingesperrt. Solange, wie du hier schon stehst.« Tatsächlich starrte Thorin bereits seit Stunden aus dem kreisrunden Fenster und beobachtete das Schwirren der Vögel sowie die Menschen, die dem Pfad nach Thal zu folgen schienen. Auch ihr Leben hatte offenbar einen Wandel durchgemacht. Doch viel mehr klebte sein Blick an dem fernen Horizont, zwischen den Bäumen - dem in Richtung Süden führenden Pfad.
»Ich sehe, wonach du suchst. Mache dir keine Sorgen, Bilbo wird bestimmt bald hier sein. Doch das Essen steht bereit, alle warten. Du musst halb verhungert sein.«
»Ich habe keinen Appetit«, brummelte der Schwarzhaarige. Seine Augen wendeten sich von Balin ab.
»Ich möchte nicht verpassen, wenn Bilbo ... Ich meine, der Meisterdieb eintrifft. Es wäre doch eine Schande, wenn niemand ihn begrüßen würde. Er soll nicht denken, man hätte seine Einkunft vergessen.«
»Nun, das wäre tatsächlich fatal.« Der Weißbärtige schmunzelte, ehe er sich im Kreis drehte.
Einige Blätter Papier lagen verstreut auf dem Boden. Der sonst makellose Samtteppich war mit Staub bedeckt. Das Haar des Königs war von Knoten geziert. Der andere Zwerg vermied es, auf das Chaos einzugehen. Stattdessen verließ Balin den Raum und brachte ihm in Windeseile einen Teller mit frischer Fleischsuppe.
»Bleib ruhig, wenn du es wünscht. Falls du doch noch Hunger haben oder sonst etwas benötigen solltest, sind wir da.« Thorin betrachtete die qualmende Schale. Er nickte einmal dankend, ehe er sich erneut der Aussicht widmete.
Drei Tage waren vergangen. Drei endlose Tage. Und während jeder auf ihn eingeredet, Balin mit ihm ausführlich alle Details der anstehenden Krönungszeremonie besprochen hatte, war doch keine der Voraussichten in Thorins Gedächtnis haften geblieben.
Ein Traum hatte Thorin immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Immer wieder hatte er in Bilbos Buch - in seinen Briefen gelesen. Und dann hatte der König letzte Nacht Bilder gesehen, deren Erscheinung unvergesslich war. Wie eine Vision. Ein Stechen wie jenes eines Schwertes hatte ihm die Luft gestohlen und ihn hierhergeführt. Seitdem war Thorin nicht einen Schritt gewichen. Nicht eine Sekunde konnte er das Fenster aus den Augen lassen.
Minuten vergingen, der Wind pfiff und sang ein melancholisches Lied. Dann erfüllte sich Balins Prophezeiung und der Himmel begann zu tränen. Schwere Tropfen fielen mit einem lauten Plätschern auf den steinernen Abgrund - welcher von hier oben nicht mal zu erspähen war. Die Luft war von einem diesigen Schleier erfüllt und verdunkelte sich, bis kein Funke der Sonne zu erahnen war.
Als die Zeit viele, viele Meter gerannt war, geschah es jedoch plötzlich: Drei ferne Gestalten zeichneten sich am Horizont ab. Wie Geister schienen sie in der Landschaft zu verschwimmen. Erst später konnte er das Grau der Ponys erkennen und dann ...
Schneller als der Wind stürmte Thorin los. Ein Wassertropfen traf sein Auge, doch heute störte ihn nichts. Schnell hatte er das Tor durchquert. Thorin erreichte den sandigen Pfad, welcher sich durch den Regen mehr als Schlamm definieren ließ.
Da setzte sein Herz einen Schlag aus. Der Zwerg hatte das warme, erdfarbene Braun seiner Locken erkannt. Ganz automatisch erhoben sich Thorins Mundwinkel. Machtlos war er dagegen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht direkt vorauszulaufen.
Aus der Ferne beobachtete Thorin, wie sie sich voneinander verabschiedeten: der Zauberer, diese seltsame Elbin und Bilbo. Gandalf ritt nach links, führte das Pony mit sich, und die Elbin verschwand, als hätte der Wind sie mit sich getragen. Da fuhr der Kopf des einen herum.
Erst jetzt hatte Bilbo auch ihn erkannt; sein Ausdruck verwandelte sich in etwas Neues, doch so Vertrautes. Je näher Bilbo ihm kam, desto seltener schienen die Tropfen zu fallen, desto heller erschien der Himmel, und auch der Wind musste sich beruhigt haben. So kam es ihm jedenfalls vor, als sie beide aufeinander zuschritten. Ihre Gesichter waren erfüllt von ein und demselben Gedanken. Dann trennten sie nur noch zwei Meter.
Das Lächeln auf Thorins Gesicht hatte sich verbreitert. Voller Neugier betrachtete er den Halbling, während sein Herzschlag unkontrolliert dahin rannte. Bilbos Haare waren sandig, seine rote Jacke schmutzig. Auch auf seinem Gesicht lag ein offenes Strahlen, doch stach die Blässe Thorin ins Herz. Das Gesicht war gänzlich weiß, die Augenränder tief.
»Hallo Thorin«, brachte Bilbo hervor. Sogar seine Stimme klang heiser.
»Hallo Bilbo«, antwortete Thorin mit warmer Stimme. Da entschwand dem Gesicht seines Meisterdiebs ein wenig Traurigkeit.
Ohne ein weiteres Wort, ohne einen weiteren Gedanken, tat er es einfach. Thorin machte einen Schritt auf Bilbo zu. Er öffnete die Arme und schenkte dem Halbling eine Umarmung. Jegliche Kälte wich.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte Thorin sanft.
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Dieses Mal hat es leider wieder sehr lange gedauert mit der Veröffentlichung, was mir sehr leid tut.
Von nun an versuche ich die weiteren Kapitel wöchentlich zu veröffentlichen.
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