A Matter of TRUST - 5
Nachdenklich nippte ich an meinem Kaffee, während ich meinen Blick auf den Haupteingang des sehr überlaufenen, aber dennoch gemütlichen Cafés fixiert hielt. Ich wusste selbst nicht genau, wieso ich mich überhaupt auf ein Treffen eingelassen hatte oder was ich mir davon erhoffte. Es war wohl die Art gewesen, mit der Ethan mir angeboten hatte, über seinen Bruder zu sprechen, der mich hatte einknicken lassen. Vielleicht wusste er mehr über sein Wohlbefinden. Vielleicht wusste er, wo genau James gerade war. Vielleicht konnte Ethan mir sagen, was sich wirklich in seinem Kopf abspielte, denn schließlich war es offensichtlich, dass mich James mehr oder weniger nur mit Samthandschuhen anfasste. Seinem Bruder gegenüber war er bestimmt weniger verschlossen, oder?
Ich wusste nach wie vor nicht, in welchem Verhältnis er und Ethan zueinander standen, aber ich hatte so ein Gefühl, dass es zwischen den beiden nicht so harmonisch zuging, wie es sich die Eltern in der Regel für ihre Kinder wünschten. Davon einmal abgesehen, wusste ich selbst noch nicht, wie ich James' Bruder einordnen sollte. Ich kannte ihn zwar eigentlich nicht, aber die Art, mit der er mit mir im Krankenhaus gesprochen hatte, hatte mir nicht gefallen. Irgendetwas an diesem Mann sagte mir, dass ich besser auf mich aufpassen sollte, doch gehörte er immer noch zu James' Familie. Vermutlich war mein Urteilsvermögen an jenem Tag im Krankenhaus auch einfach nur durch die sich schier überschlagenden Ereignisse getrübt gewesen.
In diesem Moment schwang wieder einmal die Tür des Cafés auf und brachte die kleine Glocke, die oberhalb davon hing, zum Klingeln. Herein kam ein etwas abgehetzter Ethan mit verstrubbeltem blondem Haar. Er blieb abrupt stehen, versuchte mit einer beiläufigen Handbewegung sein Haar unter Kontrolle zu bringen und sah sich dabei suchend um. Es dauerte nicht lange, ehe er mich an meinem Tisch in einer etwas abgeschiedeneren Nische entdeckte und lächelnd auf mich zukam. Ich musste erst einmal schwer schlucken, als ich ihn lächelnd sah – es war kaum für mich zu ertragen. Ethan sah zwar definitiv anders aus als James, jedoch gab es gewisse Ähnlichkeiten, die nicht zu übersehen waren. Dieses Lächeln. Es erinnerte mich so sehr an James, dass sich mein Herz automatisch wieder schmerzhaft zusammenzog.
„Hallo Aubrey", grüßte mich Ethan freundlich, zog seinen schwarzen Mantel und den gräulichen Schal aus, um beides an dem Kleiderständer links von unserem Tisch zu verstauen.
Ethan trug ein Jeanshemd, an welchem er die obersten drei Knöpfe allerdings offen gelassen hatte. Seine khakifarbene Hose erinnerten mich an die, die James einmal getragen hatte. Kurz darauf setzte er sich mir gegenüber und lehnte sich auf seine Unterarme gestützt nach vorne. Ich fühlte mich schlagartig unwohl in seiner unmittelbaren Nähe, auch wenn ich nicht mit dem Finger auf den Grund dafür deuten konnte.
„Sorry, dass ich zu spät bin. Wie ich sehe hast du aber schon etwas bestellt", meinte Ethan und sah sich dabei über seine Schulter nach der Bedienung um, die er unmittelbar herbeiwinkte.
„Schon in Ordnung. Ja, ich nehme aber auch gerne noch einen Kaffee, wenn ... Sie sich auch noch etwas bestellen", erwiderte ich schulterzuckend und wusste nicht richtig, wie ich Ethan nun ansprechen sollte, obwohl er mich geduzt hatte.
„Oh, lassen wir das. Ich bin Ethan", erklärte er kopfschüttelnd. „Ich bin zwar etwas älter als mein lieber Bruder, aber es gibt trotzdem keinen Grund mich derart formell anzusprechen", scherzte er und ich musterte fasziniert seine sich dabei formenden Lachfältchen – diese Ähnlichkeit war wirklich nicht zu übersehen. Immerhin hatte er somit meine Annahme bestätigt, dass er tatsächlich der ältere Bruder war.
