Vertrauen I
Lloyd landete auf hartem Steinboden. Um ihn herum, nichts als Finsternis. Mit seinem heilen Bein trat er in die Richtung, in der er Sascha vermutete, aber er traf nur die Luft.
„Das ist nicht meine Tochter." Die Stimme hallte düster durch den weiten Raum.
Ihm gefror das Blut in den Adern. Auch wenn er nichts sehen konnte, wusste er, wohin Sascha ihn gebracht hatte. Er wusste, wer sich dort vor ihm befand.
Der König der Menschen hatte viele Namen. Der Rote König. König über alles Leid und Verderben. Aber seinen wahren Namen kannte kaum jemand.
Saschas Stimme erklang einige Meter von Lloyd entfernt: „Mit seiner Hilfe werden wir Kyra zu uns locken können..." Er wollte noch weitersprechen, aber die frostige Stimme unterbrach ihn.
„Wen hast du mir dort mitgebracht?", fragte der König der Menschen.
„Das ist...", setzte Sascha wieder an, aber diesmal was es Lloyd, der ihn unterbrach.
Er stützte sich auf seine Arme und sagte: „Ich bin Leandras' Sohn, der Kronprinz von Everas. Der König der Drachen."
Ein Lachen ertönte von dem Thron. „Ah ja, Leandras. Ich erinnere mich noch genau an seine verzweifelten Versuche, seine Frau zu befreien, als er hörte, dass sie bei mir ist. Und ich erinnere mich an ihre Schreie. Zu schade, dass er nicht auch bei ihrer Hinrichtung anwesend sein konnte. Das wäre definitiv ein Spektakel gewesen."
Galle stieg in Lloyd auf. Diese Worte, die Erinnerungen, die er stets verdrängte. Er wollte sie nicht ertragen müssen.
Tränen brannten ihm in den Augen und unfähig sie zurückzuhalten, rollten sie ihm über die Wangen. Der ganze Tag, das Ankommen auf dem Ball, das Gespräch mit der Lady, dann sein Bein und nun die harschen Worte des Königs. Er konnte nicht mehr.
Aber gleichzeitig wusste er, er konnte sich hier nicht zusammenrollen, schluchzen und über den Tod seiner Mutter trauern.
Später, sagte er sich, später konnte er zusammenbrechen.
Und mit diesem Gedanken rappelte er sich auf. Unelegant, weil sein Knie beschädigt war, und er brauchte fast eine halbe Minute, aber letztlich stand er. Wackelig, denn er konnte eines seiner Beine nicht belasten, ohne zurück auf den Boden zu stürzen. Die Tränen jedoch versiegten nicht, so sehr er sich auch bemühte, sie zurückzuhalten.
„Ich habe keine Verwendung für ihn", sagte der König nun.
Langsam begannen sich Lloyds Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber noch immer konnte er nur schemenhafte Gestalten wahrnehmen. Die Umrisse des Thrones, auf dem der König saß und dahinter ein Leibwächter. Aber sie waren zu weit entfernt und der Raum zu dunkel, als dass er ihre Gesichter sehen konnte.
„Sicherlich wird Kyra hier auftauchen", sagte Sascha, „Wenn wir ihn hier als Geisel halten. Und auch Leandras werden wir eine Falle stellen können. Vielleicht wird er sogar die Bastion in seinem Wald aufgeben."
„Kyra ist nicht töricht", antwortete der König. „Sie wird ihre Bauern opfern. Und Leandras?" Kurz schwieg er und überlegte. „Leandras hat auch den Tod seiner Frau nicht verhindern können. Ihn –" Der König deutete in Lloyds Richtung. „– hier zu behalten, ist unnötig."
Lloyds Sicht verschwamm. Die Stimmen hallten nur noch aus der Ferne und verklangen in seinen Ohren. Der Blutverlust machte ihm stärker zu schaffen, als er gedacht hatte.
„Aber wolltet Ihr ihn nicht?" Der Schemen des Königs machte eine Handbewegung. Ein weiterer Schatten löste sich aus der Finsternis. Eine Gestalt die, dem Elfen zuvor nicht aufgefallen war.
„Macht mit ihm, was Ihr wollt", sagte der König. „Schickt mir nur einen Finger, falls Ihr Euch entscheidet, ihn zu essen."
Ein leises Klirren zog sich durch den Thronsaal. In Lloyds Kopf hallte es so laut, dass er sich die Ohren zuhalten wollte, wäre er nicht zu schwach gewesen, seine Arme anzuheben.
