Twelve
Twelve
Rico lächelte, streckte Elisé die Hand hin und half ihr aus der Kutsche.
„Danke." Rose lächelte matt den Rook an als er direkt danach auch noch ihr aus der Kutsche half und sie den Stoff ihres Kleides so schneller wieder richten konnte.
Kichernd ergriff Elisé die Hand ihrer Schwester im Handschuhe und wollte sie mit sich ziehen, doch Rose blieb eisern und schritt im mäßigen Tempo weiter. Sie war müde, diese turbulente Woche hatte ihr viel Energie geraubt.
„Darf ich?" Elisé deutete auf ein paar Kinder, die am Parkeingang miteinander mit einem Ball spielten.
Rose lächelte sanft und ließ Elisés Hand los. „Doch bitte komme bald wieder", bat sie und das junge Mädchen nickte ihrer großen Schwester zu.
„Keine bange", sagte Rico ihr und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. „Ich kann ein Auge auf Sie beide gleichzeitig haben."
Rose schnaubte belustigt, wies dann den Steinweg entlang. „Wollen wir?"
Rico lächelte lediglich.
„Ich bin schon ein wenig neugierig, muss ich sagen." Rose schmunzelte leise. „Ich wusste nicht, dass Sie Kinder haben, Rico."
„Zwei Söhne. Einer siebzehn, fast achtzehn. Und der andere ist gerade vierzehn geworden", erzählte Rico ihr. „Die beiden könnten ihrer Mutter nicht ähnlicher sein." Der Mitte vierzigjährige begann noch breiter zu lächeln und sah geradeaus.
„Wie ähnlich sind sie ihr denn?"
Rico deutete geradeaus auf eine Bank, auf der ein junger Mann einsam saß und ganz vertieft in einem Buch las.
„Wenn sie lesen", sagte Rico, „Dann kann sie nichts und niemand aus deren Konzentration reißen."
Rose lächelte, legte angesichts des jungen braunhaarigen Mannes den Kopf schief.
Er sah jünger als siebzehn aus, doch wirkte so eloquent in sein Buch vertieft, dass Rose tief einatmete und sich schon jetzt Fragen überlegte, die sie ihm über das Buch stellen könnte.
Sein blaues Jackett saß locker um die Schultern, wobei Rose schnell feststellte, dass er sich das Kleidungsstück nur umgehängt und nicht angezogen hatte. Sein weißes Hemd versteckte sich unter ebenso dunkelblauer Weste und scherzend setzte Rico sich, während Rose neben der Bank stehenblieb und die Hände aneinanderlegte.
„Ich sagte doch", lachte er sichtlich belustigt, „Nichts und niemand kann sie stören."
„Das stimmt nicht", antwortete der Junge mit schnaubendem Unterton und hob kurz den Zeigefinger. „Ich möchte nur noch schnell diesen Absatz zu Ende lesen, Dad."
Rico lachte in sich hinein, ehe der Junge sein schmales Gesicht nach oben richtete und dann auf seinen Vater.
Rose bemerkte schnell, dass das einzige was sie sich teilten, die Augenfarbe war. Der Junge ähnelte dem Rook tatsächlich keinen Zentimeter.
Rico atmete kurz tief ein als der Junge ihm eine seitliche Umarmung schenkte. „Nicht, meine Frisur." Der Junge lachte als er seinem Vater die nicht existierenden Haare versaute, bevor er aufstand.
„Guten Tag." Er lächelte leicht, ohne Zähne zu zeigen, und streckte die Hand vor. „Arthur Jones", stellte der junge Mann sich vor und Rose ergriff zaghaft seine Hand, schüttelte sie leicht.
Rico könnte nicht stolzer aussehen. Er war froh, Arthur wiederzusehen. Beide hatten sich durch dessen Arbeit eine Weile nicht gesehen.
„Rose Dupont", erwiderte Rose und machte einen kleinen, damenhaften Knicks und neigte ihren Kopf, wie sie es gewohnt war.
Es irritierte Rico, doch nicht Arthur.
„Wie geht es dir?" Arthur drehte seinen Kopf seinem Vater zu und faltete währenddessen sein Jackett ordentlich zusammen, hängte es sich über den Arm. „Immer noch mit Frye unterwegs?", fragte er amüsiert.
„Du kennst deinen alten Herrn." Rico lächelte, sah kurz zu Rose. „Miss Dupont und ihre Schwester sind momentan zu Gast bei uns Rooks", erklärte er seinem Sohn ruhig.
„Ah, verstehe." Arthur wandte den Blick nicht von seinem Vater ab. „Also wollen wir ein wenig spazieren oder musst du in unmittelbarer Nähe der Straßen bleiben?"
Rico lachte und erhob sich ächzend. „Wegen dir kriege ich noch graue Haare."
Roses Mundwinkel zuckten und sie sah zu Elisé, die lachend mit den Kindern spielte, die sie fröhlich in ihrer Runde mitaufgenommen hatten.
„Ich habe einiges zu erzählen", behauptete der siebzehnjährige und Rose nahm einen langsameren Gang ein, ließ Rico und seinem Sohn ein wenig Privatsphäre.
Immer wieder drehte sie sich nach Elisé um, war immer wieder erleichtert, sie fröhlich spielen zu sehen. Sie schien kleine Schwierigkeiten mit ihrem Rock zu haben, dennoch hatte sich die zwölfjährige an die Situation angepasst. Besser als Rose es je gekonnt hätte.
Als sie zu weit in den Park hineinliefen pfiff Rico nach Elisé und rief ihren Namen. Sie schien ein wenig enttäuscht, mit dem Spielen aufhören zu müssen, verabschiedete sich höflich und lief in eiligem Tempo dann zu den drei Menschen, mit denen sie eigentlich in Gesellschaft war.
Arthur stellte sich ihr ebenso freundlich und höflich vor wie auch schon zuvor Rose. Nur mit Elisé fand er Gesprächsthemen, die dann ein wenig andauerten.
Elisé fand aber auch wirklich überall Freunde, dachte Rose.
Nach einer Weile ließ Rico beim Laufen mit dem Tempo nach und ließ Elisé den Vortritt. Arthur lächelte und nickte aufmerksam als sie sich über ein Buch unterhielten, was Elisé für sehr lehrreich empfunden hatte.
„Darf ich Sie etwas fragen, Rico?", meinte Rose zurückhaltend. Sie wusste nicht recht, ob sie so etwas fragen sollte, doch es geisterte ihr seit einigen Minuten so präsent im Kopf umher, dass sie die Chance ergreifen wollte.
„Natürlich", antwortete der ältere und setzte sich auf eine Bank. So ließen die beiden, als Rose sich zu ihm setzte, Elisé und ihren neuen Begleiter weiterlaufen.
Rico schmunzelte. „Arthur war schon immer zu freundlich. Er kann nicht nein sagen."
Roses Mundwinkel zuckten nach oben und Elisé deutete auf einen nicht weitentfernten Teich, indem Enten schwammen – ihre Lieblingstiere.
„Wie gut kennen Sie Jacob?" Sie sah den Rook an, der seine Augenbrauen ein wenig nachdenklich nach oben zog.
„Ich würde sagen, schon besser als die anderen", antwortete er ihr ehrlich und ruhig. „Schwierig war er schon immer."
Rose prustete belustigt.
„Darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus", teilte sie ihm mit und befeuchtete ihre Lippen mit ihrer Zunge, blinzelte kurz mehrfach hintereinander. „Nein, worauf ich hinauswollte, war, dass ich mich frage, was Jacob gemacht hat, bevor er nach London kam." Sie war interessiert daran, was Jacobs Antrieb gewesen war, nach London zu kommen und ausgerechnet eine Gang zu gründen. Für einen einundzwanzigjährigen schon seltsam.
Schnell merkte sie, dass Rico eine Weile brauchte und überlegen musste, bevor er sich räusperte und ihr antworten konnte. „Nun, wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht, Rose." Er seufzte. „Jacob war noch nie jemand, der seine Vergangenheit offen darlegt", gab Rico zu und lachte ein wenig. Auch er hatte sich mal gefragt, was Jacob dazu gebracht hatte, nach London zu kommen – doch dies war längst Vergangenheit.
„Mhh", machte Rose. „Das ist wirklich eigenartig", überlegte sie laut und kicherte als ihr ein Gedanke so amüsierend durch den Kopf ging.
„Was ist so lustig?", fragte Rico nun und musterte die junge Frau von der Seite.
„Ich stelle mir gerade vor, was er gemacht haben könnte", erzählte sie dem Rook. „Jacob meinte, er kommt aus Crawley und das es seine kleine Stadt sei." Rico begann zu grinsen. „Viele Möglichkeiten gäbe es da nicht, finden Sie nicht auch?"
„Bestimmt erzählt er es nicht, weil es ihm peinlich ist", entkam es dem älteren und er legte seinen Kopf in den Nacken, lachte. Rose hob dafür ihre Hand vor ihren Mund.
„Naja, er mag doch Pubs." Rose zuckte sehr leicht mit ihren Schultern. „Vielleicht hat er mal in einem gearbeitet. Sie wissen schon... als Bedienung." Die siebzehnjährige kicherte.
Ricos Lachen wurde lauter als er sich dies vor seinem inneren Auge vorstellte. Das war wirklich ein amüsanter Gedanke.
„Vielleicht musste er aber auch Hausdame für seine Schwester spielen", lachte er und das brachte Rose zu einer anderen Frage – abrupt.
„Seine Schwester." Rose zog ihre Augenbrauen zusammen. „Wie war sie denn so?" Sie grübelte laut darüber, wie ihr Name nochmal war und fragte sich, Jacob es ihr je erzählt hatte.
Rico setzte sich ein wenig auf der Bank um, mehr in ihre Richtung.
„Evie Frye", erzählte er es ihr und erlöste sie aus ihrer Überlegung. Er legte einen Hand an sein Kinn und kratzte sich. „Sie war anders als Jacob", behauptete er. „Man könnte sagen, die zwei könnten unterschiedlicher nicht sein." Er erinnerte sich gerne an sie zurück. Sie war stets freundlich, eine gute Zuhörerin und trinken konnte sie ebenfalls wie ein Weltmeister.