„Okay, Ethan", sagte ich unschlüssig darüber, was ich von seinem ganzen Auftreten nun halten sollte.
Ich beobachtete aufmerksam, wie Ethan für sich und mich noch einen Kaffee bestellte und wie er der Kellnerin ein vielleicht etwas zu übertriebenes Lächeln schenkte. Schließlich hatte ich wieder seine volle Aufmerksamkeit.
„Ich bin immer noch ziemlich erstaunt, wie klein die Welt manchmal ist", meinte Ethan und spielte damit auf unser gestriges Telefonat an. „Um ehrlich zu sein hätte ich nicht gedacht, dich nochmal wiederzusehen."
„Da sind wir wohl schon zwei", erwiderte ich und trank den letzten Schluck meines mittlerweile kalten, ersten Kaffees. Ich wartete darauf, dass Ethan anfing zu erzählen, doch das tat er nicht. Ich räusperte mich. „Hast du in letzter Zeit etwas von James gehört?", fragte ich darum freiheraus.
Wir wussten beide, dass das zwischen mir und James mehr als eine rein platonische Lehrer-Schüler-Beziehung darstellte – dargestellt hatte. Ich schluckte schwer, kam aber mal wieder nicht gegen den sich bildenden Kloß an. Ethan hatte mich an jenem schlimmen Tag weinend aus dem Fahrstuhl stürmen sehen, nachdem ich kurz zuvor noch bei seinem Bruder im Krankenzimmer gewesen war. Niemand war so dumm, um dabei nicht eins und eins zusammenzählen zu können. Außerdem hatten wir bei unserem kurzen Telefonat dieses Thema bereits kurz angerissen. Dennoch lehnte sich Ethan bei dieser Frage mit verschränkten Armen und nach oben gezogenen Augenbrauen zurück. Unter seinem stechenden Blick fühlte ich mich immer unwohler. Irgendetwas war an diesem Mann, was mich stutzig machte ...
„Ich hätte ja nun wirklich nicht gedacht, dass mein kleiner Bruder für dich mal James sein würde, nachdem er mir von eurer Auseinandersetzung erzählt hat", meinte Ethan zu meinem großen Erstaunen. „Scheinbar hat er aber tatsächlich meinen Rat befolgt. Normalerweise tut er das nie. Ich fasse es nicht!", erklärte er lachend.
Die Frage hierbei war nur, auf welche Auseinandersetzung der vielen er damit wohl anspielte. Wie viel hatte ihm James erzählt? Und welchen Rat hatte Ethan James gegeben? Ich wusste nicht genau, wie ich von diesem Punkt aus weitermachen sollte. Diese ganze Situation hier mit Ethan gefiel mir überhaupt nicht. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und gegangen, doch ich blieb, wo ich war, als die Bedienung uns unsere bestellten Getränke brachte, Ethan länger als nötig anlächelte und so tat, als ob ich überhaupt nicht existierte. Mir wurde unvermittelt schlecht.
„Weißt du, wo James stationiert ist?", setzte ich schlussendlich nach, umging seine Aussage und entschied mich dafür, James trotz allem zu vertrauen, nachdem er im Krankenhaus zu mir gesagt hatte, dass sein Bruder kein Problem darstellte. Hoffentlich hatte er damit recht. Ich war mir da alles andere als sicher.
„Oh, ich habe keine Ahnung wo der sich rumtreibt", sagte Ethan und schüttete sich dabei eine ordentliche Portion Zucker in den Kaffee. James hingegen trank seinen Kaffee nur schwarz. „Darüber redet er nie. Wieso denkst du immer noch so viel über ihn nach?", wollte James' Bruder neugierig von mir wissen, doch ich gab ihm keine Antwort und fokussierte mich erst einmal auf meinen eigenen Kaffee – dieses Treffen war definitiv ein Fehler gewesen.
„Ich dachte wir wären hier, um uns über James zu unterhalten", entgegnete ich jetzt irritiert, woraufhin sich Ethan wieder etwas weiter nach vorne beugte.