Seine Knie wurden weich. Eine Hand legte er auf die Stirn und drückte mit zwei Fingern gegen seine Schläfen, als hoffte er, so das gelle Geräusch ausblenden zu können.
Doch es half nichts. Seine Beine konnten ihn nicht länger tragen. Er bemerkte kaum, wie er fiel, nur dass er gegen einen Körper stieß.
Seinen Kopf versuchte er anzuheben, aber wie mit Blei gefüllt schien jeder seiner Knochen. Er konnte sich nicht länger bewegen. Und er wollte sich auch nicht länger gegen dieses seltsam warme Gefühl in seiner Brust wehren.
Der Boden verschwand unter seinen Füßen und er verlor das Bewusstsein, ehe er erkennen konnte, wem er in die Arme gefallen war.
Leandras beobachtete vom Waldrand aus jede Regung im Niemandsland. Mal war es ein Hase, der sich in die Asche verirrt hatte, mal ein Fuchs, der eine Pfote aus dem Wald herausgesetzt hatte, um dem Hasen hinterherzujagen, aber dann schnell wieder umgekehrt und im Dickicht verschwunden war.
„Und Kestrel hat keinen weiteren Brief geschickt?", fragte Leandras den Elfen an seiner Seite.
„Nein, Eure Majestät", antwortete die Wache. „Das Treffen war für heute angelegt."
Leandras hielt ein Schnauben zurück. Der Herzog war zu spät. Viel zu spät. Aber ganz zornig, konnte der Elfenkönig ihm nicht sein. Schließlich war es ein weiter Weg aus dem Norden bis zum Rand des Großen Waldes. Genaue Ankunftszeiten konnte man nur schwer abschätzen. Vor allem wenn man in Begleitung reiste. Denn Leandras war sich sicher, dass Tavaren nicht allein kommen würde. Nicht zu einer Verhandlung mit ihm, dem Feind aller Menschen.
Umso überraschter war er, als er den Herzog am Horizont sah, herantrabend auf seinem Friesen und ohne Begleitung.
„Geht", zischte Leandras seinen Wachen zu, die sich überall im Wald verbargen.
„Eure Majestät...", setzte einer von ihnen an, zu widersprechen, aber mit nur einer Handbewegung brachte der Elfenkönig ihn zum Schweigen.
„Geht", wiederholte er. Er wollte nicht, dass Tavaren sein Misstrauen bemerkte, wenn der Herzog ihm doch allein gegenübertrat.
In den wenigen Minuten, die Tavaren benötigte, um den Rand des Großen Waldes zu erreichen, waren die Elfen zurück in die Stadt aufgebrochen. Nur Leandras blieb zurück und die Schmetterlinge, die seine Seite niemals verließen.
Tavaren sprang von dem Friesen ab und kam auf den Elfenkönig zu, blieb aber einige Meter vor ihm stehen. Außerhalb des Waldes, damit Leandras keine Macht über ihn hatte.
„Eure Majestät", begrüßte er den König.
Leandras hob sein Kinn ein Stück an. „Lord Kestrel, Ihr seid endlich eingetroffen", sagte er kühl. Seinem Feind würde er sein Innerstes nicht offenbaren, nicht zeigen, welche Gefühle durch den Verlust seiner Tochter wieder in ihm aufgestiegen waren. Er neigte nur leicht seinen Kopf und wartete auf eine Antwort.
„Es gab einige Schwierigkeiten auf dem Weg", erklärte Tavaren. „Offenbar mögen die Templer es nicht, wenn ich durch ihr Gebiet ziehe." Er lächelte entschuldigend, aber Leandras' Miene blieb ausdruckslos.
Tavarens Blick schweifte fort von dem Elfenkönig und zu den Bäumen. Er suchte den Wald ab, ob sich weitere Elfen bei Leandras befanden, doch als er niemand fand, sah er wieder zu dem König.
„Ich bin allein", meinte Leandras. Weder seine Stimme noch seine Gesichtszüge zeigten eine Regung. „Was wollt Ihr mit uns verhandeln?" Er wollte keine Zeit verschwenden, denn der Wald wurde unruhig. Die Anwesenheit eines Menschen störte ihn. Er wollte ihn durchbohren, zerreißen und in der Erde begraben. Tavaren wäre tot, wenn er auch nur einen Fuß in den Wald setzen würde.
Der Herzog wusste es und hielt akribisch genau den Abstand zu den Bäumen ein.
„Ein Bündnis", antwortete Tavaren. „Schließlich wollen wir beide dasselbe. Den Tod des Königs in Rededge."