„Wirklich? Das überrascht mich ein wenig", gab Rose zu und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, die sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst hatte.
„Ja. Sie war ruhiger als ihr Bruder." Rico lächelte sanft, sah auf Elisé hinab, die es unbedingt schaffen wollte, eine Ente zu streicheln. „Sie hatte immer einen Plan, bevor es in einen Kampf ging." Er atmete tief ein, überschlug die Beine. „Aber beiden war es stets wichtig, was wir sagten und wie es uns ging." Er schüttelte leicht seinen Kopf. „Als Team waren sie unschlagbar, beide haben sich irgendwie ergänzt." Der Rook schaute zurück zu Rose, die den Kopf schieflegte. „Ich glaube deswegen ist es Jacob auch so wichtig, dass es Ihnen gutgeht", flunkerte er.
Denn er ahnte, dass es eher aus selbstsüchtigeren Gründen der Fall war, warum es Jacob so wichtig war, dass es den Dupont-Schwestern gutging.
„Wie kamen Sie zu den Rooks?" Sie runzelte die Stirn. „Sie kommen mir nicht wie ein typischer Ganove vor."
Rico lachte laut und schüttelte den Kopf. „Ich war Koch", gestand er und atmete tief ein. „Gesegnet mit einem Dach über den Kopf, einer liebevollen Frau und zwei Söhnen."
Arthur lächelte als er Elisé die Hand hinstreckte, um ihr den Hang vorm Teich hochzuhelfen.
„Was ist passiert?" Roses Lächeln verblasste als auch Ricos allmählich einfror.
„Meine Frau wurde krank." Er seufzte tief. „Ich verlor sie vor anderthalb Jahren."
„Das tut mir leid." Rose streckte instinktiv ihre Hand aus, tätschelte die des Mitte vierzigjährigen.
Er atmete tief ein. „Ich fing an, abzustürzen, aber das Haus musste irgendwie bezahlt werden, also beschloss Arthur sich Arbeit zu suchen. Der Junge hatte eine Zeit lang viel auf seinen Schultern zu tragen." Rose blickte zu dem gleichaltrigen Mann hinüber.
Respekt durchflutete sie, wenn sie daran dachte, wie viel Trauer er hatte ertragen müssen.
„Ich arbeitete in den Kampfclubs. Mal als Kämpfer, mal als Aushilfe." Er hob kurz beide Augenbrauen als Rose ihm den Kopf wieder zudrehte. „So erfuhr ich von Jacob und Evie Frye. Die neuen in der Stadt, mit der Absicht, eine Gang zu gründen." Er begann leicht zu lächeln bei der Erinnerung daran, dass diese Gang ihm das Leben gerettet hatte. „Ich kam zu ihrem ersten Straßenkampf gegen die Blighters. Die damalige Stadtgang. Sie waren brutal, traten Leute, wo sie nur konnten." Rose schluckte. „Ich war einer der ersten Rooks, die Jacob und Evie bereitwillig folgten." Rico lachte leise. „Der Rest ist für mich Geschichte", stellte er klar und sah die junge Dame an. „Ich möchte nicht mehr allzu viel über die Vergangenheit nachdenken."
„Ich verstehe." Rose neigte ihren Kopf. Sie würde nicht über Ricos Frau nachfragen, wie er drum gebeten hatte.
Das nicht jeder Rook auf Gewalt aus war, sondern auch einfach nur, um Trubel um sich herum zu haben, war ihr neu. Sie dachte, eine Gang bestanden aus Kriminellen, Gesetzlosen, die taten, was sie wollten.
Rose lächelte als Arthur – freundlich und zuvorkommend wie ein Gentlemen – die Damen und seinen Vater in der Kutsche zurückbegleitete und ihr dann auch noch die Hand hinhielt, um ihr aus der Kutsche zu helfen.
„Vielen Dank." Rose gab ihm ihre Hand und hob ihren Reifrock samt Röcke darüber an, um die Stufen nicht zu übersehen, bevor sie mit ihren Füßen die Straße berührte.
„Ein kleiner Tipp." Arthur lächelte, sah zu seinem Vater, der Elisé aus der Kutsche half.
„Ja?" Rose zog fragend beide Augenbrauen hoch.
„Blicken Sie nicht zurück, wenn Sie gehen. Mein Vater mag zwar die Rooks, doch sie sind selbstsüchtig und zerstören viel." Er lächelte ein wenig breiter. „Sie sollten nach mehr streben."
Rose lächelte höflich. Das war alles, was sie dazu zu „sagen" hatte. Wie sollte sie auch noch etwas sagen? Arthur mochte vielleicht Recht haben, jedoch war es für Roses Gefühle schon längst zu spät.
Und davon abgesehen ertönte auf den Gleisen neben ihnen – wo der Zug ruhte – lauter Tumult. Er war so laut, dass er es bis zur Straße schaffte. Er kam direkt aus dem Zuginnern.
Rico zog die Augenbrauen zusammen.
„Arthur, du bleibst bitte noch einen Moment." Der Rook hob die Hand. „Ich geh erst gucken, was da los ist."
Roses Herz machte einen Sprung und es zog in ihrem Magen. Sie zuckte leicht zusammen als Elisé sich neben sie stellte und sich an ihren Arm klammerte, ohne ängstlich zu wirken.
„Glaubst du, das ist-"
„Nein, ist er nicht." Rose atmete tief ein. „Er wird noch eine ganze Weile sitzen, Elisé. Ich bin mir sicher."
Sie sah wie Rico eine Tür öffnete und drin verschwand.
Rico drinnen, sah Gus an, der an der Wand stand und sich die Schläfe rieb.
„Was ist mit dir passiert?", hakte er nach als er das bisschen Blut an seinem Arm entdeckte und die aufgerissene Stelle seines Hemds. „Und was ist da drin los?" Er deutete auf die Küche aus der die lauten Geräusche kamen.
„Frye hat 'n Brotmesser nach mir geworfen." Er rollte mit den Augen. „Er rastet darin komplett aus." Sein Kopf schüttelte sich. „Lass ihn machen, sonst endest du bestimmt noch schlim-"
„Verfickte Scheiße!", brüllte Jacob wütend aus der Küche und trat so heftig gegen einen Stuhl, dass ein Stuhlbein brach.
Rico atmete tief ein und ließ die Hand von seiner Waffe im Hosenbund ab. „Ich dachte, hierdrin versuchen sich zwei umzubringen."
„Nein, keine Sorge, das schafft Frye allein." Mason lehnte sich gegen den Türrahmen hinter Rico und sah zur geschlossenen Wagontür. „Was? Ist er traurig, dass sein Spielzeug abreisen muss?"
Rico sah ruckartig von dem Rook zur Tür. Fragend sah er Gus an. Dieser zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, was da abläuft. Er kam schon auf hundertachtzig wieder."
Mason lachte in sich hinein, ehe er zwei fünfzig Pfundscheine auf einen Beistelltisch legte. „Ich wette um hundert Pfund, dass das Mauerblümchen nach Hause fährt." Er sah kurz die Rooks an, ehe er sich wieder umdrehte. „Bestimmt bereut er's, sie nicht gefickt zu haben."
Gus knirschte mit den Zähnen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mir gefällt's nicht, wie er über Frauen spricht."
Rico atmete tief ein, sah dem Rook nach. „Bin ganz deiner Meinung."
Der Mitte vierzigjährige drehte sich zur Küche um und Gus lachte ungläubig auf als er den Blick seines Freundes deutete. „Hast du Selbstmordwünsche?"
Rico schnaubte, ehe er zur Tür lief und laut dagegenhämmerte.
„Was?!", brüllte Jacob. „Ich bin beschäftigt!" Wütend ergriff er ein Glas und schmiss es gegen die Tür. Er sah kurz innehaltend drein als das Glas nicht kaputt ging und auf dem Boden landete.
„Ich weiß ja nicht", sagte Rico und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Möchtest du, dass Miss Dupont dich so sieht?"
Gus bewegte seine Hand vor seinem Hals hin und her, schüttelte den Kopf.
Schnaubend öffnete Jacob die Tür und blickte seinen Rook an. „Sehe ich gerade so aus, als würde sie mich interessieren?!" Er rollte mit den Augen. „Die kann bleiben, wo der Pfeffer wächst."
Murrend knallte Jacob die Tür zu und lehnte sich dagegen, ließ sich daran herunterrutschen.
„Was ist dann wieder los?", fragte Rico ruhig. „Das letzte Mal, als du Sachen in diesem Ausmaß kaputtgemacht hast, wollten Evie und du euch trennen."
„Und wie ging das aus?" Jacob rieb sich über seinen Bart, kratzte sich an einer Stelle.
Rico sah zu Gus und atmete tief ein. „Gibst du uns einen Moment?", bat er.
Gus winkte ab, bevor er kopfschüttelnd den Wagon verließ. „Ich geh rauchen", behauptete er.
Sobald Rico alleine im Wagon war, lehnte er sich an die Wand neben der Tür. „Wir sind allein", beichtete er seinem Anführer. „Was immer dir auch quer im Magen sitzt... spuck's aus."
Jacob murrte, ließ die Schultern hängen. „Ich will nicht dass sie geht, Rico", gestand er leise.
Rico schloss kurz seine Augen, sah zum Fenster hinaus und zu Rose und Elisé hinüber, die sich mit Arthur unterhielten.
„Wann?", hakte er nach.
Jacob schluckte. „Morgen früh", sprach er es aus.
„Verstehe." Rico nickte.
„Das alles war eine dumme Idee."
„War es nicht", widersprach der Rook seinem Boss sofort. „Du hast den Mädchen das Leben gerettet, Jacob. Einen größeren Dienst kannst du ihnen nicht erwiesen haben."
Jacob atmete tief ein, bevor er auf das Chaos blickte, dass er in seinem Wutanfall veranstaltet hatte. „Wieso tut es weh?", fragte er den Rook.
„Weil auch du Gefühle hast, Jacob", stellte sein Gegenüber klar. „Und du kannst das nur ändern, indem du dich entscheidest, den Teufelskreis zu durchbrechen."
Jacob schnaubte. Er empfand es nicht als einen Teufelskreis. Aber er war sich sicher, das hier gebraucht zu haben.
„Sind sie bei dir?"