Plötzlich spürte ich, wie sich seine Hand unter dem Tisch auf meinen Oberschenkel legte. Erschrocken über diese seltsame Geste zuckte ich zusammen, doch Ethan lächelte nur beschwichtigend und ließ seine Hand wo sie war. Ich war so überrumpelt, dass ich das im ersten Moment so hinnahm und nicht weiter darüber nachdachte, auch wenn ich es hätte besser wissen müssen.
„Weißt du, James ist nichts für dich, Aubrey. Er macht sich nichts aus dir", offenbarte mir Ethan in einem ganz eigenartigen Tonfall – jetzt klang er fast so wie James. James, wenn er das Arschloch raushängen ließ. „James benutzt Frauen nur für Sex und dann wirft er sie weg wie Abfall. So war er schon immer und daran wird sich auch nichts mehr ändern", sprach er einfach weiter und traf mich mit jedem Wort so tief wie mit einem Messerstich. „Mich wundert es nur, dass er eine seiner wenigen Regeln gebrochen und sich auf eine seiner Studentinnen eingelassen hat, aber vielleicht war diese Regel auch einfach nur eine Farce. Möglicherweise hat ihn das weibliche Kollegium an der Uni auch schlichtweg nur noch gelangweilt, ich weiß es nicht, aber ich kann sehen, wieso er sich für dich entschieden hat", redete Ethan auf seine trockene Art und Weise weiter und lähmte mich immer mehr mit jedem seiner Worte, doch riss ich mich endlich von seiner Hand los, indem ich mich etwas seitlich auf meinen Platz setzte, damit er den Kontakt verlor.
Ich gab mir alle Mühe mir nicht unmittelbar ansehen zu lassen, wie geschockt ich von Ethans Verhalten und Worten war, doch ganz offensichtlich misslang mir das schrecklich. Seit James gegangen war, stand ich neben mir und war nicht mehr die Alte. Normalerweise hätte ich keinerlei Probleme mit so einem schmierigen Typ umzugehen, doch die taffe Aubrey hatte sich in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen. Nun saß ich hier, mit einem jener schmierigen Typen, nur dass dieser Typ James' Bruder war und mich so unvorbereitet überrumpelt hatte, dass ich an seinem jetzt ziemlich anzüglichen Grinsen leicht ablesen konnte, dass mein Versuch unbeteiligt zu wirken, kläglich scheiterte.
„Bei ihm hast du dich doch auch nicht so geziert, Aubrey. Wieso dann bei mir? Du kannst keine so graue Maus sein, wie du sie vorgibst zu sein, sonst hätte dich James niemals flachgelegt. Ich kenne seinen Frauengeschmack und seine Vorlieben", sagte Ethan rau, aber mit gedämpfter Stimme und lächelte dabei anzüglich, als ich spürte, wie seine Hand erneut Kontakt mit meinem Oberschenkel herstellte und dieses Mal fest zudrückte.
Ich sprang so abrupt auf, dass mein Stuhl mit vollem Karacho nach hinten befördert wurde, meine noch halb volle Kaffeetasse umfiel und ihr Inhalt auf Ethans Hemd landete. Dieser verzog angeekelt das Gesicht und musterte fluchend sein jetzt ruiniertes Hemd, ehe er wütend zurück zu mir sah. Seine Züge verhärtet, seine Augenbrauen streng zusammengezogen und sein Blick so böse, dass ich unmittelbar das Bedürfnis hatte, noch mehr Abstand zwischen ihn und mich zu bekommen, auch wenn ich mir der plötzlichen Stille der Besucher um uns herum mehr als bewusst war.
„Verfluchte Schlampe!", zischte er und begann sein Hemd mit den auf dem Tisch liegenden Servietten halbherzig trocken zu tupfen.
Sobald seine Augen die meinen losließen, begriff ich endlich, was ich nun tun musste. Schleunigst schnappte ich mir meine Tasche und nutzte die Gelegenheit, um die Beine in die Hand zu nehmen. So schnell ich nur konnte rannte ich aus dem Café, vorbei an all den starrenden Menschen. Ich musste schleunigst Abstand zwischen mich und dieses Arschloch bringen. Ich musste schleunigst raus hier.