Nur ein Zucken von Leandras' Augenbraue verriet seinen Unmut.
Tavaren bemerkte es und sprach schnell weiter: „Danach können wir uns gerne weiter bekämpfen."
Leandras presste seine Lippen zusammen und musterte den Herzog. Er konnte nicht sehen, wie dieser Mensch seinen Sohn faszinieren konnte. Weder war er eloquent noch überdurchschnittlich ansehnlich oder anderweitig liebenswürdig. Nur ein Mensch.
Doch während Tavaren sprach, erkannte Leandras es. Das Glitzern in den dunklen Augen, als er voller Begeisterung seine Pläne kundtat. Dann das Lächeln und die...
„Grübchen...", murmelte Leandras. Nur halb waren seine Gedanken bei dem Menschen vor ihm.
„Eure Majestät", versuchte Tavaren Aufmerksamkeit des Elfenkönigs wieder auf seine Worte zu lenken. „Hört Ihr mir zu?"
„Nein", antwortete Leandras trocken. Er musste bei der Sache bleiben. Jeder andere Gedanke konnte warten, bis diese Verhandlung abgeschlossen war.
Ein unsicheres Lächeln legte sich auf Tavarens Gesicht, aber er kommentierte es nicht weiter und wiederholte stattdessen seine Worte.
„Wir beide wollen den Tod des Königs", sagte er. „Aber dafür sollten wir anfangen, auf einer Seite zu stehen. Wir können uns gegenseitig helfen. Ihr könnt den Wald nicht verlassen und..."
„Ich kann ihn verlassen, ich will nur nicht", stellte Leandras richtig.
„Ihr wollt den Wald nicht verlassen und braucht jemanden in Nevras, der Euch helfen kann..."
„Ich brauche Euch nicht", entgegnete der Elfenkönig. „Ich habe ausreichend Elfen in Nevras, die mit uns verbündet sind."
Erst jetzt setzte sich ein Funke Unmut in Tavarens Augen. „Und trotzdem dauert der Krieg seit Jahren an. Seit Jahren macht Ihr keinen einzigen Zug und verschanzt Euch in Eurem Wald."
Leandras presste die Lippen zusammen und hob sein Kinn noch einige Millimeter höher. Wenn der Mensch so weitersprechen würde, dann würde er dieses Treffen nicht überleben. Doch der Elfenkönig wartete stumm und lauschte den Erklärungen, während er schon überlegte, ob er schnell genug wäre, um die wenigen Meter zum Herzog zu überwinden, ihn zu packen und in den Wald zu zerren, ehe Tavaren mit seiner Magie zurückschlagen konnte.
„Und ich verstehe, warum", sagte Tavaren. „Ihr wollt keine Elfen in den Tod schicken. Ihr gebt niemandem einen Auftrag, wenn Ihr nicht genau wisst, dass er lebend zurückkehren wird."
Leandras' Blick wurde noch kälter. Aus der Ferne wollte er Tavaren erfrieren lassen. Denn der Elfenkönig hatte erkannt, dass er den Herzog nicht in den Wald ziehen könnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Und sein eigenes Leben als Preis für das eines Menschen war ihm zu hoch.
„Ihr wollt die Elfen befreien und Rache für Eure Frau. Und ich will Freiheit für die Magier und die Templer zerschlagen. Wir beide könnten viel schneller an unsere Ziele kommen, wenn wir auf einer Seite stehen."
„Was ist mit dem Imperium?", unterbrach Leandras den Herzog.
Tavaren erstarrte. Er wusste, worauf der Elfenkönig hinauswollte.
„Im Imperium leben die Magier schon lange in Freiheit", sagte Leandras. „Und wohin hat es das Land gebracht? Sie haben die Sklaverei wieder eingeführt. Eine Praktik, die zuvor jahrzehntelang verboten war. Doch Menschen versklaven, das konnten sie nicht, nein, nur Elfen müssen unter dem Joch leiden. Wie weit seid Ihr bereit, für dieses Bündnis zu gehen, Lord Kestrel? Werdet Ihr Euer eigenes Volk – diejenigen, denen Ihr geschworen habt, Freiheit zu geben – bekämpfen? Stellt Ihr Euch auf die Seite der Elfen – nicht der Magier und nicht der Menschen – um meinem Volk Frieden zu geben? Und Freiheit? Wollt Ihr die Freiheit der einen einschränken für mich? Für meine Rache und mein Volk?"
Leandras trat einen Schritt aus dem Wald heraus. Der Wind warnte ihn, die Bäume wollten ihn zurückhalten, aber er achtete nicht auf Ermahnungen. Tavarens Friese schnaubte unruhig und der Herzog selbst wich ein Stück zurück.
