Das rote Kleid
Samstags stand June wie immer zwischen den Regalen von Derwisch & Banges. Dieses Wochenende war wie bereits erwähnt Hogsmeade Wochenende, was bedeutete, dass unzählige Schüler im Laden ein und aus gingen. Die meisten warfen June schräge Blicke zu, wenn sie sie erkannten. Doch June ignorierte sie so gut es ging. Sie sortierte nur weiter beschädigte Ware aus oder machte hinten im Lager auf dem kleinen Schreibtisch den Papierkram. Wenn Mister oder Mrs Williams gerade nicht verfügbar waren, übernahm sie die Kasse, was sie allerdings nicht unbedingt vor den skeptischen Blicken ihrer Mitschüler schützte. Doch wie gesagt, sie bemühte sich sie nicht zu beachten.
,,Mister Williams?" fragte sie ihren Chef, als gerade nicht sehr viel los war. Er stand hinter der Kasse und sortierte sorgfältig Münzen. Das tat er sehr oft.
,,Mhm?" murmelte er geistesabwesend, während er einen Sickel auf den anderen stapelte.
,,Also... ich habe mich gefragt..." begann sie nervös und zupfte am Saum ihres Arbeitshemdes herum. Mister Williams blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen verstohlen aus den Augenwinkeln an.
,,Ich wollte fragen, ob es eventuell möglich wäre, dass ich über die Weihnachtsferien frei bekomme?" fragte June verlegen und blickte vorsichtig zu ihm. Weihnachtsferien waren nämlich bereits in wenigen Wochen. Er antwortete nicht... er schaute sie nur weiter mit diesem undefinierbaren Blick an.
,,Ich meine... Mir ist bewusst, dass es sehr viel verlangt ist und vermutlich nicht gehen wird." murmelte sie weiter. ,,Aber es würde mich freuen, wenn meine Schwestern das erste Weihnachten ohne ihre Eltern gemeinsam Zuhause und nicht in der Schule verbringen müssten..."
Mister Williams schob den Stapel Sickel zur Seite und nahm einen Kalender zur Hand.
,,Das wären drei Schichten, die du verpassen würdest." sagte er und blätterte durch die Seiten.
,,Ich weiß..." murmelte June wenig zuversichtlich.
,,Gerade die Tage vor Weihnachten ist immer am meisten los." seufzte Mister Williams. June nickte nur und blickte zu Boden. Deswegen sah sie auch nicht, wie sich ein Lächeln auf Mister Williams' Gesicht schlich.
,,Ich gebe dir frei."
June hob perplex den Kopf und starrte ihren Chef verwirrt an.
,,Wie bitte?"
,,Ich bin selbst in einer großen Familie aufgewachsen und weiß, wie wichtig es ist an Weihnachten beisammen zu sein. Meine Frau und ich kriegen das schon ohne dich hin. Dann müssen eben die Kinder aushelfen." meinte er und Zwinkerte June schmunzelnd zu. June begann sofort bis über beide Ohren zu strahlen.
,,Vielen Dank, Mister Williams!!" seufzte sie erleichtert und machte sich weiter an die Arbeit. Bei der Post hatte sie bereits gefragt und ebenfalls frei bekommen. Jetzt musste sie nur noch Rosmerta fragen. Wenn sie nein sagen würde, müsste sie so oder so in Hogwarts bleiben. May und April konnten schlecht alleine nach Hause fahren. Vor allem würde sie May nicht zutrauen, dass sie verlässlich auf April acht geben würde. Doch June war zuversichtlich, dass Rosmerta sie ebenfalls gehen lassen würde!
June ging zurück ins Lager zu ihrem Schreibtisch um Lieferbestätigungen auszufüllen. Eine Beschäftigung, die leider nicht durch Zauberei zu ersetzen war. Der Eingang zum Lager war direkt neben dem Regal mit Schreibfedern, Briefpapier und Pergament.
Als June schließlich an ihrem Schreibtisch saß, blendete sie das Geräusch der kleinen Glocke fast völlig aus, das ertönte, wenn jemand den Laden betrat. Sie wurde erst wieder hellhörig, als sie drei allzu bekannte Stimmen hörte, die sich anscheinend beim Briefpapier umsahen.
,,Ich glaube gelb ist nicht so meine Farbe, grün eher! Mit dem grünen Kleid hab' ich die richtige Wahl getroffen." hörte sie durch die Tür zum Lager ein Mädchen sagen. Irrte sie sich, oder war das Stella gewesen, die Freundin von May.