*
Auch nach mehreren Tagen brachte mich der reine Gedanke daran, was Ethan in diesem Café abgezogen hatte, zum Zittern. Ich hätte meinem Bauchgefühl vertrauen sollen, aber seit James fort war, funktionierte alles nicht mehr so, wie es das üblicherweise tat. Obwohl ich es hätte besser wissen müssen, fragte ich mich, wie James es mit so jemandem in der Familie aushielt und was wohl zwischen den beiden Männern vorgefallen war, dass Ethan augenscheinlich keine sonderlich gute Meinung von seinem Bruder hatte. Gleichzeitig fragte ich mich immer und immer wieder, ob das stimmte, was Ethan über ihn gesagt hatte. Der bloße Gedanke daran trieb mir die Tränen in die Augen. Ethan war ein Arschloch, der seinen Bruder dann schlecht machte, wenn er sich nicht einmal dagegen wehren konnte. Ich wollte alles darauf schieben, doch eine nicht allzu leise Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Ethan mit dem, was er gesagt hatte, recht hatte, leider nicht ganz so gering war.
Ich verbrachte viel Zeit mit Robby, um mich von diesem ganzen Chaos abzulenken. Auch wenn nicht mehr passierte, als dass wir uns ab und an aneinanderschmiegten und noch seltener sanft küssten, fühlte ich mich fürchterlich. Das alles war so falsch, doch ich konnte mich nicht davon abhalten. Ich war mir sicher, dass Robby spürte, dass ich ihn auf eine Weise hinhielt, doch schien er ebenso unschlüssig zu sein wie ich und beließ es dabei, wie es momentan zwischen uns war. An meinen Gefühlen für Robby hatte sich nichts geändert. Ich empfand nicht das gleiche wie für James. Nicht einmal ansatzweise. Auch nach diesem schrecklichen Vorfall mit Ethan nicht. Ich hatte es mir besser verkniffen, Robby von dieser Horrorgeschichte zu berichten. Zum Glück hatte mich Ethan seitdem nicht mehr behelligt. Noch nie in meinem Leben war ich derart froh gewesen, dass jemand weder meine Telefonnummer, noch meine Adresse hatte. Natürlich hätte er mich auf der Arbeit kontaktieren können, doch nachdem ich nun diese Seite an James' Bruder kennengelernt hatte, war ich mir relativ sicher, dass ihm das schon zu viel Mühe gewesen wäre. Vermutlich war er es gewohnt, eine Frau ganz leicht rumzubekommen. Mir wurde sofort wieder schlecht, als ich daran dachte.
Als ich an diesem Samstagmorgen auf die Arbeit kam und Sam entdeckte, wie sie bereits an meinem Platz auf mich wartete, ließ das meine Stimmung unmittelbar noch weiter in den Keller sinken. Ich hatte sie bisher erfolgreich ignoriert und umgangen, weil ich einfach nicht wusste, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Mit Sicherheit bekam sie von ihrem Sohn ohnehin genügend mit. Ich schluckte schwer. Außer Robby schloss ich im Moment tatsächlich jeden in meinem Leben aus. Einschließlich meiner Eltern, die seit jenem Vorfall in der Uni plötzlich wieder für sich entdeckt hatten, mich beinahe täglich mit Anrufen und Nachrichten zu nerven.
„Hallo Sam", begrüßte ich Sam steif, versuchte mich an einem Lächeln und machte mich möglichst beiläufig daran, mich an meinem Platz einzurichten.
„Du siehst richtig scheiße aus, Aubrey", erwiderte Sam trocken und direkt wie üblich, als sie sich schließlich auf meinem Schreibtisch niederließ und mich kritisch beäugte.
„Danke, wäre mir selbst nicht aufgefallen", antwortete ich monoton. Ich wollte nicht blöd sein, aber ich konnte heute einfach nicht mit ihrem Humor umgehen.
„Das liegt hoffentlich nicht an meinem Sohnemann, sonst muss ich mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden", meinte Sam nach einem Moment der Stille nachdenklich und wirkte auf mich plötzlich so ernst, wie noch nie.
„Nein, nein, Robby ist wunderbar", beeilte ich mich zu erklären, damit Sam nicht auf die falschen Schlüsse kam. „Er ist ... einfach ein Gentleman", meinte ich, nachdem ich tatsächlich Schwierigkeiten hatte, die passenden Worte zu finden.