„Mit mir wollt Ihr ein Bündnis, obwohl Ihr mir nichts geben könnt? Keine Versicherung Euer Treue und kein Grund, weshalb ich Euch vertrauen sollte."
Die Schmetterlinge setzten sich auf Leandras' Gewand und zupften vorsichtig an dem Stoff, aber der Elfenkönig trat weiter auf Tavaren zu.
Beide waren einander gleich gefährlich, beide konnten das Leben des anderen beenden, wenn es zu einem Kampf käme. Doch trotz Leandras' Bedrohungen machte Tavaren keine Anstalten, ihn anzugreifen.
„Lloyd vertraut mir", sagte der Herzog. „Reicht Euch das nicht als Beweis?"
Leandras schnaubte. „Mein Sohn ist ein Hochverräter. Dass er Euch vertraut, spricht gegen Euch, Lord Kestrel." Er stand nur noch eine Armlänge von Tavaren entfernt. Die Asche des Niemandslandes hatte sich auf den Saum seines Gewandes gelegt und färbte den weißen Stoff grau.
Leandras erkannte seinen Fehler zu spät. Er war dem Herzog zu nah gekommen, hatte den Schutz des Waldes verlassen und nun konnte er nicht mehr umkehren. Und Tavaren hatte Leandras' Lüge schon entlarvt. Denn Lloyd war der einzige Grund, weshalb Leandras der Unterredung mit Tavaren in erster Linie zugestimmt hatte.
„Gibt es Hoffnung, dass Lloyd die Aufgaben der Verbannung besteht?", fragte Tavaren. „Wurden diese Gegenstände schon jemals gefunden?"
Leandras presste die Lippen aufeinander und schwieg einige Sekunden, ehe er bitter antwortete: „Ich fand einst eine Rose aus Eis, doch sie wurde von einem Menschen berührt. Ich fand einen Stein aus Feuer, aber die Sonne verneigte sich nicht vor ihm. Und ich fand die Feder eines Engels, doch dieser Engel besaß noch Güte. Also, nein, Lord Kestrel, es gibt keine Hoffnung."
Tavaren nickte stumm. Der Elfenkönig war noch nie so nah an ihn herangetreten und nun fühlte er sich allein durch Leandras' Ausstrahlung eingeschüchtert. Am liebsten wäre er umgekehrt und geflohen, aber er verharrte regungslos und wartete auf die nächsten Worte des Königs.
Gerade als Tavaren erwartete, dass Leandras' Blick ihn aufspießte, wurde das Eis in seinen Augen weicher. Nur ein winziges Stück, aber es reichte aus, dass Tavaren überlebte.
„Ist mein Sohn noch bei Euch?", fragte Leandras. Ein Fünkchen Hoffnung schlich sich in seine Stimme. Hoffnung, die er eigentlich nicht in sich tragen wollte, denn er wusste, dass sein Sohn niemals wieder heimkehren würde.
Und Tavaren hörte es. Seinen Willen, den Mut nicht zu verlieren und weiterzuleben, obwohl das Herz, mehrfach gebrochen, nicht mehr geheilt werden konnte. Denn sooft er die blutigen Scherben zusammengefügt hatte, versucht hatte, zu retten, was er retten konnte, sooft war es wieder zerschmettert und am Boden zerschellt.
So sehr Tavaren sich auch wünschte, Leandras' Frage mit ‚Ja' beantworten zu können, er musste mit dem Kopf schütteln.
„Er ist vor einiger Zeit aufgebrochen", sagte er. „Ich vermute, dass er das Gebirge überqueren wollte..."
„Ich verstehe." Die warme Hoffnung wich der Kälte, denn Leandras wusste, niemand war je aus dem Gebirge zurückgekehrt. Sein Sohn war gestorben.
„Wir haben nichts mehr zu bereden, Lord Kestrel." Der Elfenkönig wandte sich ab, aber ehe er einen Schritt machen konnte, sprach Tavaren.
„Ich stehe Euch zur Seite", sagte er. „Wenn Ihr gegen das Imperium zieht, um die Elfen aus der Sklaverei zu befreien, werde ich als Euer Verbündeter kämpfen."
Leandras drehte sich wieder zu dem Herzog um. Stumm musterte er ihn, suchte eine Regung von Lüge oder List. Doch alles, was er fand, war Ehrlichkeit.
An diesem trüben Tag, in der Aschewüste des Niemandslandes zeigte sich sein Feind als Verbündeter.
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