„Draußen", antwortete Rico ihm. „Mein Sohn ist bei ihnen und Gus ist in der Nähe."
Jacob seufzte, sah zum Fenster hoch. „Ich muss sie gehen lassen, nicht wahr?"
Rico befeuchtete seine Lippen mit der Zunge, sah auf seine braune Hose. „Das musst du entscheiden, Jacob. Ich kann dir das nicht abnehmen."
Der junge Assassine jammerte, ehe er sich erhob, das Glas betrachtete.
Murrend trat er es fort und es flog gegen die Kante der Arbeitsplatte. Es zersprang in tausend kleine Teile und Jacob sah resigniert drein, bevor er die Tür öffnete und Rico anblickte.
„Ich räum das später auf", behauptete er.
„Hm, ist klar." Ricos Mundwinkel zuckten nach oben. „Das hast du das letzte Mal auch schon gesagt und es sah drei Wochen so aus."
Jacob ignorierte seinen Freund als er den Zug verließ.
Rose atmete bei seinem Anblick erleichtert auf. Gus hatte zwar schon abgewunken, dass nicht passiert sei, doch da sie nicht zu ihm gesprochen hatte, wusste sie noch immer nicht, was los war.
Gus, der an der Zugwand lehnte, hielt beim Einatmen des Rauchs inne und sah seinem Anführer nach.
Dieser lief schnurstracks auf die Dupont-Schwestern zu und bei ihnen angekommen, ignorierte er sämtliche Etikette und Manieren und zog die siebzehnjährige einfach in seine Arme.
Rose quietschte verquert auf und starrte direkt auf seinen braunen Mantel. Der Geruch von Moschus und Zitronen kroch ihr in die Nase und instinktiv entspannten sich ihre Glieder. Sie ließ die innige Umarmung einfach geschehen.
Nach wenigen Sekunden begann sie Jacobs schnellen Herzschlag zu spüren und wie dieser gegen seine Rippen hämmerte.
„Jacob?", nuschelte Rose leise als sie Bewegungen aus dem Augenwinkel bemerkte.
Der junge Assassine seufzte tief, ehe er sich schweren Herzens löste.
Die junge Dame vor ihm schluckte als sie den Kopf hob, ihm in die braunen Augen blickte.
„Ich hab keine guten Neuigkeiten." Er presste die Lippen zusammen und Roses Herz begann noch stärker zu hämmern.
„Wir reisen ab", sprach sie leise aus und er nickte stumm. „Sehr bald?" Er nickte erneut.
„Manno", kommentierte Elisé plötzlich und seufzte, setzte sich in Bewegung. „Ich dachte, ich hätte noch ein paar Tage."
Rose schluckte, sah den Anführer der Rooks stumm an und legte ihre Hand dann auf seinem Brustkorb ab. „Sollten wir nicht hinein?"
Jacob blickte sie stumm an, während seine Hand sich um ihre Taille legte. Seufzend zog er sie wieder an sich und umarmte sie.
Dann nicht, dachte sie sich und ließ es einfach geschehen.
Rose seufzte tief als sie das Chaos betrat und Elisé tief einatmete.
„Da hat man aber viel Arbeit vor sich", sagte sie.
Rose lief weiter in die Küche hinein und versuchte den Stuhl wieder hinzustellen, doch er kippte um.
„Schade." Gus betrat ebenfalls seufzend die Küche, nahm sich einen frischen Lappen aus dem geöffneten Regal. „Ich bleib heut Abend hier." Er zischte als er sich Alkohol nahm, ein wenig auf den Lappen träufelte und seine Wunde desinfizierte. „Das war mir zu viel des Guten."
Elisés Mundwinkel zuckten nach oben. „Haben Sie dann Lust, Karten zu spielen?"
Gus zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Aber solange ich keinen Frye vor der Nase tanzen habe, ist alles in Ordnung."
„Wie oft soll ich mich noch entschuldigen?" Jacob lehnte sich gegen den Türrahmen.
„Noch 'n paarmal, dann hat er's auch verinnerlicht", behauptete Rico und quetschte sich durch den Türrahmen. „Kommen Sie, machen Sie sich fertig, ich räume hier ein wenig auf."
„Ich habe doch gesagt, ich mach das noch."
Rose atmete tief ein, während sie sich Handfeger und Schaufel nahm, ein wenig zersplittertes Glas zusammenkehrte.
„Wenn du das sagst wird das erst in Monaten erledigt werden und wir werden hier ewig nicht drin kochen können."
Jacob presste seine Lippen zusammen. „Wisst ihr, was? Das nächste Mal raste ich in Menschenmenge aus. Mal sehen, wer die Bombe am Ende ist." Er schnaubte, drehte sich um und verließ die Küche.
„Er ist angespannt", behauptete Rose leise. „Das wird sich legen."
„Klar." Gus schnaubte und träufelte noch mehr Alkohol auf den Lappen, ehe er sich ein wenig auch in ein Glas eingoss. „Wie lange kennen Sie ihn nochmal?"
Trinkend verließ der Rook die Küche.
„Hören Sie nicht auf ihn, er ist angeknackst", bat Rico und presste kurz die Lippen zusammen. „Ihr Rock ist mit ein wenig Schmutz befleckt."
Rose lächelte leicht, sah hinunter auf den Saum ihres Rocks. „Ja, leider." Sie strich über den Stoff.
„Machen Sie sich frisch, das ist hier wirklich kein Problem, wenn ich aufräume", beteuerte Rico.
„Aber-"
„Rose", sprach er ihren Namen sanft aus. „Es ist nicht Ihre Aufgabe, ihm hinterherzuräumen."
„Deine genauso wenig", kommentierte Elisé trocken. „Find ich doof."
Rose schluckte, sah auf das zerbrochene Geschirr hinab und überlegte. „Meinetwegen", gab sie nach. „Ich mache mich frisch."
Es war früher Abend und Rose hatte gerade erst ihren Morgenmantel angezogen und ein paar ihrer wenigen Kleider auf dem Bett ausgebreitet, da trat ihre kleine Schwester ohne anzuklopfen ein.
„Elisé!", tadelte Rose sie und Elisé bekam rote Wangen.
„Es tut mir leid."
Rose lachte leicht als sie den Raum verließ, die Tür schloss und zaghaft anklopfte, bevor sie eintrat.
„Du solltest warten, bis man dich hineinbittet", machte sie ihrer kleinen Schwester weis und atmete tief ein, drehte ihren Kopf zum Bett um.
„Was machst du gerade?"
Rose legte ihren Kopf schief. „Ich überlege, welches Kleid ich anziehe."
Elisé stellte sich neben sie, betrachte die drei übrig gebliebenen Kleider. „Dieses ist dreckig."
„Doch es gleicht allen anderen."
„Ja, aber Mutter sagte, wir sind nicht wie alle anderen." Elisé hob ihren Kopf und blickte Rose in ihre grünen Augen. „Außerdem ist es unser letzter Abend. Bitte, sei einmal du selbst und habe wenigstens ein wenig Spaß."
Rose schloss ihre Augen. „Das klingt, als wäre ich immer nicht ich selbst."
„Du bist es häufig. Ich vermisse deine leichten Kleider von Zuhause. Du hasst Reifröcke und all das."
Die siebzehnjährige schluckte. Elisé hatte Recht – sie mochte Reifröcke nicht.
Kurzerhand entschied Rose sich für ihr grünes Kleid. Sie trug es letzte Woche und gewaschen war es noch nicht, jedoch war es das einzige Kleid, welches noch keinen Schmutz auf seinem Rocke aufwies.
Sie nahm sich ihr Korsett, schnürte es so locker um ihr Unterhemd, wie sie konnte, damit sie sich wohlfühlte. Ihre Socken und die Schuhe folgten. Sie entschied sich für flachere Schuhe, mit denen sie den ganzen Abend laufen würde und lächelte leicht als sie ihre Knöchel betrachtete.
„Deine Haare." Elisé legte ihren Kopf schief. „Sie fallen schön."
„Weil sie den halben Tag hochgesteckt waren." Rose lächelte, hatte jedoch nicht vor, ihre Haare unten zu belassen.
Noch immer lächelnd zog sie ihren Petticoat an und dann ihren hellgrünen Rock, ehe ihr Oberteil folgte.
Am Ende entschied sie sich gegen übermäßigen Schmuck und legte nur eine dezente Kette um, trug sich etwas Rouge auf und war dann auch schon mit sich zufrieden.
Elisé flehte sie an, mehr Make-Up aufzusetzen, doch Rose weigerte sich. Sie wollte, dass sich ihre große Schwester wohlfühlte? Sie fühlte sich ohne Make-Up am wohlsten und natürlichsten.
Jacob währenddessen könnte nicht schlechtgelaunter sein. Er hatte seinen dritten Drink bereits intus und strich sich immer wieder durch die Haare, weswegen sie ihm schon zu Berge standen. Er überlegte und überlegte.
Seine Bedenken, sich noch einen Abend zurückhalten zu können und sie dann einfach gehen zu lassen, wurden immer verzwickter, da er befürchtete, je mehr er trank, desto weniger konnte er bei Verstand bleiben.
Jacob wusste, er war schon gestern Nacht zu weit gegangen, er könnte es nicht noch einmal tun. Er brauchte Ablenkung, dringend – und ein Date mit eben jener Frau würde ihm wenig helfen.
Der Assassine hatte sich tatsächlich dazu entschieden, endlich ein neues Hemd aus dem eingebauten Schrank zu kramen und anzuziehen.
„Also gut", meinte Rose lächelnd und atmete noch einmal durch, bevor sie sich zur Tür begab. „Du benimmst dich, während ich weg bin", bat sie ihre Schwester, die leicht ihre Augen verdrehte. „Wenn etwas ist, kannst du Gus oder Miss MacBean ansprechen."
Elisé kicherte laut und hielt sich schnell die Hand vor ihren Mund als Rose die Zimmertür öffnete und Jacob ihr beinahe gegen die Stirn klopfte.
„Entschuldige." Er schluckte und zwang sich mit aller Kraft, Rose nicht allzu sehr zu betrachten – und das ging an der jungen Frau nicht vorbei. „Ich wollte eben fragen, ob du bereits fertig bist."
