Raben I
Kematian drückte die Klinke zu dem halbzerfallen Haus herunter und trat ein. Rauch und Qualm hüllte ihn sofort ein. Sein Blick verfinsterte sich. Mit weiten Schritten durchquerte er den Raum, ignorierte dabei das mürrische Brummen der Menschen, die überall in Erdgeschoss verteilt lagen, und riss die Vorhänge von den Fenstern herunter. Sonnenlicht schoss durch das Glas und brachte die Gestalten dazu, aufzukreischen und in die noch verbliebenden Schatten zu flüchten oder sich in die Ecke zu verkriechen.
Kematian riss die Fenster auf und wedelte den Qualm hinaus, ehe er sich abwandte, den Raum wieder durchquerte und diesmal die Treppe hoch in das zweite Geschoss ging. Das brüchige Holz knarzte unter seinem Gewicht und verkündete seine Absicht. Er war sich sicher, dass der Meisterdieb ihn schon bemerkt hatte.
Angekommen auf dem Flur öffnete er auch dort das Fenster und ging dann zu der Tür, hinter der Ejahl stets saß. Ohne anzuklopfen oder auf ein Geräusch im Inneren zu lauschen, betrat er den Raum.
Der Meisterdieb saß auf seiner Couch, den Kopf auf die Lehne gelegt und die Augen geschlossen.
Sein Mund öffnete sich und er brachte geflüsterte Worte heraus. „Kematian, Gnade", hauchte er. „Ich kann mich gerade nicht bewegen."
„Ihr werdet es schon überleben", erwiderte Kematian. Er ging zum Fenster und schob die Vorhänge auf. Licht füllte das sonst so düstere Zimmer. Erst jetzt konnte man sehen, wie dicht der Qualm schon war. Er schwebte im Raum, hatte ihn ganz eingenommen und zu seinem Zuhause gemacht, eine Belagerung errichtet, damit die unglückliche Seele, die er gefangen hielt, nie wieder gehen konnte.
Ejahl gab ein Fauchen von sich. Er sammelte alle Kraft, die er in seinen Beinen noch finden konnte, und stieß sich heftig ab, sodass er über die Lehne rollte und hinter der Couch Deckung fand.
„Macht es weg! Macht es weg!", rief er, kauerte sich zusammen und zog sich seine Kapuze über den Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen.
„Reißt Euch zusammen", knurrte Kematian. „Es ist nur Licht."
„Es ist Licht!", rief Ejahl. „Licht! Da gehört kein ‚nur' vor, also macht es weg."
Der Rabe gab ein belustigtes Schnauben von sich. „Ich bin noch lange nicht fertig, Ejahl. Das ist erst der Anfang."
Unsicher spähte der Meisterdieb unter seine Kapuze hervor. „Was... Was habt Ihr vor?", fragte er erschrocken. Wasser sammelte sich in den Augen, die nach einer Ewigkeit in der Dunkelheit nun das erste Mal dem Licht ausgesetzt waren. Geblendet flackerten sie hin und her, fast blind versuchten sie in dem grellen Weiß zu sehen.
Ejahl zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und schlug die Arme über dem Kopf zusammen, kniff fest die Augen zusammen, furchtsam, womit der Rabe ihn noch peinigen wollte.
Dann zog ein frischer Luftzug an ihm vorbei. „Kematian", rief er, „macht sofort das Fenster zu! Ich hab Jahre dafür gebraucht. Ihr macht meine ganze Arbeit zunichte!"
„Gewöhnt Euch dran", brummte Kematian. Der Qualm wurde aus dem Fenster herausgesogen und gab den Blick auf das Zimmer frei, was lange Zeit von nichts als Finsternis eingenommen war. Staubflusen, die Ratten glichen, wurden von dem Wind in die Ecken geweht. Dort sammelten sie sich zu riesenhaften Ungetümen zusammen.
Der Bezug des Sofas war nicht mehr als ein Flickenteppich aus Stoffteilen, die teils abgeplatzt waren und nur noch an wenigen Nähten hingen. Mehrere dunkle und helle Flecken, von denen Kematian gar nicht wissen wollte, um was es sich handelte, waren auf dem Stoff verteilt.
„Gewöhnt Euch dran?", fragte Ejahl. „Was hat das denn jetzt zu bedeuten?" Er lugte hinter der Lehne der Couch hervor, aber sobald ihn das Licht traf, quietschte er panisch auf und versteckte sich wieder im Schatten.
„Dass ich eine Bitte an Euch habe", sagte Kematian. „Also kommt aus der Ecke hervor, damit ich vernünftig mit Euch reden kann."
„Vernünftig?", fragte Ejahl. „VERNÜNFTIG? Ihr kommt in mein Haus, wollt mich umbringen und jetzt vernünftig mit mir reden? Macht erst das Fenster zu und schließt die Vorhänge."
Kematian brummte nur als Antwort. Er lief noch einige Minuten im Raum umher, wedelte allen Rauch hinaus und fing sich dabei böse Blicke von Ejahl ein, ehe er das Fenster und Vorhänge wieder schloss und Luft und Licht aussperrte.