,,Auf jeden Fall! Das passt total zu deinen Augen!" sagte ein weiteres Mädchen, dessen Stimme June zu einhundert Prozent ihrer Schwester zuordnen konnte. May war also mit Stella und höchstwahrscheinlich auch mit Louise hier. June konnte es sich nicht verkneifen, ihrem Gespräch noch ein wenig zu lauschen.
,,Das rote Kleid aus der Auslage hat so toll an dir ausgesehen, May!" schwärmte Lou. May lächelte nur matt.
,,Ach... So toll war es auch wieder nicht." seufzte sie und winkte ab.
,,Spinnst du? Du hast ausgesehen wie eine Prinzessin!" meinte Stella enthusiastisch.
,,Wieso hast du es nicht gekauft?" fragte Lou. May zuckte mit den Schultern.
,,Naja... Ich hatte sowieso nicht genug Geld mit... Und außerdem brauche ich so ein Kleid doch sowieso nicht." sagte May und zuckte mit den Schultern. June zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe, als sie hörte, was ihre Schwester sagte. Sie kannte sie gut genug um zu wissen, wann sich ihre Schwester etwas wirklich wünschte. Und sie erkannte auch, wenn May etwas herunterspielte.
,,Aber es ist so ein schönes Kleid!" jammerte Lou und zerrte an Mays Jacke.
,,Ich weiß... Es ist wirklich wunderschön..." seufzte sie. Doch sie schüttelte ihre Enttäuschung gleich wieder ab und setzte ihr herkömmliches Lächeln auf.
,,Aber egal! Ich komm' darüber hinweg." scherzte sie und wechselte schnell das Thema.
,,Dieses Briefpapier sieht doch schön aus, oder?"
May hatte natürlich keine Ahnung, dass June hinter der Tür, die gleich neben dem Regal war saß und alles mitgehört hatte. June überlegte... es gab nur einen Laden in Hogsmeade, der Kleider verkaufte, nämlich Besenknechts Sonntagsstaat. Sie hatte sowieso überlegt, was sie May zu Weihnachten schenken könnte. Die Gelegenheit kam gerade perfekt!
Nach ihrer Schicht stürmte June anders als sonst nicht direkt zum Essensstand um sich Blätterteigpastete zu holen. Sie schlug genau die entgegengesetzte Richtung ein, nämlich zu Besenknechts Sonntagsstaat. Schon aus der Ferne konnte sie die vielen wunderschönen Kleider erkennen, die in der gläsernen Auslage standen. Zu ihrem Glück war nur eines davon rot!
May und ihre Freundinnen hatten Recht gehabt. Es war tatsächlich wunderschön. Es war Schulterfrei und war am Ausschnitt entlang mit roter Spitze bestickt. Um die Taille herum ging ein Bund aus dem selben Stoff, der am Rücken zu einer großen Schleife zusammengebunden war. Der Rock war sorgfältig in Falten gelegt und war hinten etwas länger als vorne, wo er über den Knien endete. Das ganze Kleid erstrahlte in einem wundervollen, satten, hellen weinrot.
June starrte das Kleid an und konnte sich sofort vorstellen, wie hübsch May darin aussehen musste! Sie wollte ihr das Kleid unbedingt zu Weihnachten schenken! Doch plötzlich fiel ihr Blick auf das Preisschild und sie musste schlucken. Kein Wunder, dass May sich das Kleid nicht leisten konnte.
62 Galleonen
June seufzte. 62 Galleonen waren mehr als drei Viertel von dem, was sie an einem Wochenende verdiente. Ihr würde also einiges von ihrem herkömmlichen Monatsgehalt abfallen, was sie eigentlich benötigte, um die ganzen Rechnungen und die Miete zu bezahlen. Zwiegespalten biss sich auf die Unterlippe.
Ja, es war viel Geld. Aber es war das erste Weihnachten ohne Mum und Dad und vermutlich auch ohne Jan. Gerade May könnte etwas Freude und Aufmunterung gebrauchen, wo es doch gerade für sie am schwierigsten war. Außerdem hatte June das Geld, das sie verdient und noch nicht ausgegeben hatte immer sorgfältig gespart! Schließlich war bald Weihnachten... Das war nur einmal im Jahr!
June holte tief Luft und öffnete die Eingangstür zum Kleiderladen. Innen drin sah sie eine junge Frau mit rotem Haar und einer Brille auf der Nase hinter der Kasse sitzen.
,,Guten Tag!" grüßte sie June freundlich.
,,Hallo." grüßte June zurück und ging auf sie zu.
,,Ich hätte gerne das rote Kleid aus der Auslage, bitte."
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