Rose lächelte sanft und nickte einmal. „Gut." Sie sah Jacob verwirrt nach als er sich umdrehte und ihr davon lief.
Mit einem letzten Blick auf Elisé, die sich auf das Bett setzte und ein Buch zu sich heranzog, schloss Rose die Tür und folgte dem Anführer der Rooks.
Als sie Jacob gleich darauf wiederfand, lachte dieser gerade über einen Witz, den Oliver gerissen hatte als er in den Gemeinschaftswagon eintrat.
Jacobs Herz pochte schneller und er schluckte die Spucke, die sich in seinen Mund sammelte, schnell herunter, als er nach dem Glas Wasser von Rico griff und es einfach austrank.
Als Rose den Raum betrat hielt für den jungen Assassinen die Welt gleich wieder an und er zwang sich mit aller Kraft erneut dazu, sie nicht zu mustern. Zumal er das Kleid bereits an ihr kannte. Doch im Licht sah es noch viel zauberhafter an ihr aus. Es schmeichelte ihren Kurven und ihrem Dekolleté. Die Frisur nicht minder.
Jacobs untere Region dachte für einen Moment für ihn und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, seine Faust um das herunterhängende Haar zu wickeln und sie an sich zu ziehen.
Wie sehr wünschte Jacob sich, dass sie alleine wären. Doch nicht damit er sie nehmen und als Seins markieren könnte. Wenn er nicht mit seinem Schwanz dachte, stellte er sich das erste Mal in seinem Leben vor, was er sonst mit ihr tätigen würde. Jacob war kein äußerlich begabter Tänzer, doch Rose einmal in diesem Kleid umherdrehen zu können, vielleicht zu einem sanften Lied, würde ihn vermutlich einfach glücklich machen.
Der junge Assassine spürte die Schmetterlinge in seinem Bauch und murrte als es laut knurrte.
„Hast Hunger?", fragte August ihn.
„Ne, der spielt nur Musik", scherzte Jacob trocken und griff gleich noch nach Ricos Brot, der seufzte.
„Möchtest du noch meine Seele, Frye?"
„Lass mal, die hab ich schon." Der Anführer der Rooks schmatzte laut und sah seine Jungs einer nach dem anderen an.
Roses Wangen überzog ein noch stärker rotfärbender Schimmer und sie sah hinunter auf ihre nackten Hände.
Der junge Attentäter räusperte sich einmal und drehte sich mit samt Ricos Brot in der Hand zur Zugtür um. „Wie auch immer, wir sollten los", behauptete der Anführer hastig und verließ als erstes den Zug.
Im Innern durchflutete Rose ein enttäuschtes Gefühl. Er hatte nicht einmal etwas zu ihrem Auftakt gesagt. War er so schockiert gewesen? Hatte sie es übertrieben?
„Sie sehen wirklich wunderschön aus." Lächelnd hielt Oliver ihr den Arm zum Einharken hin und Rose lächelte verlegen, hakte sich ein.
„Vielen Dank, Oliver", bedankte sie sich bei ihm. Wenigstens fiel es einer Person auf.
Rico seufzte enttäuscht. „Dann kauf ich mir halt unterwegs 'n Baguette."
Auch auf dem Weg zum Pub schien der Assassine Rose zu meiden – als ob sie plötzlich Luft für ihn war.
Jacob versuchte seine Gedanken ruhig zu halten. Er durfte nicht so an sie denken, wie er es tat. Wenn er sie neben Oliver so sah, eingehakt in seinem Arm, kam pure Eifersucht in ihm hoch. Er wollte, dass sie sich bei ihm einhakte und dass sie ihn berührte.
Sie hielten lachend bei einer Bäckerei, die noch zu dieser späten Stunde offen hatte.
Alle Jungs, bis auf Rose und Jacob, gingen hinein.
„Du hast also nicht vor, heute zu trinken?", fragte Rose ihn leise und blickte unter ihren langen blonden Wimpern hervor.
Jacob schnaubte, sah die Straße hinab. „Doch."
„Oh", machte die junge Dame.
„Du etwa nicht?"
„Ich darf etwas trinken?" Sie hob beide Augenbrauen.
„Für wen hältst du uns?", gab er belustigt wider. „Die Heilsarmee?"
Rose schluckte, traute sich trotz seinen abfälligen Tonfalls einen Schritt näher an ihn heran. „Ich halte euch mehr und mehr für gute Jungs, die dem Volk von London etwas zurückgeben möchten, nachdem sie so lange terrorisiert wurden."
Jacob sah hinunter auf die junge Frau, presste seinen Kiefer zusammen. „Vorsicht, sonst bildest du dir ein falsches Bild, Dupont."
Rose zog leicht ihre Augenbrauen zusammen. „Du bist wütend."
„Ja", gab Jacob kurzerhand zu.
„Habe ich etwas getan?" Rose konnte sich automatisch nur erschließen, dass sie der Ursprung sein musste.
Sei weniger liebenswürdig, dachte Jacob und stieß die Luft schnaufend aus, senkte seinen Kopf ein Stück mehr in Richtung des Mädchens, in das er sich verliebt hatte.
„Nein, du hast nichts getan." Er schüttelte leicht den Kopf. „Das hat etwas mit mir zu tun."
Roses Mundwinkel zuckten nach oben. „Nun, dann hoffe ich, du kannst schnell wieder besserer Laune sein", wünschte sie ihm. „Vielleicht, um mir heute Abend deine Welt näherzubringen." Er sah hinunter auf seine Hand als sie sie mutig ergriff und ihm über den Handrücken streichelte.
„Flirtest du mit mir?" Seine Mundwinkel begannen sich nach oben zu ziehen.
Roses wurde rot und schüttelte leicht ihren Kopf. „Ich bin neugierig, das ist ein Unterschied."
Jacob verstand das weibliche Geschlecht vielleicht nicht zu hundert Prozent, doch er kannte es ziemlich gut – und er wusste genau, wann jemand mit ihm flirtete.
„Rose, ich glaube-" Die junge Dame zuckte zusammen als die Rooks lachend die Tür aufstießen und mit Baguettes die kleine Bäckerei verließen. Sie entzog ihrem Anführer die Hand und trat einen kleinen Schritt zurück.
Jacob seufzte und ballte seine nun freie Hand zur Faust.
„Von uns aus können wir nun los." Oliver nickte mampfend und grinste dabei breit.
Rose und Jacob liefen nebeneinander, weit hinten, während die Rooks in Feierlaune grölten und sangen und die Straße hinab zu ihrem Lieblingspub liefen – dem One Tun Pub.
Jacob war immer wieder in Versuchung, nach ihrer Hand zu greifen – und am Ende stolz auf sich, als er es nicht tat.
Er ließ Rose den Vortritt, bevor er als letztes eintrat und neben seinen Rooks, mit denen er heute unterwegs war, vier weitere erkannte.
„Fred!", grölte Jacob und hob die Hand. „Junge, gefühlt haben wir uns ewig nicht gesehen!"
Rose blieb stehen, allein, und sah sich mit erhöhten Herzschlag die Szenerie an, atmete tief ein.
Sie überkam ein Gefühl der Einsamkeit, nun wo Jacob einfach in den Pub hineingelaufen und sie alleingelassen hatte.
Die siebzehnjährige fühlte sich unter den Blicken von ein paar Männern unwohl, als diese gafften, so setzte sie sich in Bewegung, nur um beschäftigt zu wirken.
Jacob, dessen Blick zu Rose zurückging, nachdem er Fred begrüßt hatte, entgingen die Blicke der Fremden nicht – und am liebsten hätte er jedem eine reingehauen. Doch er hielt sich erfolgreich zurück.
Rose wusste nicht, wohin, also lief sie zur Bartheke, stellte sich einsam dorthin.
August, der gerade platznahm, erhaschte durch die Menschenmenge den Blick auf die junge Frau und runzelte die Stirn.
„Wo ist Frye?" Er sah sich um, erblickte allerdings den Mantel des Bosses nicht und stieß Oliver an. „Ey, hol die Maus da mal weg, bevor sie belästigt wird", bat er den neunzehnjährigen und dieser wandte sich um, sah Rose an.
Sie wirkte auch in seinen Augen so unsicher und schüchtern. Als gehöre sie nicht an diesen Ort.
„Ich weiß, wir wollten diese Woche als Abschluss befeiern, doch er benimmt sich wie 'n Arsch." Oliver ächzte und erhob sich wieder, bevor er zu Rose hinüberlief.
Rose schluckte als Oliver sie wortlos an der Hand fasste und mit sich zu ihrem Zweiertisch zog.
Er zog einen dritten Stuhl heran und drückte sie darauf nieder, während August die Kellnerin so fett angrinste, dass Rose rot wurde. Sie empfand sein Grinsen als anzüglich.
„Hallo, fremdes Fräulein."
Die blondhaarige Kellnerin mit den hochgesteckten Rasterlocken und dem braunen Kleid mit ihrer verdreckten Schürze von der Arbeit, schmunzelte, ehe sie August die Schulter tätschelte.
„Liebster."
Oliver rollte die Augen. „Ich hasse euch zwei." Die beiden lachten und sahen sich in die Augen.
„Was soll ich euch bringen?"
Sie wandte ihren Kopf kurz ab und sah Rose an, hob ihre Augenbrauen. „Und was kann ich Ihnen bringen?"
Rose sah sich kurz um, wusste nicht, wofür sie sich entscheiden könnte. „Ich nehme, was die Männer nehmen."
Oliver begann zu lachen und den Kopf zu schütteln. „Für uns zwei Weizen und für sie ein Entire Butt, Angie."
„Wie ihr wünscht." Sie sah nochmal zu August hinab, der ihr sichtlich mit den Augen folgte und auf den Hintern starrte.
„Wusstest du, dass sie heute arbeitet?", hakte Oliver nach.
„Sie ist meine Verlobte, natürlich weiß ich das."
Rose hob beide Augenbrauen. „Oh", machte sie. „Also... oh..." Sie fühlte sich schlecht. Sie hatte gedacht, August begrabtschte diese Frau einfach so und sie ließ es zu und flirtete mit ihm, um ein besseres Trinkgeld zu bekommen. „Herzlichen Glückwunsch?"
„Zählt nicht mehr." Oliver lachte. „Ihr seid schon so lange verlobt, ich frage schon nicht mehr, wann die Hochzeit ist."
August' Mundwinkel zuckten nach oben. „Ihr Vater ist krank und sie möchte warten, bis es ihm besser geht. Jeder vermutet, dass es nicht mehr dazu kommt."
„Oh", machte Rose nur erneut. „Mein Beileid."
August winkte still ab und lächelte als Angie ihnen so fix sie konnte ihre Getränke zurückbrachte.
„Ich hab um eins Feierabend, wartest du auf mich?" August nickte und Angie lächelte breit, beugte sich kurz hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was Rose gleich wieder die Röte ins Gesicht trieb.
„Es ist schön hier", sagte sie mit der Absicht, abzulenken und sah Oliver an, der einen großen Schluck von seinem Bier trank.
„Unsere zweite Heimat." Er lachte. „Wir sind hier beinahe jeden zweiten Abend."
Rose hob ihre Augenbrauen, sah umher und sich den Trubel an. „Schön hier", wiederholte sie nur und nahm ihr Getränk in ihre Hände, trank allerdings nicht.
August genoss seinen Drink, folgte mit den Augen seiner Verlobten durch die Menge – und Oliver wurde alle zwei Minuten angesprochen.
Rose hielt den Blick gesenkt, einige Zeit blieb sie stumm.
Sie hatte sich diesen Abend so anders vorgestellt.
Ihre Hoffnung, das hier wäre ein Date mit Jacob Frye, sank – tief.
Denn nach etwas mehr als zwei vernichteten Biergläsern von Augusts Seite aus sah sich Rose einmal zögerlich um und entdeckte den Anführer der Rooks. Umgeben von Damen an der Bar.
Er lachte gerade und nahm drei große Krüge Bier entgegen. Einen gab er einer Frau, die anderen nahm er in eine Hand. Beim Fortgehen von der Bar schlang er den Arm um die Frau, die den dritten Bierkrug trug.
Roses Herz sank ihr tief in den Magen und die Schmetterlinge darin begannen zu weinen.
„Wer ist das?" Rose musste fragen, sie konnte nicht anders.
Augusts Augen wanderten zu Rose und er zog die Brauen zusammen. „Wer?"
„Die Frau." Ihre Augen lösten sich nicht von Jacobs Gesicht, der zu zwei Rooks lief und einem einen Bierkrug hinstellte.
„Ach, die." Oliver hörte zu kippeln auf und wandte sich vom Nachbartisch ab. „Charlotte. Fryes liebstes Spielzeug." Oliver begann breit zu grinsen. „Ich glaube, sie war bisher am häufigsten im Zug bei uns Jungs."
Rose lief rot an und wandte den Blick vom Anführer ab, sah in ihr Getränk hinab. „Oh", machte sie ein erneutes Mal – nur klang diesmal unfassbar betrübt. „Ich wusste nicht, dass er vergeben ist."
„Ist er nicht." Oliver zuckte mit den Schultern und sah die schwarzhaarige Schönheit an. Wenn er könnte, würde er sie sich genau wie Frye unter den Nagel reißen. Die klaren blauen Augen und das dazu dunkle Haar waren ein Traum – von ihrer Figur einmal abgesehen.
Rose nahm einen Schluck vom Bier und verzog ein wenig das Gesicht.
„Nicht so deins, hm?", fragte Paul ein wenig belustigt und tätschelte Rose kurz die Schulter, die zusammenzuckte.
Sie schüttelte ihren Kopf und schluckte das Bier herunter. Sie war es einfach nur nicht gewohnt – das war es, sagte sie sich.
Immer wieder glitten Jacobs Augen zu Rose. Er versuchte sich ernsthaft abzulenken, doch er konnte es nicht sein lassen. Sie zog ihn magisch an.
Selbst Charlotte konnte ihn heute nicht ablenken. Und das spürte die Frau.
„Dir ist bewusst, wenn du in Gesellschaft mit einer anderen Frau bist, ist es unhöflich, sich anderen zuzuwenden." Sie lächelte, fasste den Anführer der Rooks am Kinn und drehte sein Gesicht ihr zu. „Auch wenn ich sagen muss, dass das kleine Ding unfassbar niedlich ist."
Jacobs Augenbrauen zogen sich leicht zusammen und er beugte seinen Kopf vor. „Wie war das?"
„Wie alt ist sie?", fragte sie. „Fünfzehn?"
„Siebzehn." Beide wandten das Gesicht ab und sahen Rico an, der die Augenbrauen hob. „Ich schätze mal, ihr habt von dem einsamen Mädchen da vorne gesprochen." Der Rook deutete auf Rose. „Jacob, sie hat Recht." Er deutete auf Charlotte.
Charlotte lächelte sanft. „Dankeschön, Rico." Sie drehte Jacob wieder ihren Kopf zu. „Wenn du zu ihr möchtest, dann geh."
„Nein." Jacob lächelte, zog Charlotte an der Hüfte fest zu sich und diese runzelte ihre Stirn.
„Was hält dich auf, Frye?", hakte sie interessiert nach. „Ich werde es wohl kaum sein."
„Ist es so unvorstellbar, dass ich dich hübscher finde als sie?"
„Oh." Charlotte hob beide Augenbrauen und lachte. „Nein, wir wissen, ich bin hübscher als sie", stellte sie selbstbewusst klar. „Nur", sie strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, „So einen Blick wie ihr hast du mir noch nie zugeworfen."
Jacobs Hände verkrampften sich und er schluckte. War er noch immer so offensichtlich? Er musste unauffälliger werden.
„Komm mit mir nach draußen, dann zeig ich dir, wie sehr ich nur von dir angetan bin."
Charlotte lachte und legte kurz den Kopf in den Nacken, strich ihm über den Brustkorb. „Tut mir leid, doch heute Nacht landest du nicht bei mir", verneinte sie. Sie wäre die letzte, die jemandem das Herz brach – vor allem wenn es noch ein so junges Mädchen wie in ihren Augen war.
Jacob presste die Lippen zusammen, unzufrieden und zornig auf sich selbst.
Rico seufzte und sah in sein leeres Glas. „Ich geh mir was Neues holen."
Er entfernte sich vom Tisch und im Gegenzug kam Mason kurz heran, vier leere Krüge in der Hand.
„Frye, wann hatt'ste vor, reinzuhauen?" Die Frau in den Armen des Rooks lachte und schmiegte sich an ihn, strich ihm im Nacken immer wieder den Haaransatz hinauf.
„Weit nach Mitternacht mein Freund", grinste der Anführer und Mason begann noch breiter zu grinsen.
„Perfekt", stellte er klar.
Charlotte zog leicht die Unterlippe ein als sich Roses und ihr Blick kreuzten. Die siebzehnjährige sah sofort fort.
Sie seufzte, sah zu Jacob hoch.
„Wenn du sie dir nicht holst", raunte sie ihm ins Ohr, während er einen Schluck trank. „Dann werde ich es tun."
Jacob verschluckte sich und wischte sich über seinen Mund als Charlotte sich von ihm löste und durch die Menge zu tänzeln begann.
„Verdammt." Mason lachte und sah Charlotte nach. „Die ist mutiger als du heut' Abend", behauptete er, bevor er in der Menge verschwand.
Murrend sah der Assassine über seine Schulter und schaute dabei zu, wie Charlotte Rose ansprach, die rote Wangen aufwies.
„Ich hatte noch gar nichts von dir gehört", sagte Charlotte und Roses Kloß im Hals wuchs. „Es freut mich, dass die Rooks endlich auch mal weiblichen Zugang haben."
Oliver begann zu lachen und versuchte sich die Faust in den Mund zu stopfen, um es zu unterdrücken.
„Kann ich dich als Begrüßung auf ein Getränk einladen?" Charlotte hielt ihr lächelnd die Hand hin und Rose sah darauf.
Rose sah unsicher zu den beiden Rooks. August zuckte mit seinen Schultern und Oliver schüttelte sich vor lachen, verschütte ein wenig Bier auf seiner Hose und fluchte im nächsten Moment.
„Ja, warum denn nicht." Rose war noch immer unsicher, doch sie stellte ihr nicht einmal ansatzweise ausgetrunkenes Bier beiseite, ehe sie Charlottes Hand ergriff und sich aus ihrem Stuhl erhob.
Charlotte lächelte breit und strahlend, zog Rose erfreut mit sich, die ihr eher hinterhereilte als zu laufen.
„Erzähl, wie kommst du zu ihnen?" Sie lächelte, sah den Wirt an. „Will."
„Charlotte." Er hob beide Augenbrauen. „Solltest du nicht Zuhause sein? Bei Mutter?"
„Bruder, ich möchte eine Sektflasche."
Er zog eine Augenbraue hoch. „Die kriegst du nicht umsonst, Lotte."
Sie lächelte ihren kleinen Bruder breiter an. „Fein, setze es auf meine Rechnung." Danach wandte sie sich Rose zu, hob ihre Augenbrauen. „Und? Wie kamst du zu den Rooks?"
„Ehrlich gesagt bin ich nur auf Durchreise." Rose hielt es für sicherer, Details ihres Umstands auszulassen. „Ich bin reise morgen ab."
„Sehr schade." Sie schob leicht ihre Unterlippe vor. „Die Jungs nehmen so gut wie nie Frauen auf und ich hatte mir erhofft, eine neue Freundin zu finden."
Rose sah auf das Glas, das Will der Wirt abstellte. Ein zweites, das erst noch abgewaschen werden musste, folgte und die klare Flüssigkeit wurde schnell hineingegossen.
„Ich stell sie dir kalt", murrte der Wirt und drehte sich mit Flasche um.
„Dankeschön!", rief Charlotte ihm nach und nahm sich ein Glas.
Sie lächelte als sie sah, dass die Gruppe ihres Cousins nach den Instrumenten griff und fröhlich eine Melodie anstimmten.
„Ich liebe gute Musik." Sie sah lächelnd zu Rose. „Du auch?"
„Ja", stimmte Rose ihr zu und atmete tief ein, sah auf den Sekt hinab.
„Komm, lass uns anstoßen", bat die schwarzhaarige. „Du magst nur eine Nacht bleiben, doch das bedeutet nicht, dass wir keine Bekanntschaft schließen können."
Rose seufzte, zwang sich zu einem Lächeln und stieß mit Charlotte an, sobald sie ihr neues Glas in der Hand hielt.
Der Sekt glitt ihre Kehle leichter hinunter als das Bier auf ihrem Sitzplatz, jedoch prickelte er so stark, der er in ihrem Hals kratzte und sie Hustenreiz unterdrücken musste.
Charlotte leerte ihr Glas binnen Sekunden, was Rose erstaunte.
„Möchtest du tanzen?"
„Tanzen?" Rose sah auf die kleine Menge, die sich im Takt der Musik wogen. „Ist das nicht verwerflich, wenn zwei Frauen-"
„Ach!" Charlotte ergriff Rose am Handgelenk und zog sie mit sich.
Rose war völlig überfordert. Sie wusste nicht, was sie von Charlotte halten sollte. Doch sie schaffte es, im Vorbeigehen, ihr Glas vor August abzustellen, der kurz aufsah und Rose hinterher.
Rose flehte ihn mit ihrem Blick um Hilfe an.
Sie waren beinahe auf der Tanzfläche angekommen, da löste sich Jacob aus der Menge, ergriff ruckartig das andere Handgelenk Roses und zog fest, sodass Charlotte sie perplex losließ und anhielt.
Sie drehte sich um. „Jacob", sagte sie mit gespielt überraschtem Unterton in ihrer Stimme. „Auch hier?"
Jacob atmete tief ein, sah Charlotte an. „Wenn du nichts dagegen hättest, würde ich mit Rose tanzen."
Roses Herz hämmerte laut und sie fragte sich, wieso es die anderen nicht schlagen hörten. Sie verriet sich doch mit jeder Faser ihres Körpers.
„Oh, tut mir leid, da hättest du früher aufstehen müssen." Charlotte umarmte Rose von hinten, was diese die Augen aufreißen ließ. Sie war auf Körperkontakt zu einer anderen Person nicht vorbereitet gewesen. „Sind wir nicht die schönsten Frauen im Raum, Jacob?"
Jacob versuchte sich davon abzuhalten, doch sein Blick glitt zu Rose hinüber und sein Adamsapfel bewegte sich als er schluckte. „Seid ihr", stimmte er ihr zu und Rose wurde noch ein wenig röter. „Doch wenn du meine Frage nicht verstehst, dann formuliere ich es gerne um, Charlotte." Er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. „Ich würde gerne mit Rose tanzen und du wirst mich nicht von abbringen."
Rose sah auf ihre Hände und versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu behalten.
„Schön." Charlotte rollte mit ihren Augen. „Ich setze mich dann eben zu Fred und Rico." Rose zuckte zusammen als die Frau ihr die Wange küsste. „Ich hoffe, wir sehen uns, Rose."
Zurück blieben Rose und Jacob in der Menge. Während Rose ihn ansah, mied er den Blick und starrte auf jemand anderen – den Sänger.
Sie wartete darauf, dass er die Initiative ergriff, doch dem war nicht so.
„Wenn du das nur gesagt hast, um mich von ihr zu trennen..." Roses Sicht verschwamm und sie konnte den Druck hinter ihren Augen nicht unterdrücken. „Dann hättest du es gleich bleiben lassen können."
Die siebzehnjährige wandte sich von dem Anführer der Rooks gerade ab, nur um ruckartig am Ellenbogen gepackt und herumgedreht zu werden.
Ein Keuchen verließ ihren Mund als er sie fest an der Hüfte packte und sie ein Stück rückwärts in die tanzende Menge drängte.
„Ich habe es nicht nur so gesagt." Rose sah auf ihre Hand als er sie ergriff und hochhielt.
Sie traten eher betreten von einem Punkt zum anderen als das sie tanzten – obwohl es beide konnten.
Rose mied den Blick, während er sie taxierte und nicht anders konnte.
Sie schwiegen und von Minute zu Minute wurde es für sie unbequemer.
„Magst du sie?", fragte Rose leise.
„Wen?" Jacob wandte kurz den Blick ab und blinzelte, bevor er zurücksah und feststellte, das Rose ihm endlich ins Gesicht blickte.
„Charlotte."
Er seufzte, sah zur Seite. „Sie kann aufdringlich sein." Seine Augen verdrehten sich. „Doch sie ist schwer in Ordnung."
Rose schluckte. Ihr brannte die Frage auf der Zunge, wie oft sie schon zusammen gewesen waren.
„Gefällt dir der Abend?"
Rose nickte. „Ja", flunkerte sie. „Er ist sehr... aufschlussreich."
„Schön." Jacob atmete tief ein. „Es tut mir leid, aber ich sehe gerade, das Rico nach mir winkt."
Der Assassine löste sich ruckartig von der jungen Dame und sie blieb auf der Fläche kurz allein zurück.
„Jacob?" Der junge Mann drehte sich sofort um, biss sich auf die Wangeninnenseite.
„Ja?"
Rose schlug den Blick nieder und knobelte ihre Hände ineinander. „Ich mag dich", gestand sie ihm.
Er lächelte gespielt so breit er in seinem zerstreuten Zustand konnte. „Jeder mag mich, Miss Dupont."
Er verschwand so schnell in der Menge, dass sie nur einmal blinzeln brauchte.
Sie seufzte schwer und enttäuscht. Das war nicht die Antwort, die sie erhofft hatte.
Es dauerte eine Weile, bevor Rose sich traute, sich ihr Glas von August zu holen und alleine auf die andere Seite des großen Pubs zu laufen, zu Rico, den sie suchte.
Sie wollte den Menschen an ihrer Seite wissen, dem sie neben Jacob hier am meisten vertraute.
Rico empfing sie lächelnd und schloss sie in die Unterhaltung mit ein, brachte ihr irgendwann ein weiteres Glas Sekt, als sie ihres endlich geleert hatte.
Jacob war nicht mehr zu sehen. Den Rest des Abends war sie in der Gesellschaft seiner Rooks, doch von ihrem Anführer fehlte jede Spur.
Rico lächelte, sah auf sein Krug hinab. „Schon wieder leer?" Charlotte schnalzte mit der Zunge. „Rico, nicht so viel saufen, du bist in Gesellschaft von Damen."
Roses Mundwinkel zuckten nach oben. „Ich hole mir schnell ein neues Getränk, ja?" Er sah die siebzehnjährige an, die nickte.
„Warte, ich begleite dich." Kichernd hakte sich Charlotte ungefragt bei dem Mitte vierzigjährigen ein und zurück blieb das Mädchen zwei fremden Männern gegenüber.
Sie schluckte schwer als ihr einer aufs Dekolleté starrte.
„Und? Woher kennst du nochmal Frye und seine Jungs?"
Jacob währenddessen war seit gut einer halben Stunde nicht mehr im Pub – sondern im Hinterhof.
Er hatte frische Luft so dringend benötigt, dass er es nicht mehr drinnen ausgehalten hatte. So sehr musste er sich zusammenreißen, Rose nicht inmitten der Menge zu sich zu ziehen. Er wollte sie küssen, ihr sagen, wie unglaublich umwerfend sie aussah. Sie war eindeutig die schönste in der Masse an Frauen, die heute Abend anwesend waren – sogar schöner als Charlotte, empfand der Attentäter.
Einige hatten schon nach Jacob gefragt, so auch August, der sich wunderte, wohin sein Boss verschwunden war.
Doch gerade heute tat er sich schwer, anderen die Aufmerksamkeit zu schenken.
Er lehnte sich erneut gegen die Wand und atmete schwer aus als er es nicht wieder hinein schaffte.
„Harter Abend?", erklang die sanfte Stimme einer Frau neben ihm und sie kicherte als sie den Hinterhof betrat. Sie trug noch ihren Mantel, wollte allen Anschein nach in den Pub hinein, ohne gesehen zu werden – denn nur dafür nahm man Jacobs Meinung nach die Hintertür.
Der Assassine blickte zur Seite und sah die blondhaarige Frau an, dessen sehr freizügiges Dekolleté zwischen dem offenen Mantel hervorblitzte.
Seine Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben und er schnaubte.
„Kann man so sagen", schmunzelte der Assassine und nahm die Zigarette an, die sie dem jungen Mann hinhielt.
Er nahm einen tiefen Zug und genoss das Gefühl des Rauchs, der durch seine Lunge strömte. Das war es, was er gerade brauchte.
„Das tut mir leid, zu hören", behauptete die Dame neben ihm und lehnte sich neben ihm an die Wand an.
Er musterte die Dame ein wenig genauer, hätte schwören können, dass er sie kannte.
Jacob runzelte die Stirn ein wenig, nahm noch einen Zug von der Zigarette und legte den Kopf schief. Dann hielt er sie ihr wieder hin.
„Kennen wir uns von irgendwo her?", hakte er nach und die Dame schmunzelte, nahm die Zigarette an und nahm einen Zug.
Sie blies ihm den Rauch ins Gesicht und sah seinen Oberkörper hinab.
„Ich habe dich schon öfters bei ein paar Kämpfen angefeuert, Frye." Sie streckte übermütig ihre Hand aus und knuffte seinen Oberarm. „Ich muss schon sagen, die Muskeln haben's in sich."
Jacob schluckte.
Ihr Auftakt war überdeutlich, selbst für Blinde.
Das war es eigentlich, was der Assassine gewollt hatte. Jetzt, wo sich ihm jedoch das Angebot unterbreitete, hatte er nur Rose vor Augen.
Der junge Anführer ergriff ihre Hand. „Nenn mich Jacob." Er schenkte ihr einen Handkuss und schaute ihr in die dunkelblauen Augen.
„Oh, so charmant." Sie lächelte und biss sich auf die Unterlippe.
Jacob wusste, dass sie offensichtlich aus Gründen den Hinterhof gewählt, doch nun ihren Plan wohl geändert hatte.
Er legte den Kopf schief, nahm ihr die Zigarette ab und zog einmal fest daran, bevor er sie gegen die ihm gegenüberliegende Hausmauer schnipste.
Dann wandte er sich ab, lief in Richtung Hintertür. „Kann ich dir was zu trinken anbieten?" Er drehte sich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen um als er bemerkte, dass sie ihm nicht gefolgt war.