Erst dann gab Ejahl missmutig seine Deckung auf und kam hinter dem Sofa hervor. Er suchte seine Pfeife auf dem Boden und fand sie in einer Ecke. Bei seinem rettenden Sprung aus dem Licht heraus hatte er sie nämlich aus der Hand verloren.
Er ging zu der Ecke und sammelte sie aus dem Staubmonster, das schon angefangen hatte, sie genüsslich zu verschlingen. Kurz betrachtete er sie. Durch das Holz zogen sich Risse und das silberne Mundstück war abgebrochen.
„Seht Euch das an", sagte er und hielt dem Raben in der einen Hand das Mundstück und in der anderen Hand den Rest der Pfeife entgegen. „Sie ist kaputt!"
Kematian zuckte mit den Schultern. „Dann können wir ja jetzt reden." Er machte eine Handbewegung zur Couch hin.
Ejahl brummte kurz und setzte sich dann auf das Sofa. „Weshalb seid Ihr hier?", fragte er. „Haben die Raben Eure Kette heute mal länger gelassen, damit Ihr Euch ein wenig strecken könnt?"
Kematian schnaubte und blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen. „Ich wurde geschickt, weil wir überraschend viele Aufträge für den Herzog bekommen haben. Größtenteils von Templern."
Ejahls Augen weiteten sich. „Ihr wollt den Herzog umbringen? Schon wieder?"
„Das nicht", antwortete Kematian. „Ich soll ihm nur ein bisschen Angst machen. Eine Feder in dem Bett seiner Tochter hinterlassen. Das Übliche."
„Nun das Übliche bedeutet bei Euch, dass Ihr in sein Zimmer schleichen werdet und mit dem Blut seines besten Freundes ‚Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen' und ‚Wir sehen Euch' an die Wände schreibt."
„Das ist nur einmal passiert."
„Und das eine Mal war einmal zu viel." Ejahl machte eine Bewegung, als wollte er eine Pfeife an seinen Mund führen, aber er stoppte auf halbem Weg, weil er bemerkte, dass er nichts in den Händen hielt. „Aber wenn Ihr eigentlich zu dem Herzog wollt, was macht Ihr dann hier?"
„Ich schleiche mich doch nicht am helllichten Tag auf das Grundstück des Herzogs. Sowas macht man nachts."
„Aber, warum seid Ihr dann hier? Warum geht Ihr mir auf die Nerven und versucht mich umzubringen?", fragte Ejahl.
„Es hätte Euch schon nicht umgebracht", entgegnete Kematian. „Wenn ich die Sonne überlebe, dann schafft Ihr das auch."
Ejahl schnaubte. „Ihr meintet, Ihr hättet eine Bitte an mich." Er führte seine Hand an den Mund und kaute auf seinen Nägeln.
„Ich brauche jemanden, der auf Ava aufpasst", sagte Kematian.
„Ava?" Der Meisterdieb sah verdutzt auf. „Eure Tochter? Und warum kommt Ihr damit zu mir?" Er ließ seine Hand sinken. Sein Blick wurde nun noch fragender. „Ihr wollt, dass ich auf sie aufpasse? Ich? Habt Ihr mich schon mal angesehen? Ich bin ein Wrack. Ihr habt sie doch schon seit Jahren bei den Raben untergebracht, wenn Ihr unterwegs wart. Ist Ava nicht auch das Einzige, weshalb Ihr nicht von den Raben fort könnt? Sie werden nicht begeistert sein, das zu hören."
„Das ist unwichtig", gab Kematian zurück. „Ich sterbe und Ihr wisst, was das für sie bedeutet."
„Aber sie werden mich finden, schließlich kann ich die Stadt nicht verlassen. Dann wird nicht nur sie sterben, sondern auch ich. Das könnt Ihr nicht wollen."
„Sie wird nicht sterben, weil Ihr diese Stadt bald verlassen werdet."
Ejahl hatte sich abwesend im Raum umgesehen, aber nun schoss sein Blick zurück zu dem Raben. „Ich werde was?"
Kematian kramte in seiner Tasche herum und holte das Abzeichen heraus, das er damals von Lloyd gestohlen hatte und mit dem man die Stadtmauern passieren konnte. Er warf es Ejahl zu.
Dem Meisterdieb gelang es nicht rechtzeitig, seine Hände auszustrecken, um es zu fangen, sodass es mit einem Scheppern auf dem Holzboden landete.
„Ihr hättet es mir auch nicht einfach geben können, oder?", murrte er und beugte sich herunter, um das Abzeichen aufzuheben. Fasziniert betrachtete er das funkelnde Silber, wie eine Elster, die soeben ihren wertvollsten Schatz gefunden habt. Halb abwesend murmelte er: „Habt Ihr etwa Angst, mir zu nahe zu kommen?" Diese Worte jedoch rissen ihn von dem Abzeichen los und er sah zu Kematian.
Der Rabe stand immer noch mit verschränkten Armen in der Mitte des Raumes und hatte sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt.
„Warum steht Ihr noch da?", fragte Ejahl. Er rutschte ein Stück zur Seite und deutete auf den freien Platz neben sich. „Ihr müsst hungrig sein."
