Twenty-one
Twenty-one
Ihr Atem ging schwer und sie fühlte sich, als wäre es verboten, zu sprechen. Oder den Mann neben ihr auch nur anzusehen, der genau wie sie an die trostlose Decke eines Zuges starrte, in dem er lebte.
„Du wirst fahren", sprach Jacob plötzlich mit einem Puls aus, der ihm womöglich Bluthochdruck bescheren wird.
Rose wandte den Blick von der Decke ab und richtete ihn auf ihn, sah ihn mit einer Mischung aus Verletzlichkeit, Verlegenheit und Ungläubigkeit an.
„Du musst fahren." Der Assassine atmete tief ein. „Du... hast es besser verdient als dein Leben in einem Zug zu verbringen und mittellos durchs Leben zu irren." Seine Lippen pressten sich zusammen. „Du hast mehr verdient als mich."
„Jacob-" Rose drehte sich, stemmte sich auf ihre Ellenbogen hoch, um ihm ordentlicher ins Gesicht sehen zu können.
„Nein, nicht." Er schüttelte den Kopf und packte ihre Hand, bevor sie sie auf seinen Brustkorb legen und drüberstreicheln konnte.
Seine braunen Augen starrten Endgültigkeit aus. Als schien er wirklich von dem überzeugt, was er sagte.
„Ich... bereue keine Sekunde, Rose." Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment ein Stück nach oben. „Aber... du verdienst einen Mann, der bereit ist, dir alles zu geben und jeden Wunsch von den Lippen abzulesen." Er seufzte, zog ihre Hand zu seinem Mund. „Du wirst morgen in diese Kutsche steigen. Und nicht zurückblicken."
Rose war im Inbegriff, den Kopf zu schütteln, aber er wirkte in diesem Moment verletzlicher als sie.
„Tu es mir zuliebe", bat er sie plötzlich. „Ich bitte dich nie wieder um etwas. Nur bitte... steig in diese Kutsche und blick nicht zurück, Rosabella."
Ihre Sicht begann zu verschwimmen.
Sie hatte gehofft... nach allem... war seine Antwort noch immer ein nein.
Mit einem Schniefen legte sie sich wieder hin, atmete tief ein und bettete ohne zu fragen ihren Kopf gegen seine Schulter.
Stille breitete sich wieder zwischen ihnen aus und mit schweren Atemzügen begann der einundzwanzigjährige der siebzehnjährigen durch ihre Wellen zu streichen und ab und an über ihren Arm.
„Versprichst du es mir?", hakte er nach einer Ewigkeit leise nach und Rose gab einen tiefen Seufzer von sich.
„Ich verspreche es", sprach sie schluckend und sich zwischendurch räuspernd aus.
Und das war das letzte, an das sich die junge Dame erinnerte, bevor sie ihre Augen schloss.
Der Morgen war trüb als Rose ihre Augen wieder öffnete.
Sie streckte sich leicht, sah ohne Vorahnung neben sich und runzelte ihre Stirn.
Der Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte, lag nicht neben ihr.
Zunächst blieb sie noch ein paar Minuten liegen, hoffte, dass er vielleicht gleich zurück ins Bett käme.
Es war für sie ungewohntes Terrain, zumal sie sich letzte Nacht etwas erlaubt hatte, was sie sich niemals hätte erlauben dürfen.
Sie hatte ihre Unschuld – ihre Reinheit – einem Mann geschenkt, der sich ihr Vertrauen nicht nur verdient, sondern sich auch noch in ihr Herz gestohlen hatte.
Nur beide wussten, es würde nichts an der Tatsache ändern, das Rose nun wieder nach Hause musste, wo sie offiziell nicht länger verlobt war – und ihm das Versprechen gegeben hatte, nicht zurückzublicken.
Ihr Vater musste einen nächsten Ehegatten für sie finden. Jemanden, der geeigneter war als Daren Pitsbur.
Als Rose saß und die Tagesdecke mit sich zog, mit der Jacob und sie sich in der letzten Nacht eingedeckt hatten, schwindelte ihre leicht.
Dies ignorierend stand sie auf und kämpfte sich im Wagon vor. Sie schluckte als sie eines ihrer Tageskleider vor sich fand. Fein säuberlich über die Kommode gehängt, auf dem sie sich in Jacob gestern Nacht verloren hatte.
Sie lief zu ihrem Kleid, zog ihre Augenbrauen zusammen als sie darauf den kleinen Zettel entdeckte. Er war an eine Rüsche gehängt, mit einer feinen kleinen Nadel – einer Haarnadel.
Zwing mich nicht dazu, mich von dir zu verabschieden.
Ihre Sicht verschwamm als sie die Zeile zweimal schnell las.
Hieß dies trotz allem, dies wäre ihr Ende? Dass er sich davonschlich und nicht einmal Lebewohl sagen würde?
Rose wusste, sie hatte sich nicht erhoffen können, bei Jacob zu bleiben. Doch sie hatte gehofft, so würde sie ihn nicht in Erinnerung behalten. Als jemand, der ihr nicht unter die Augen treten konnte, nachdem er ihr die verheißungsvollste Nacht ihres ganzen Lebens geschenkt hatte.
„Frye!" Rose fuhr zusammen und ließ den Zettel fallen als eine laute Männerstimme hinter der Tür zu brüllen begann. „Miss Dupont ist nicht auffindbar."
Roses Hände schlangen sich kräftiger um die Tagesdecke und sie sah auf ihr Kleid. Sie fragte sich, wie schnell sie es schaffen konnte dort hineinzuschlüpfen. Am besten, bevor der Mann die Tür öffnen würde.
Rose betrachtete die Umrisse hinter der verglasten Tür, bevor sie ruckartig die Tagesdecke losließ und nach ihrem Kleid griff.
Sie hörte Stimmengemurmel und allesamt klangen die Stimmen tief.
Es wurde noch mehr geklopft – und Rose war gerade dabei, in die Ärmel zu schlüpfen – als am Türknauf gedreht wurde.
Rose hielt sich reflexartig ihre Oberweite und sah erschrocken zur Tür, die wohl verschlossen war.
„Frye?!"
Es ertönten noch mehr Stimmen. Vor Angst entblößt einer Horde Männer gegenüberzustehen stolperte Rose zurück zu Jacobs Bett und versteckte sich hinter der blickdichten Wand, die nicht in Richtung der Tür geneigt war.
Wenige Sekunden später sprang die Tür ruckartig auf und die Frau von gestern Abend trat ein. Denn sie hörte kurz darauf ihre Stimme.
„Ich übernehme ab hier. Ihr geht zurück zum Frühstück, Männer."
Rose rutschte eine Strähne vor ihre Linse und sie pustete sie sich schnell weg, atmete tief ein als die Tür geschlossen wurde.
Es vergingen ein paar schweigsame Sekunden, bevor Evie Frye tief einatmete.
„Wenn Sie sich verstecken möchten, sollten Sie darauf achten, dass Ihr Kleid nicht hervorschaut."
Rose sah hinunter auf den großen weiten Rock, den ihr hellblaues Kleid besaß. Sie fühlte sich am ersten Tag damit wie eine Prinzessin. Heute fühlte sie sich damit wie eine Versagerin.
„Ich..." Roses Sicht verschwamm. „Ich kriege es nicht von alleine zu."
Evies Mundwinkel zuckten ein Stück nach oben. „Ich kann behilflich sein."
Es kostete Rose eine Menge Überwindung, hinter der Wand hervorzutreten und Jacobs Zwillingsschwester gegenüberzutreten.
Heute trug Evie schon wieder Hosen, was Rose völlig fremd war. Auch ein männliches Hemd trug Jacobs Schwester und über alldem befand sich ein ähnlicher Mantel, den auch Jacob besaß.
Rose erkannte die Verzierungen – dieselben wie auch Jacob sie auf seinem Mantel hatte.
„Sie müssten sich schon umdrehen." Evie lächelte leicht und Rose schluckte.
Als sie sich umgedreht und Evie ihren nackten Rücken zugedreht hatte, verschwamm Roses Sicht noch mehr.
Evies Finger waren warm auf Roses Haut und arbeiteten langsam und genau, um die Schnüre ihres eingebauten Korsetts ordentlich zu schnüren.
„Fest oder locker?"
„Locker", bat Rose leise und senkte ihren Kopf. „Vielen Dank, dass Sie das machen."
„Keine Ursache."
Rose atmete tief ein. „Es tut mir leid, dass ich hier-"
„Darüber müssen wir nicht sprechen", unterbrach Evie sie. „Was in diesem Zimmer passiert ist, verlässt dieses Zimmer auch nicht." Evie atmete ebenfalls tief ein. „Ich habe Sie auf dem Dach gefunden, Sie haben sich den Sonnenaufgang angesehen."
„Danke", erwiderte Rose daraufhin nur. Was sollte sie noch dazu sagen? Sie hatten ja nicht die ganze Nacht im Bett liegen und miteinander schlafen können.
„Wissen Sie, wo er ist?" Rose schüttelte ihren Kopf.
„Ich bin alleine aufgewacht."
Evie seufzte. „Das ist untypisch für ihn." Sie band eine feste Schleife, damit das Kleid so schnell nicht aufgehen würde und klopfte Rose leicht gegen den Rücken, damit diese verstand, sich umdrehend zu können. „Ihre Schuhe." Evie deutete vor die Kommode.
Roses Wangen glühten als sie sich hinabbeugte und in ihre Absatzschuhe schlüpfte, die Riemchen befestigte. Ohne Unterrock und Petticoat fühlte sie sich ganz anders.
„Wissen Sie, wann Abberline hier sein dürfte?"
„Jeden Moment", sagte Evie. „Ihre Schwester ist schon bereit. Wenn Sie möchten, lasse ich Ihnen noch ein Brot für die Reise einpacken."
Rose schüttelte den Kopf. Ihr Magen fühlte sich leer an, doch ihr war so schlecht, sie würde keinen Bissen hinunter bekommen.
„Glauben Sie, er kommt wieder?"
„Ja", antwortete sie ihr sofort.
Rose atmete wieder tief ein. „Glauben Sie, er kommt wieder solange ich noch hier bin?"
„Nein", erwiderte Evie ihr auch hierauf sofort und ohne die Wahrheit zu verschweigen. „Er ist ein Dummkopf. Das sind alle Männer." Sie strich Rose eine Haarsträhne hinters Ohr. „Lassen Sie sich nie von einem Mann sagen, dass Sie ihn brauchen. Nicht mal von meinem Bruder, Miss Dupont."
Rose hatte niemandem, dem sie abseits von Miss MacBean und Jacob auf Wiedersehen sagen konnte. Natürlich verabschiedete sie sich von Evie Frye, die sie bis zu ihrer Abreise freundlich behandelt hatte. Und von den Jungs.
Doch sich von jedem einzelnen zu verabschieden, war schwierig – denn nicht jeder war vor Ort.
Rico und Oliver, sowie Gus ließen es sich nicht nehmen Au Revoir zu sagen, aber Männer wie August sahen Rose und Elisé nicht nochmal vor ihrer Abreise.
Nicht bevor Abberline in zwei Kutschen am vereinbarten Treffpunkt vorfuhr – ihrem Zuhause in den letzten paar Monaten. Dem Anwesen der Pitsburs.
„Miss Dupont."
Rose zwang sich zu einem leichten Lächeln als Abberline und ein weiterer Mann aus einer Kutsche stiegen.
„Sergeant Abberline." Rose sah zu Elisé hinab, die wohl nicht sonderlich gut geschlafen haben musste, denn Rose kannte die kleinen dunklen Flecke unter den Augen ihrer Schwester. Zu gut.
„Mr. Ross wird Sie und Ihre Schwester nach Hause fahren."
Rose schenkte dem Chauffier einen kurzen Blick, um ihr Wissen abzurufen und zu überlegen, ob sie diesen Mann in Verbindung mit ihrem verstorbenen Exverlobten bringen konnte. Konnte sie nicht.
Aus diesem Grund nickte sie.
„Es gibt nicht sonderlich viel Gepäck." Rose sah zum Haus. „Das meiste möchte ich nicht mitnehmen. Es gehört mir nicht." Abberline nickte.
„Es freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte."
Rose seufzte. „Mich auch."
Die Verabschiedung lief schnell vonstatten, während Evie stumm an der Laterne neben dem Eingang zum Vorgarten stand und nichts sagte.
Das brauchte es nicht. Sie sah auf dem Dach gegenüber die kleine Statue, weit entfernt und doch nah genug, um alles genaustens beobachten zu können.
Sie wollte wissen, warum ihr Bruder sich nicht verabschiedete, doch sie wollte Rose nicht damit in Verlegenheit bringen, jetzt auch noch zu verschwinden.
Jacob saß währenddessen auf dem Vorsprung im Schneidersitz und rupfte Unkraut aus dem Gestein, während er starr auf die dunkelblaue Kutsche blickte.
Er sah Rose zu, wie sie die Hände ausstreckte, ihrer kleinen Schwester in die Kutsche half. Sein Kopf legte sich schief, während er Rose dabei beobachtete, wie sie sich nochmal zu Abberline umdrehte, ihm etwas sagte.
Nichts lieber hatte er gewollt, als heute früh bei ihr liegen zu bleiben, sie mit sanften Küssen über ihrer Schulter zu wecken. Aber das war es, was ihn dazu bewegt hatte, zu gehen.
Er hatte sich das genommen, was er wollte – schon wieder. Ohne Rücksicht auf dieses zärtliche Wesen zu nehmen, welches noch eine bessere Zukunft vor sich hatte als er.
Was hatte Jacob noch zu tun? Templer zu jagen, Auftragsmorde zu begehen, ein Leben als Ganganführer zu führen. Rose hatte Besseres verdient. Sie hatte mehr Sicherheit verdient.
Jacob hatte sie gehen lassen wollen. Er hatte gewollt, dass sie genau das bekam, was sie sich wünschte. Und er hatte es sich trotzdem herausgenommen, ihr die erste Hochzeitsnacht zu rauben. Er hatte sie gestern Nacht körperlich so stark begehrt, dass er sich ihrem Zauber nicht hatte entziehen können, doch am Morgen, als sie noch schlief, sah das anders aus.
Jacob hatte sich das erste Mal in seinem Leben dafür geschämt, sich genommen zu haben, was er wollte.
Und er wollte Rose noch immer. Wäre er nicht aus dem Wagon verschwunden, dann hätte er sie dazu überredet, ihren Eltern den Rücken zuzukehren. Dann hätte er sie dazu überredet, zu bleiben. Dann hätte er eine Schwäche mehr gehabt.
Jacob schluckte, sah Rose dabei zu, wie sie sich in die Kutsche setzte und sie dann fortfuhren, während er noch immer das Kribbeln auf seinen Lippen spürte als sie Roses Haut Zentimeter für Zentimeter letzte Nacht bedeckt hatten.
„Du hättest dich wenigstens verabschieden können", ertönte eine männliche Stimme hinter ihm.
Jacob verdrehte die Augen als er die Stimme von Henry vernahm. Höchstwahrscheinlich hatte Evie ihn geschickt.
„Ich bin gerade nicht in der Stimmung, um darüber zu sprechen, Greenie", murmelte der einundzwanzigjährige und rupfte weiter das Unkraut aus dem Gestein.
Der schwarzhaarige Mann nahm neben dem Bruder seiner Verlobten Platz und seufzte tief.
Henry verstand Jacob manchmal nicht. Auch jetzt verstand er ihn nicht. Denn er wusste, was in dem jungen Mann vor sich ging – und trotzdem ließ er zu, das Gegenteil von dem geschehen zu lassen, was er eigentlich wollte.
„Schön, doch dann kannst du wenigstens zuhören", wies Henry ihn an und legte seine Hände in seinen Schoß. „Ich weiß genau, was in dir vorgeht, Jacob. Glaub mir", sagte er in Ruhe und hielt seinen Blick auf die Straße unter ihnen gerichtet. „Du denkst, dass du nicht gut genug für sie bist. Für die Person, die du liebst." Jacob atmete tief ein, rollte mit den Augen. „Ihr würde es reichen, wenn du einfach du selbst wärst."
Er sah zur Seite und schaute Jacob dabei zu, wie dieser sich auf die Unterlippe biss.
„Meiner Schwester musstest du nicht erklären, dass du ein Attentäter bist und Menschen umbringst", erwiderte der Rookanführer leise. „Es wäre viel zu Unsicher für sie." Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.
Vielleicht verstand Greenie, was in ihm vorging, aber er hatte nicht das Recht, sich rauszunehmen, darüber zu urteilen, wie Jacob handelte.
„Als du es ihr erzählt hast..." Henry brauchte einen Moment, bevor es ihm sickerte und er weitersprach. „Ist sie weggelaufen oder hat sie geschrien?", erkundigte er sich.
„Nein, ist sie nicht", murmelte Jacob.
„Sie wollte, trotz dessen dass sie wusste, wer du bist, bei dir bleiben." Henry wusste, dass es nichts bringen würde, ihn anzuschreien oder ihm direkt Vorwürfe zu machen. Dafür hatte er genug Streitigkeiten zwischen den Zwillingen miterlebt.
„Jacob, ich bitte dich. Sei nicht so blind", flehte er. „Du bist mir ein guter Freund, fast so wie ein Bruder. Also denke noch einmal darüber nach, ob du sie wirklich so gehen lassen möchtest." Er legte eine Hand auf die Schulter des jüngeren Assassinen, atmete tief durch.
Jacobs Blick fiel hinab auf die Straße und sein Kopf schmerzte bereits von dem vielen Grübeln. Henry hatte vielleicht damit Recht, dass Rose bei ihm bleiben wollte, obwohl sie wusste, was er im Schatten der Gesellschaft tat. Doch es änderte nichts an seinem Vorhaben, sie ziehen zu lassen.
„Es ist das beste, wenn ich sie nie mehr wieder sehe." Es klang nicht nur schmerzvoll traurig, es auszusprechen tat genauso weh.
Er stand auf, bevor er sich wortlos von dem anderen Attentäter wegdrehte.
Henry überlegte eine Sekunde, ob er noch etwas sagen sollte, aber er wusste nicht, was. In all der Zeit, in der er Jacob bisher kannte, hatte er ihn noch nie so gesehen.
Er blickte wieder zur Straße und schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Evie ein Auge auf sie beide hatte.
Rose sah betrübt aus dem Fenster.
Ihr Herz spürte sie in der Brust schlagen – überdeutlich.
Die junge Frau hätte nicht gedacht, dass ein Abschied so schmerzvoll für sie vonstatten gehen könnte. Und niemals hätte sie gedacht, es ohne eine einzige gefallene Träne zu überstehen. Doch das hatte sie.
Elisé seufzte und legte ihre Hände in ihrem Schoß ab. Auch sie machte es traurig, Abschied zu nehmen. Aber es machte sie noch viel trauriger ihre Schwester so zu sehen – unglücklich und unzufrieden mit sich selbst.
„Rose...", fing sie an, doch das Kopfschütteln ihrer Schwester unterbrach sie.
Ihre Schwester bat sie stumm, den Mund zu halten. Also hielt sich Elisé ausnahmsweise daran. Rose schien genug eingesteckt zu haben.
Jacob hatte ihr Leben zu sehr beeinflusst und eine von Rose größten Befürchtungen wurde nun wahr. Sie hatte ihr Herz an einen Mann verloren, den sie nie wiedersehen würde.
Rose versuchte mit aller Kraft, ihre Fassung zu wahren, doch das hielt nicht ansatzweise so lange, wie sie gehofft hatte.
Sobald sie London verließen brach es aus der siebzehnjährigen heraus und ihre Tränen fingen an ihre Wangen hinunter zu laufen.
Sie schluchzte und legte sich die Hand vor den Mund.
Die Laute, die sie von sich gab, fühlten sich an, als ob ihr Herz in tausend Teile zersprang.
Elisé versuchte die Hand ihrer Schwester zu ergreifen, um sie zu trösten, doch die ältere zog ihre Hand, die noch auf ihrem Schoß ruhte, fort.
Sie wusste, dass Elisé es nur gut meinte. Aber selbst dies konnte ihr im Moment nicht weiterhelfen.
Alles was Rose wollte, war, aus dieser Kutsche zu springen und in die Arme des Mannes zu laufen, in den sie sich verliebt hatte.
Jacob hing mittlerweile mit einer fast geleerten Flasche Whiskey auf seiner Couch und trank in immer kleiner werdenden Abständen daraus.
Seine leicht geröteten Augen wiesen darauf hin, dass der Meisterassassine geweint hatte. Doch dies würde er niemals zugeben – nicht mal vor Evie. Dafür war er zu stolz.
Keiner seiner Rooks würde es wagen, ihn heute anzusprechen, geschweige denn ihm die Flasche wegzunehmen. Keiner von ihnen war so lebensmüde.
Tatsächlich hatten die meisten für heute den Zug verlassen und verbrachten einen Tag bei ihren Familien – so auch Rico.
Für ihn war es zu lange her, dass er einen Tag nur mit seinen Jungs verbracht hatte. Das hatte der Mitte vierzigjährige vermisst.
Nur trotzdem gab es noch immer eine Person im Zug, die sich zutrauen würde, gegen den Anführer der Rooks anzutreten – und genau diese Person lief durch den Zug, auf der Suche nach ihm.
Evie Frye war wütend, sehr wütend – und enttäuscht von ihrem Bruder.
Sie könnte pauschal nicht mal sagen, wann sie das letzte Mal so enttäuscht von ihm gewesen war. Es war schon immer Jacobs Art, Problemen nicht direkt entgegen zu treten. Er zog es vor, sie entweder vor sich herzuschieben oder durch Alkohol zu ersetzen und ihnen aus dem Weg zu gehen.
„Jacob, wir müssen reden und das jetzt!", donnerte sie ihm an den Kopf.
Ihre Hände stemmten sich in ihre Hüfte als sie durch die offene Tür trat und eine gewisse Wut blitzte in ihren Augen auf.
Ihr Bruder trank gerade einen weiteren Schluck, murrte etwas Unverständliches und hielt es nicht einmal für nötig, sie anzusehen.
„Du bist unmöglich." Die Meisterassassinin seufzte und ging zur Couch hinüber.
Es war ihr egal, wie sehr Jacob nun jammern würde. Sie wusste, dass sie es mit ihrem Bruder aufnehmen konnte. Außerdem würde er es nie wagen, sie ernsthaft zu verletzten.
Also riss sie ihm kurzerhand die Flasche aus der Hand und bevor er sie deswegen anmeckern konnte, zog sie ihn von der Couch und ließ ihn los.
Mit einem „Uff" plumpste er vor die Couch und seufzte resigniert.
„Du hörst mir jetzt zu", stellte sie mit strenger Stimme klar und sah zu ihm hinunter. „Du benimmst dich wie ein Kind. Ich dachte wirklich, du wärst endlich mal erwachsen geworden und wüsstest es besser als deine Probleme im Alkohol zu ertränken."
Jacobs Brustkorb hob sich schnell und er schluckte seinen Frust hinunter, der in ihm aufstieg.
Er war manchmal vielleicht etwas verrückt, aber sicher wäre er nicht dumm, seiner Schwester in diesem Zustand körperlich gegenüberzutreten. Davon abgesehen, dass sie ihn oft genug im Zweikampf in der Vergangenheit besiegte. Und er wollte sich gar nicht erst an den einen schämenden Moment in seinem Leben zurückerinnern, als er einmal gegen sie angetreten war und eine gebrochene Hand davon getragen hatte.
Evie stellte die Flasche hinter sich ab, außerhalb der Reichweite ihres Bruders. Dann atmete sie tief durch.
Der braunhaarige Mann zog verwirrt eine Augenbraue hoch als sich seine Schwester neben ihn setzte und sanft eine Hand von ihm ergriff.
„Jacob, bitte", sprach die einundzwanzigjährige nun etwas sanfter aus. „Bitte hör mir zu, auch wenn ich weiß, dass du es nicht hören möchtest", behauptete sie hinterher und fixierte ihn mit ihren blau-grünen Augen.
„Ich kenne sie nicht." Sie sah zum Fenster hoch, starrte nach draußen zu den Wolken auf. „Doch ich merke, dass sie dir mehr bedeutet als du zugeben möchtest. Und dass du es nicht wahr haben willst." Jacob grunzte, zuckte mit einer Schulter. „Du warst schon immer ein Sturkopf." Sie sah, wie Jacob seine Augen verdrehte. „Du fühlst dich schuldig, weil du einen Fehler gemacht hast." Evie zuckte mit ihren Schultern und seufzte. „Sie war trotzdem bereit, bei dir zu bleiben."
„Darum geht es nicht", nuschelte er leise, winkelte die Knie an und stützte seine Ellenbogen auf den Kniescheiben ab.
„Ich denke, dass es ein großer Fehler wäre, sie jetzt gehen zu lassen", drückte sie ihm ihre Meinung auf.
Jacob ging durch seine bereits sehr zerzausten Haare und seufzte ebenfalls. Er brach den Augenkontakt zu seiner Schwester – nicht weil sie Recht hatte und er der Wahrheit nicht ins Augen blicken wollte. Sondern weil er es leid war, dass ihm die Leute genau das an den Kopf warfen.
Er wusste doch längst, was er für sie empfand. Dass er sich in dieses hilflose kleine und junge Mädchen verliebt hatte. Er wünschte sich so viel mehr mit Rose. Mehr als Sex und körperliche Zuneigung. Er wünschte sich, ihre tiefsten Geheimnisse kennenzulernen. Über ihre sehnsüchtigsten Wünsche Bescheid zu wissen. Orte durch sie neu kennenzulernen und zu sehen, wie sie Freude am Leben fand, trotz der Dinge, die ihr zugestoßen waren.
Niemals hatte Jacob sich vorgestellt, dass er sein Herz so schnell an jemanden verlieren würde. Schon gar nicht an jemanden wie sie.
Er hatte früher immer gedacht, wenn es mal tatsächlich passieren würde, würde es eine Frau wie Charlotte sein. Selbstbewusst, sich ihrer Stellung bewusst und bereit, dagegen anzugehen.
„Es ist zu spät", sprach er monoton aus. „Sie wird zurück zu ihren Eltern gefahren. Ihr Vater wird sie an irgendeinen... anderen Mann binden." Es kostete Jacob beinahe sämtliche Selbstbeherrschung, es auszusprechen. Gar nur darüber nachzudenken, jemand anderes würde sie anrühren, fügte ihm körperliches Leid zu. „Ich habe meine Chance verspielt", lallte er leicht.
„Jacob..." Evie zog mitleidig ihre Augenbrauen zusammen und die Mundwinkel herunter.
„Du willst mir helfen, mich besser zu fühlen?" Er drehte ihr den Kopf zu, zog eine Augenbraue hoch. „Dann verzieh dich." Evie legte den Kopf schief. „Aber zuerst bringst du mir den Whiskey wieder her", forderte er seine Schwester grob auf.
Sie runzelte die Stirn und schnaubte.
Wie konnte Jacob so gefühllos sein? So wenig Mitleid mit sich selbst haben?
Sie richtete sich auf, lief zur Flasche rüber und warf sie Jacob entgegen, ohne darauf zu achten, wo sie ihn traf.
„Dann sauf dich ins Koma", murmelte sie weiterhin enttäuscht und drehte sich um.
„Au! Spinnst du?!", entfuhr es dem jüngeren Zwilling als die Glasflasche seine untere Region traf.
„Wenn Vater dich so sehen könnte." Evie schluckte als sie sich umdrehte und er die Augenbrauen hob. „Er wäre enttäuscht von dir, Jacob." Es tat ihr innerlich weh, dies zu ihrem Bruder sagen zu müssen. Nur vielleicht drang es so endlich in seinen Kopf ein – das hoffte sie jedenfalls. „Und ich bin es auch, Jacob. Ich dachte wirklich, nur einmal, würdest du dich vernünftig verhalten." Sie schloss die Tür des Abteils hinter sich und ließ Jacob in seinem Selbstmitleid zurück.
„Der alte Narr kann mich mal!", rief ihr der einundzwanzigjährige nach und wollte soeben einen weiteren Schluck nehmen und setzte die Flasche an seinem Mund an.
Doch er stoppte, starrte wütend auf den Whiskey hinab und ließ die Flasche dann sinken.
Seine Schwester schaffte es immer wieder, ihm die Lust aufs Trinken zu verderben. Auch dieses mal sank das Bedürfnis auf die goldene Flüssigkeit, die in der Flasche hin und her schwankte.
Alles herum um ihn schien so unbedeutend zu sein und nichts in seiner Welt machte mehr Sinn. Das lag nicht nur an Rose. Das lag an der Tatsache, was diese Gefühle mit ihm machten.
Jacob fing an, seine Entscheidung zu hinterfragen. Nicht nur die letzter Nacht.
Er hatte einer Frau aus einer misslichen Lage geholfen und daraufhin war so viel geschehen, dass der Attentäter wortwörtlich keine Ahnung von gehabt hatte, wie er mit der Situation gemäß umzugehen hatte.
„Zum Teufel mit deinem Rat, Vater." Jacob schnaubte traurig und versuchte nicht an den Satz zu denken, den er so oft gehört hatte, dass ihm davon schlecht wurde.
Bald schon merkte der Assassine, dass seine Augenlider im Vergleich zu letzter Nacht immer schwerer wurden.
Als Evie das nächste mal nach ihrem Bruder sah, schnarchte dieser laut und sie fing seufzend an, ihre Schläfe zu massieren.
Er war eingeschlafen, seine dreckigen Stiefel hingen über der Kante, am Ende der Couch.
Sie schaute sich kurz um, entdeckte eine dünnere Decke und nahm diese in die Hand.
Der Geruch ihres Bruders haftete mit dem der jungen Frau daran, was sie ein wenig verwirrte.
Als nächstes breitete sie vorsichtig die Decke über den schlafenden Jacob aus und achtete darauf, dass der meiste Teil seines Körpers bedeckt wurde.
„Du bist so ein Vollidiot", murmelte sie leise und betrachte ihn einen Moment lang.
Sie blickte über die Schulter zu Henry, der am Türrahm lehnte und auf eine Antwort seiner Verlobten wartete. Er erhielt ein einfaches Kopfschütteln.
„Denkst du es ist immer noch eine gute Idee, nach Indien zu gehen?" Er legte den Kopf schief. „Er wird dich brauchen, Evie", meinte Henry leise mit ein wenig Wehmut in der Stimme.
„Das sollte er nicht", antwortete Evie schnell und lief in die Arme des anderen Assassinen.
„Komm, wir sollten uns auch ein wenig ausruhen." Er ließ seine Mundwinkel ein Stück nach oben zucken. „Vielleicht lässt er morgen mit sich sprechen, wenn er etwas klarer denken kann." Sanft strich der indische Assassine ihr über den Rücken.
Evie seufzte besorgt, ließ ihren Blick nochmal zu ihrem Zwillingsbruder wandern und nickte danach.
Wortlos verließen die beiden den Wagon, damit auch sie ein wenig Ruhe bekamen und genug Energie für den folgenden Tag sammeln konnten.
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Datum der Veröffentlichung: 21.02.2022 18:22 Uhr
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