Sam zog skeptisch eine Augenbraue nach oben und verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. Natürlich glaubte sie mir nicht. Ich würde mir nicht einmal selbst glauben. Ich seufzte niedergeschlagen und sah auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.
„Was genau soll ich dann in das für Robby ungewöhnliche Gestammel hineininterpretieren, wenn ich ihn nach dir frage?", wollte sie von mir wissen. Robby hatte also tatsächlich nichts zu ihr gesagt. Dafür war ich ihm sehr dankbar.
„Es geht mir momentan bloß nicht gut", antwortete ich ausweichend.
„Momentan ist gut. Aubrey, was ist los? Ich mache mir wirklich Sorgen um dich."
„Du weißt was los ist. Das alles ... es ist zu viel für mich. Und dann ist da auch noch James' Bruder, der ...", begann ich zu sagen, biss mir aber umgehend auf die Zunge, als ich bemerkte, was mir beinahe rausgerutscht wäre. Erschrocken sah ich zu Sam auf, die große Augen machte.
„James' Bruder?", wiederholte Sam schockiert, doch anhand meiner Reaktion schien sie zu ahnen, dass das in eine Richtung ging, die nicht verwerflich war – zumindest für mich.
„Bitte, Sam. Nicht heute. Ich kann ... gerade echt nicht darüber reden."
Ich wusste, dass ich nicht gerade freundlich zu ihr war, als ich sie auch weiterhin vollständig aus meinem Leben ausschloss. Noch vor wenigen Wochen hätte ich ihr wohl das meiste erzählt, doch jetzt war es anders. Jetzt war Robby ebenfalls involviert und ich wollte Sam nicht vor den Kopf stoßen, auch wenn ich das vermutlich längst getan hatte. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Irgendwann, wenn die Zeit reif dafür war, würde ich ihr davon erzählen. Dann, wenn ich endlich wieder zu mir selbst gefunden hatte, was hoffentlich sehr bald der Fall sein würde. Viel länger konnte ich das nämlich nicht mehr ertragen.
*
Sam hatte akzeptiert, dass ich nicht bereit dazu war, darüber zu sprechen. Den Rest des Arbeitstages hatte sie mich mit meinen Gedanken alleine gelassen, doch hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass ich sie vor den Kopf gestoßen hatte. Gleichzeitig hatte ich dauernd an Robby denken müssen und dass es meine Schuld war, dass es ihm momentan wohl selbst nicht so gut ging – ich war zu einem Monster geworden. Das musste aufhören.
Vollkommen erschlagen kam ich nach Hause und wollte vorerst einfach nur auf mein Sofa und stumm da liegen, doch als ich näher an die Eingangstür zu meinem Wohnhaus kam, wurde ich schlagartig hellwach. Seit vielen quälend langen Tagen wartete ich darauf, dass James meinen Brief beantwortete, auch wenn ich nicht wusste, wie lange es dauern würde, bis mich seine Antwort erreichen würde. Zwischenzeitlich hatte ich auch bereits wieder angefangen daran zu zweifeln, ob er mir überhaupt zurückschreiben würde. Ich war jedes Mal wieder enttäuscht gewesen, wenn ich die Briefe herausgezogen und mir nicht sein Name entgegengesprungen war. Ich versuchte, mir nicht allzu große Hoffnungen zu machen, als ich zu meinem Briefkasten eilte und den Brief, der hervorlugte, an der Ecke herauszog. Mit wild pochendem Herzen drehte ich ihn um. Ich hielt automatisch die Luft an. Er war von James und sah ziemlich ramponiert aus.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe nach oben zu gehen, sondern riss den Brief auf der Stelle vorsichtig auf und faltete ihn mit zittrigen Fingern auseinander. Ich war plötzlich schrecklich nervös, als ich gierig begann zu lesen. Atemlos ließ ich mich zu Boden sinken. So, als ob ich gerade eben noch einen Marathon gelaufen wäre.
Aubrey,
ich weiß, dass ich dich zutiefst verletzt habe. Ich kann nicht in Worte fassen, wie leid mir das tut. Ich wusste, dass es zu diesem Punkt kommen würde und dennoch habe ich nicht auf die Stimme tief in mir drin gehört und dich in mein verkorkstes Leben hineingezogen. Es gibt nach dem Tod von Marc nichts, was ich mehr bedauere als das. Vielleicht kannst du mir eines Tages glauben und verzeihen, auch wenn ich keine Vergebung verdiene.
Mir ist klar, dass ich das nicht vernünftig erklären kann, aber nachdem ich selbst nicht daran glaube, je wieder nach Hause zu kommen, wollte ich es leichter für dich machen. Ich dachte, dass es das Beste so ist. Ich kann nicht mehr vernünftig denken. Ich kann dir nicht sagen, wieso ich mich überhaupt dazu entschlossen habe, dir zu schreiben. Vermutlich war das ein riesiger Fehler, aber ich bin alles andere als perfekt. Mir unterlaufen ständig Fehler. Ich hätte dich in Frieden lassen sollen, doch ich konnte nicht – obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte. Du weißt, dass ich ein schlechter Mensch bin, der nur aus egoistischen Gründen handelt. Jetzt mehr, als jemals zuvor.
Ich bin froh, dass Robby für dich da ist. Du hast jemanden wie ihn verdient, Aubrey.
Bei Mr. Nelson habe ich meine Finger nicht im Spiel gehabt, aber vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass er, wie du sagst, alt, fett und nervig ist. Du bist und bleibst die beste Studentin, die ich an der Wildwood hatte. Es dürfte für dich trotz seines Mangels an Fachkompetenz ein Leichtes sein, gute Noten zu bekommen, oder?
Ich bin tatsächlich nicht in der amerikanischen Armee, sondern in der britischen. Das ist eine längere Geschichte und ich weiß nicht, ob du sie überhaupt hören willst.
Dieser Brief ist deutlich kürzer als der letzte, aber ich habe dir auf die Rückseite meine neue Handynummer geschrieben. Wir werden in den nächsten Tagen versetzt. Ich schätze, dass wir dort wieder etwas mehr in der Zivilisation sein werden, zumindest für eine Weile. Falls du den Kontakt also tatsächlich aufrechterhalten willst, kannst du mich über diese Nummer erreichen. Fühl dich aber nicht dazu verpflichtet.
James
Ungläubig las ich den letzten Absatz erneut, damit die Information auch wirklich an mein Hirn vordringen konnte. Er hatte mir tatsächlich seine neue Handynummer aufgeschrieben? War das von Anfang an sein Ziel gewesen? Hatte er deshalb von seinem neuen Smartphone erzählt? Hektisch drehte ich den Brief um und entdeckte die mittig notierte Nummer. Dort stand sie. Wie gelähmt musterte ich die in James' geschwungener Handschrift niedergeschrieben Zahlen. Mein Kopf war wie leergefegt, als ich langsam begriff, dass ich ihn nun wieder regelmäßig erreichen konnte, sofern ich das nur wollte – zumindest hoffte ich das. Dem Poststempel nach zu urteilen, musste James bereits an dem Ort sein, von dem er in seinem Brief gesprochen hatte. Ob er gerade wohl wach war? Wie viel Uhr es wohl gerade bei ihm war? Ehe ich es mich versah, zog ich mit eiskalten Fingern mein Handy hervor und ersetzte James' alte Nummer durch seine neue. Natürlich hatte ich seine Nummer nicht gelöscht und auch unsere Nachrichten aufbewahrt. Ich hatte es schlichtweg nicht über mich gebracht, diese zu löschen.
Ich überlegte einen Moment, was ich ihm überhaupt schreiben sollte, doch schlussendlich entschied ich mich für ein schlichtes Hi und schickte mehrere Stoßgebete an das gesamte Universum, dass James wach war. Dass er meine Nachricht gleich bekam. Dass er sie las. Dass er mir antwortete.
Ich saß immer noch draußen auf der Schwelle zu meinem Wohnhaus, kaute nervös auf meiner Unterlippe herum und wartete geschlagene zehn Minuten lang, dass er mir antwortete. Mit jeder Sekunde, die verstrich, schwand meine Hoffnung, dass ich gleich etwas von ihm hören würde. Gerade als ich dachte, dass er es sich womöglich doch auch noch einmal anders überlegt hatte, vibrierte mein Smartphone, welches ich nach wie vor in meinen Händen hielt.
Meine Augen wurden groß und mein Herz begann von einer Sekunde auf die nächste wieder völlig unregelmäßig zu schlagen.
Hi.
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