Sie lachte, zog ein Stück ihren Mantel hinunter. „Ich würde nicht länger warten wollen."
Er hob beide Augenbrauen.
Wenn sie sich dessen so sicher war, sollte es am Assassinen nicht scheitern.
Jacob zuckte mit den Schultern, bevor er sich leicht lächelnd in Bewegung setzte.
Roses Mundwinkel zuckten nach oben und sie sah die zwei Männer vor ihr höflich an.
Noch nie hatten sie so viele Männer angesprochen wie in den letzten vierzig Minuten, die sie an diesem Abend alleine war. Rico musste sie vollkommen vergessen haben.
„Ich glaube, es reicht." Roses Augenbrauen hoben sich und sie drehte ihren Kopf, umklammerte ihren Krug. Das Bier hatte ihr einer der Männer in die Hand gedrückt – und sie hatte keinen einzigen Schluck davon bisher getrunken.
Sie starrte zu Rico hoch, der ungefragt neben ihr Platz nahm.
Ihr Kopf drehte sich unmittelbar danach zurück zu den Männern, die ohne ein weiteres Wort aufstanden und ihr höflich zunickten. Einer richtete seine Mütze, dann verschwanden sie auch schon von dem Tisch, an dem der Rook Rose zuletzt zurückgelassen hatte.
„Danke sehr", murmelte Rose, sah in ihr Getränk hinab. Bier, so hatte sie festgestellt, schmeckte ihr nicht.
„Sie sahen verloren aus", kommentierte Rico und tauschte ihr Getränk gegen seines. Es war ein einfaches Wasser.
„Nochmal danke." Sie hob das Glas, hob es an ihre Lippen und befeuchtete ihre trockene Kehle.
„Warum sitzen Sie so spät noch hier?", fragte er sie, trank aus ihrem Krug und leckte sich den Schaum von den Lippen. „Elisé hätte Sie bestimmt gerne vor dem Einschlafen nochmal gesprochen."
Wie jeden Abend, dachte sie sich.
„Jacob wollte mir zeigen, wie ihr Jungs den Abend für gewöhnlich verbringt." Sie zuckte mit ihren Schultern. „Ich habe ihn nur schon eine Weile nicht mehr gesehen." Sie seufzte. „Und irgendwie ist das nicht ganz das, was ich mir darunter vorgestellt habe", fügte sie leiser hinzu.
All ihre Aussagen lieferten ihm keine ordentliche Antwort.
Er zog seine dunkelbraunen Augenbrauen zusammen.
„Für gewöhnlich, in letzter Zeit, ist er der erste, der verschwindet." Rose blickte auf und Rico zuckte mit den Schultern. „Er schien mir heute auch nicht in Partylaune."
„Es lag an mir, stimmt's?" Rose seufzte frustriert und strich sich eine Haarsträhne zurück. „Ich verkompliziere einfach alles, was ich anrühre." Sie stützte ihr Gesicht auf ihrer Hand ab, atmete tief ein.
„Das liegt an ihm, nicht an Ihnen", machte er ihr weis. „Jacobs Gedankenwege versteht niemand, geschweige denn von seinen Handlungen. Er ist in einem Moment gut drauf, im anderen zerschmettert er eine Kutsche."
Oder die Küche, dachte die junge Dame sarkastisch.
Rose runzelte ihre Stirn. „Ich wüsste einfach gern-"
„Ich weiß", unterbrach er sie ruhig, sah sie mit Geduld in der Miene an. „Komm in mein Alter, Kleines, und wir reden dann nochmal über Jacob Frye."
Rose schnaubte belustigt, stieß sich mit dem Kopf von ihrer Hand ab und führte das Glas erneut an ihre Lippen, trank es aus.
„Ich sollte wohl zurück zum Zug." Rose lächelte ernüchternd, sah Rico an.
„Das sollten Sie so spät in der Nacht nicht mehr allein." Er ließ den Krug stehen. „Geben Sie mir ein paar Minuten, dann begleite ich Sie zurück."
„Oh, das ist nicht nötig." Sie schüttelte schnell ihren Kopf. „Bitte, Rico, Sie haben schon mehr als genug-"
„Rose, Frye würde mich umbringen, würde ich Sie alleine in der Nacht zurück zum Zug laufen lassen."
Er schnaubte, schüttelte den Kopf. „Ich komme gleich nach." Er deutete zur Hintertür hinaus und Rose zog ihre Augenbrauen zusammen. „Dort geht es schneller zum Zug, weil man so nicht ums Gebäude herummuss."
„Ah", machte Rose und nickte.
Rico tätschelte ihr kurz den Oberarm bevor er an ihr vorbeilief und sie wartete.
Doch da er wirklich ein paar Minuten mehr zu gebrauchen schien entschloss sie sich nach zwei Minuten schon mal nach draußen zu gehen und drückte sich durch die Menge an Männern und wenigen Frauen vorbei, die hier ihr Glück versuchten, einer unglücklichen Ehe zu entkommen – dachte Rose sich zumindest. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit Mitte zwanzig noch unverheiratet und ohne Kinder zu sein.
Unglücklich, vielleicht.
Doch sie glaubte, sie könnte dies ihrem zukünftigen nicht antun. Ein Band zu brechen, an das sie so sehr glaubte, war für sie nicht denkbar.
Rose atmete die Nachtluft tief ein, zuckte aber zusammen als die Tür sehr laut hinter ihr wieder zuging. Das hatte sie nicht erwartet.
So hatte sie ihren Kopf gedreht, lauschte einen Moment dem gedämpften Gelächter von drinnen.
In dieser Gasse des hinteren Teils des Pubs gab es keine Beleuchtung, außer einer kleinen Lampe über dem Hintereingang, dessen Lampenöl nur noch wenig Licht spendete.
Rose hielt in der Bewegung inne als sie darauf wartete dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und sie Geräusche vernahm.
Zunächst waren es nur Kisten, die sie wackeln und quietschen hörte, bald darauf sah sie sie – am Ende der Gasse, um die Straßenecke rum. Nur zeitgleich gingen damit auch Geräusche einher, die sich danach anhörten, als würde jemand jemand anderem wehtun.
Rose war niemand, der dazu veranlagt war, jemandem in Not wirklich helfen zu können, doch Rico würde gleich kommen und er könnte helfen. Deswegen entschied sie sich, tief durchzuatmen und zu warten.
Nur als sie die Stimme einer Frau vernahm, hielt sie inne und überdachte ihr Vorhaben nochmal, zu warten.
„Oh Gott!"
Roses Herz schlug ihr bis zum Hals. Das war eine Frau. Tat da jemand einer Frau weh?
Rose machte unsicher ein paar Schritte und sah zu den gestapelten Kisten hoch, hatte die Befürchtungen, diese könnten jederzeit auf sie hinunterstürzen.
„Hallo?", fragte sie leise, zu leise. Die beiden kämpfenden verstanden sie nicht.
„Bitte", stöhnte die weibliche Stimme auf und Rose atmete tief ein, ballte ihre Fäuste.
Sie wusste nicht, was vor sich ging, aber sie hoffte Rico würde sie gleich retten, wenn sie sich nun in die dümmste Aktion des Abends stürzte.
Doch wie Jacob ihr gesagt hatte, man sollte Unschuldigen eine Chance auf Verteidigung bieten.
„Hey!" Rose klang nicht annähernd so selbstsicher wie sie wollte. Sie klang noch immer unsicher, leiser als sie wollte.
Doch die kämpfenden hatten sie erneut nicht gehört, sie gar ignoriert.
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und trat entschiedenen Schrittes vor, lief fast bis um die Hausecke.
„Lassen Sie-" Rose verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke als sie um die Ecke trat. Es war nicht ihre Absicht gewesen, doch der Hustenreiz, den sie nicht unterdrücken konnte, nahmen die beiden Menschen wahr, die sich gegen die Kisten lehnten und ineinander verloren.
Rose lief rot an, nicht nur wegen ihres Hustens. Die Stellung in der sie sie erwischte war eindeutig, selbst im Dunkeln.
Die blonden Locken hingen der Frau feucht an der Stirn und sie versuchte beschämt sofort ihren Unterrock hinunterzuziehen.
„Es... tut mir leid." Rose hustete und räusperte sich ein letztes Mal, wandte ihren Kopf ab.
Sie hatte gedacht, es wäre jemand in Gefahr gewesen. Niemals hätte sie daran gedacht, dass sich hier draußen zwei Menschen lieben könnten.
Zumal sie noch nie gesehen hatte, wie das vonstattengegangen war. Nur den nackten Hintern eines Mannes brauchte sie ihres Erachtens nach nie wieder so erblicken.
Sie hörte die zwei sich Liebenden erneut, nur diesmal schienen sie ihre Kleidung zu richten.
„Naja, passiert schon mal." Rose wurde noch röter als die Frau es aussprach als wäre es natürlich, draußen zu verkehren.
Der Mann lachte sichtlich belustigt – und in Rose verkrampfte sich alles. Ihren Puls im Hals spürte sie einhergehend mit dem starken Ziehen im Magen beinahe sofort.
Ihr wurde schlecht und sie schluckte, sah gen Boden.
Dieses Lachen erkannte sie unter hunderten in den letzten Tagen.
Sie hatte es lieb gewonnen. Sie hatte sich in dieses Lachen verknallt.
Rose dachte nicht länger darüber nach, auf Rico zu warten.
Sie konnte Rico nicht gegenübertreten, wenn sie wegen seines Anführer aufgelöst, völlig errötet gewesen war.
Ihre Sicht verschwamm, weil ihr der Kopf dröhnte.
Sie wusste um ihre Gefühle schmerzhaft in diesem Moment als sie feststellte, dass es Jacob war. Der Mann, dessen Hintern sie gerade gesehen hatte. Der Mann, der gerade eine andere geliebt hatte.
Rose wandte sich körperlich komplett vom Paar ab, strich sich selbst ein paar verschwitzte Locken aus der Stirn.
Sie sah die Gasse hinab, suchte nach der nächsten Laterne, doch sie entdeckte keine. So entschied sie trotzdem eilig, dass sie nicht länger auf den Rook warten konnte und setzte sich in Bewegung.
Sie schluckte ihren nicht vorhandenen Speichel ihren trockenen Hals hinunter und ermahnte sich, nicht zu rennen. Nicht in den Schuhen, die sie heute nur angezogen hatte, um Jacob zu gefallen.
Noch nie war ihr etwas derart peinlich gewesen.
Sie hatte sich hübsch gemacht. Für einen Mann, der sie den lieben langen Abend ignoriert und nicht gewürdigt hatte.
Rose hörte die Tür zum Pub nicht mehr aufgehen, dafür war sie nach einigen Minuten viel zu weit entfernt.
Aber Jacob stand noch dort, richtete sein Hemd und seufzte frustriert. Nicht einmal Erlösung war ihm heute gegönnt.
Den lieben langen Abend hatte er versucht, sich zu beschäftigen, hatte ewig gebraucht, seine Gedanken auf die Frau vor ihm zu richten. Und das nur, damit ihm die Erlösung nach der er sich sehnte, verwehrt blieb. Den Druck, den er verspürte, ließ ihn mehr Stimmungsschwankungen verspüren als Evie, wenn sie hungrig war.
Er seufzte, zog die Augenbrauen zusammen als er gerade nach dem Türknauf greifen wollte und die Tür aufschwang.
Perplex lief er zwei Schritte zurück, stieß das arme Ding an, in dem er sich wenige Minuten zuvor noch verloren hatte.
Er hatte sie ausgenutzt, das wusste er. Noch nie hatte er so etwas getan. Schon immer hatte er sich auf die Frau konzentriert, mit der er gerade fickte. Nur heute Abend war es ihm unmöglich gewesen. Heute Abend kreisten seine Gedanken so sehr um Rose, dass er sich einen Moment sogar vorgestellt hatte, sie wäre es gewesen, die er gegen die Kisten drückte und nahm als gäbe es keinen Morgen mehr.
Diese Gedanken drängten sich zurück, als ihm sein liebster Rook aus der Hintertür kam.
„Du willst schon gehen?" Jacob zog die Augenbrauen noch mehr zusammen. „Was ist mit dir kaputt?"
Rico hob seine Augenbrauen im Gegenzug überrascht an. „Ich dachte, du wärst schon längst weg."
Jacob schüttelte den Kopf. „Quatsch, ich hatte zu tun."
Ricos Blick glitt eine kleine Sekunde zu der erröteten Frau hinter seinem Boss, dann über die menschenleere Gasse.
Er atmete tief ein, schloss für einen Moment seine Augen.
„Wo ist sie?"
„Wo ist wer?" Jacob war verwirrt. „Die Frau?" Er deutete mit seinem Daumen die Straße zum Hafen hinunter. „'Tschuldige, wir haben wohl deine Herzdame verjagt." Er lachte. „Ihr Gesicht konnt' ich nicht sehen, aber ich glaube, du hast dir ein Mauerblümchen herausgepickt."
Rico schluckte. „Boss, das war Miss Dupont", sprach er direkt aus. „Sie sollte auf mich warten. Ich wollte sie zurück zum Zug bringen."
Jacobs Lächeln gefror auf seinen Lippen von Sekunde zu Sekunde mehr.
„Das darf nicht wahr sein."
Rico presste seine Lippen aufeinander, trat betreten kurz von einem Fuß auf den anderen.
Sein Boss brauchte keine weitere Sekunde, um zu entscheiden, der Frau nachzurennen, nach der er eigentlich verrückt war.
Denn um die Gefahren am Hafen wusste er.
Rose hatte sich noch nie so allein gefühlt in einer so großen Stadt.
Das Wasser war es, welches sie bisher immer beruhigt hatte. Heute Nacht nicht.
Hier saß sie, alleine auf einer Mauer.
Die Laternen in sämtlichen Straßen waren erloschen. Sie wusste nicht, wie viel Uhr es war, doch es musste schon sehr spät sein, wenn diese gelöscht worden waren.
Rose wusste, es war kindlich, wegen eines Mannes zu weinen. Ihre Mutter hatte ihr stets weis gemacht, dass wegen eines Mannes zu weinen, Schwäche bedeutete. Und Ehefrauen durften nicht schwach wirken, sondern mussten perfekt sein.
Sie wusste um die Männer, die um dieser späten Stunde noch an ihr vorbeiliefen. Einige drehten ihre Köpfe, sahen das weinende Mädchen an, andere blieben kurz stehen bevor sie weitergingen. Keiner sprach sie an – wofür sie dankbar war.
In ihrer jetzigen Stellung konnte sie sich nicht verteidigen. Sie spürte wie ihre Gefühle sie von innen heraus auffraßen. Das passierte wohl, wenn man sich in den falschen Mann verliebte. Bis heute Abend hatte sie tatsächlich angenommen, Jacob Frye wäre ein Gentleman. In Wahrheit war er nur zu ihr freundlich.
Sie wischte sich über die Augen, atmete tief ein und sah zum Mond hinauf, der gerade hinter den Wolken hervorkam und ihr endlich Licht spendete.
Nun konnte sie endlich mehr erkennen.
Leider war sie an einem Teil des Hafens, den sie nicht kannte. Und sie hatte zwei Möglichkeiten. Sie konnte in die eine oder andere Richtung laufen und hoffen, es wäre die richtige.
Da sie von rechts gekommen war entschloss sie sich, nach links weiterzugehen.
Sie stieg weniger elegant von der niedrigen Mauer hinunter bevor sie weiterlief.
Wenige Minuten später stellte sie beim Aufschauen fest, dass sie einem großen bulligen Mann direkt in die Arme lief und atmete tief ein.
Wie das Licht ihn von vorne hart zeichnete, bereitete ihr ein unschönes Gefühl im Magen.
Sie atmete erleichtert durch als sie gerade an ihm vorbei war. Doch zu früh gefreut.
„Alles in Ordnung, Miss?" Sie hielt beim Atmen inne, genauso in der Bewegung.
Dann drehte sie sich zu ihm um. „Ja", antwortete sie schwach. „Ich möchte nur nach Hause."
Sie konnte nicht mehr jeden Zug seines Gesichts erkennen, doch das leichte Lächeln, dass er ihr zuwarf, wirkte nicht bedrohlich – in keinster Weise.
„Dann hoffe ich, Sie kommen dort schnell an. Es ist keine gute Uhrzeit, für eine Frau, noch auf der Straße zu sein."
Rose nickte einmal bevor sie sich umdrehte und weiterlief, sich wieder über die Augen wischte.
Keine gute Uhrzeit für sie... der war gut. Dieser ganze Abend war nicht gut für sie gewesen.
Ihre gesamte Mühe war dahin. Er mochte sie nicht. Alles was geschehen war hatte sie sich eingebildet – fantasiert.
Roses Mundwinkel zogen sich nach unten als sie schnell Schritte hinter sich vernahm und ihre Rückenmuskeln sich anspannten.
„Rose, warte." Sie blickte hinter sich, drehte sich sofort wieder um.
Die Frage, wie Jacob sie in der Dunkelheit gefunden hatte, brannte ihr auf der Zunge.
„Ich finde schon alleine zurück, Mr. Frye."
Von nun an nur noch Formalitäten und distanzierter Kontakt, nahm Rose sich vor. Ihn bei seinem Namen zu nennen würde schmerzen. Und sie hatte schon genug Schmerzen, denen sie gerade ausgeliefert war.
„Rose, hier ist es nicht sicher." Sie schluckte als Jacob sie dazu zwang, stehenzubleiben, weil er sie am Oberarm fest ergriff.
„Mr. Frye, bitte lassen Sie mich los."
Jacob runzelte seine Stirn. Ihr Ton gefiel ihm nicht. „Rose, ist alles in Ordnung?"
„Sie tun mir weh", gestand sie und noch immer stirnrunzelnd ließ er sie los. Sie wischte sich über ihre Wangen, wischte die letzten Anzeichen von Traurigkeit und Bedauern fort.
„Rose, ich bin's." Jacob war verwirrt. Natürlich war es unangenehm und peinlich. Sie hatte ihn beim Sex mit jemand fremden erwischt. Jemand ihrer Klasse hatte weder Sex in der Öffentlichkeit noch unverheiratet. Er fragte sich nicht einmal, ob sie überhaupt schon aufgeklärt worden war.
„Ich finde den Weg alleine zurück, Mr. Frye." Rose war sich sicher, sie könnte ausfallend werden – das erste Mal in ihrem Leben – wenn sie ihn nicht dazu überreden konnte, zu gehen.
„Hey, warte." Jacob hob die Hand, berührte sie und hielt inne als sie zurückwich als hätte seine Hand sie verbrannt.
Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Rose", sprach er ihren Namen so sanft es ihm gelang in seiner Verwirrung aus.
„Ich würde gerne alleine zurück", murmelte sie, mied seinen Blick als er versuchte, Blickkontakt aufzubauen.
„Rose." Er klang entschieden, herauszufinden, was sie gerade hatte.
Rose allerdings setzte sich in Bewegung, was Jacob unter Strom setzte. Deswegen lief er vor sie und hielt sie so daran auf, weiterzugehen.
Er hob beide Augenbrauen als Rose den Kopf senkte und ihn dann abwandte.
„Jetzt komm schon", bat er sie seufzend. „Rose, ich bin's." Er fuhr sich durch sein Haar. „Ist etwas passiert? Hat dir jemand wehgetan?"
Wie erklärte Rose ihm nur, dass er es gewesen war? Wie sie es vorausgesehen hatte. Er brach ihr das Herz.
„Ich möchte nur alleine zurück", brachte sie lediglich hervor.
„Rose, hier ist es gefähr-"
„Bitte, gehen Sie, Mr. Frye."
„Rose-"
„Nein." Rose wich entschieden einen Schritt zurück, ließ sich von Jacob nicht anrühren und er presste seine Lippen aufeinander.
Er hatte schon mal Rückweisung erfahren, doch von Rose war es eine andere Nummer. Er beherzigte ihren Wunsch, dass sie ihn nicht berührte.
Doch sie gehen zu sehen schmerzte ihn mehr.
Wenn er nur wüsste, was sie hatte...
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Datum der Veröffentlichung: 30.11.2021 20:58 Uhr
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