Kematian schüttelte seinen Kopf. „Ich kann nichts bei mir behalten", sagte er. Doch dann legte sich ein düsterer Ausdruck auf sein Gesicht. „Ich sterbe, Ejahl. Und ich kann es nicht verhindern."
Der Meisterdieb nickte nur und blickte wieder auf das Abzeichen. Seine Chance, diese Stadt nach Jahren zu verlassen. Und der Preis dafür war die Tochter eines Raben zu babysitten, nur für die nächsten...
„Wie alt ist Ava jetzt?", fragte Ejahl.
„Acht", antwortete Kematian knapp.
Ejahl nickte. Nur für die nächsten zehn Jahre. Dann war sie volljährig und er würde versuchen, sie an einen reichen Mann zu verheiraten. Das alles hatte nur einen riesigen Haken. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung machte, nur eine Entscheidung traf, die Ava gefährden würde, dann würde Kematian ihm den Kopf abreißen. Wortwörtlich.
Bei diesem Raben konnte er sich nicht einmal sicher sein, dass er wirklich sterben würde. So ein Vampir hielt schließlich einiges aus.
„Und Ihr wollt wirklich, dass ich auf sie aufpasse", fragte Ejahl. „Ihr müsst kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass das keine gute Entscheidung ist."
Ein leiser Seufzer kam von Kematian. Seine Haltung gab ihre Angriffslust auf und sackte ein Stück zusammen. „Ich brauche jemanden, dem ich vertraue und von dem ich weiß, dass er sich vor den Raben verbergen kann. Ihr seid der Einzige, auf den beides zutrifft."
Ejahl blickte zurück auf das Abzeichen. „Ihr werdet es mir nur geben, wenn ich als Gegenleistung Ava aufnehme, nicht wahr?", fragte er.
Doch zu seiner Überraschung verneinte Kematian. „Ihr könnt es so oder so behalten. Ich benötige es nicht."
Zwischen dem Silber in seiner Hand und dem Raben, der vor ihm stand, blickte Ejahl hin und her. Ihm wurde eine Aufgabe aufgebürdet, die er nicht bewältigen konnte. Ein Auftrag, den er nicht ablehnen konnte, doch das Annehmen bereitete ihm noch größere Schmerzen.
„Wann wollt Ihr sie zu mir bringen?", fragte Ejahl, den Blick weiterhin nicht auf Kematian, sondern auf das Abzeichen gerichtet.
„In einigen Monaten", antwortete Kematian. „So lange werde ich wohl gerade noch überleben. Dann habt Ihr ausreichend Zeit, Euch ein Leben außerhalb von Kastolat aufzubauen und Eure Sucht in den Griff zu bekommen."
Ejahl nickte. Das war der schwierigste an der Sache. Etwas loszulassen, dass ihn fast die Hälfte seines Lebens begleitet hatte.
„Werdet Ihr noch einige Zeit bei mir bleiben?", fragte er und sah zu Kematian. „Nur zwei oder drei Tage. Bis das Schlimmste überstanden ist."
„Ihr seid ein erwachsener Mann", brummte der Rabe. „Schafft Ihr das nicht allein?"
„Nein", sagte Ejahl leise. „Nein, ich brauche Euch."
Kematians Miene verfinsterte sich. Er hatte keine Zeit dafür, aber gleichzeitig wusste er, dass der Meisterdieb vielleicht so stark war, dass er die letzten Jahre in dem Loch überlebt hat, aber er konnte nicht allein den Rand ergreifen und sich rausziehen. Jemand musste ihm die Hand reichen und dieser jemand musste Kematian sein, ob es ihm nun gefiel oder nicht.
„In Ordnung", grummelte er. „Aber nur für drei Tage. Danach bin ich fort und Ihr kommt gefälligst ohne mich zurecht."
Ejahl nickte hastig. „Mehr Zeit werde ich sicherlich nicht brauchen."
Der Rabe stieß ein Schnauben aus. Denn er wusste, dass Ejahl länger als einige Tage brauchen würde. Sogar nach Wochen oder Monaten würde es sich noch nicht gelegt haben. Sein ganzes Leben lang würde es ihn noch beschäftigen und nichts – absolut gar nichts – könnte ihm die Fesseln sprengen und ihn befreien.
„Ich werde mich aber nun auf den Weg machen", meinte Kematian und wandte sich ab.
„Wartet, wolltet Ihr nicht hierbleiben?" Ejahl stand beinahe auf, bis er bemerkte, dass ihn seine Beine vermutlich ohnehin nicht halten konnten und er Kematian nicht aufzuhalten vermochte.
„Ich habe aber immer noch meinen Auftrag", sagte er. „Und da Ihr mich die nächsten Tage beansprucht, werde ich mich nun doch jetzt und nicht in der Nacht in das Kestrel-Anwesen schleichen."
„Aber Ihr werdet doch zurückkommen?", fragte Ejahl. Furchtsam wie ein Kind, ängstlich, dass er Rabe sein Wort nicht halten würde.
Kematian nickte. „In einer höchstens zwei Stunden bin ich zurück. Das verspreche ich Euch."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro