Oderint dum metuant II
„Es ist Zeit, dass Ihr erwacht.
Das Dunkel der Nacht
hat nun ein jähes Ende
seht, dass man Licht zu uns sende."
Die gereimten Worte weckten Lloyd auf. Kaum dass er die Lider aufschlug, blendeten ihn die Strahlen der aufgehenden Sonne. Er rieb sich die Augen. Die Nacht war überraschend ruhig gewesen und er hatte sich auf dem Drachen halten können.
Die Wolken unter Kyrat und Lloyd hatten sich, bis auf einige vereinzelte Schäfchenwolken, gänzlich aufgelöst. In der Tiefe sah der Elf einen riesigen sich schier ewig erstreckenden Wald.
Ihm drehte sich der Magen um. Seine Hände schlossen sich fester um die Hörner des Drachen. Der Boden schien sich zu drehen. Schnell sah Lloyd wieder hoch. Da war sie nun. Die Höhenangst. Er hatte versucht ihr keinen Raum zu bieten, doch nun trieb sie ihm den Schweiß auf die Stirn. Ihm wurde übel. Es schlug auf ihn nieder, wie tief es hinunterging.
Und er saß auf dem Hals eines Drachens. Seine Füße freischwebend. Sein Griff um die Hörner verstärkte sich weiter, aber seine Hände wurden feucht, sodass ihn die Angst packte, er könnte abrutschen. Er zog seine Knie ein Stückchen zusammen, um einen besseren Sitz zu haben.
Kyrat kommentierte dies mit einem Schnauben und begann dann zu sprechen, um sich von dem plötzlichen Druck auf seine Luftröhre abzulenken und gleichzeitig die nächsten Schritte zu erklären.
„Dort, wo sich die Dunkelheit erhebt,
ist etwas, das sich schon lange regt.
Auf dem Berg in den Fernen,
dort, wo die Drachen ihr Gold verbergen,
werden wir den Weg bereiten.
Dort wird Elliot Euch leiten."
In weiter Ferne konnte Lloyd tatsächlich die Konturen eines Berges sehen, der mit seiner schneebedeckten Spitze die Wolken berührte. Dorthin wollte Kyrat ihn also bringen. Aber warum? Was dann?
„Euer Haupt, noch nicht mit einer Krone geziert,
so seid Ihr hier hereinspaziert.
Doch Ihr werdet den Drachen ein König sein,
und dabei halte ich Euch rein,
damit keine Dunkelheit Euch verschlingt
und das Lied in Eurem Herzen weiter erklingt."
Lloyd seufzte. Er war gerade erst aufgewacht. Da wollte er nicht schon mit Kyrats Rätseln konfrontiert werden. Er würde warten müssen, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, um Genaueres herauszufinden.
Mit jedem Flügelschlag kam der Berg näher. Bis etwa zur Hälfte war er mit Tannen übersät, deren Wipfel sanft im Wind wippten. Doch je näher die Spitze war, desto spärlicher sprossen die Bäume aus der Erde. Der Waldboden wurde mit hartem Felsen ersetzt, der ganz oben von Schnee bedeckt war. Aus einiger Entfernung konnte Lloyd bereits Ausbuchtungen im Gestein sehen. Fenster und Balkone, die vermuten ließen, dass jemand in dem Berg lebte.
Kyrat steuerte eine Plattform an, die groß genug war, dass er sogar mit ausgebreiteten Flügeln nicht ansatzweise den Rand berühren konnte. Eine große Holztür, die mit Eisenbeschlägen verstärkt war, versperrte den Eingang zum Berg.
Noch ehe Kyrats krallenbewehrte Klauen den steinernen Boden berührten, öffneten sich beide Flügel der Tür und ein Mann trat heraus.
Aus der Entfernung hätte man vermuten können, es handele sich um einen Menschen, aber der Mann kam mit großen Schritten näher, sodass Lloyd die goldenen Schuppen, die die Haut bedeckten, sehen konnten. Unter dem Mantel aus roten grünen und gelben Schuppen, trug er nur eine dunkle Hose, doch weder Hemd noch Schuhe. Dafür aber eine zusammengefaltete Decke über einem Arm.
Die braunen Locken fielen ihm offen über die Schultern. Ein strahlendes Lächeln umspielte seine Lippen, bei dem er jedoch den Mund geschlossen ließ, um die spitzen Zähne nicht zu entblößen. Die stechend gelben Augen ruhten auf dem Elfen, nur einmal kurz flackerten sie zu Kyrat.
Elliot.
Vor dem Elfen kam er zum Stehen und hielt ihm beide Hände hin, um ihm von Kyrat herunterzuhelfen. Lloyd schwang ein Bein vorn über Kyrats Nacken, ergriff Elliots Hände und ließ sich von ihm herunterheben.
„Es freut mich, dass Ihr endlich den Weg zu uns gefunden habt, mein König", begrüßte Elliot ihn, ohne seine Hände loszulassen.
Lloyd öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber er vergaß die Worte, die sich gerade noch auf seiner Zunge befunden hatten.
Kurz blickte Elliot wieder zu Kyrat. Er drückte Lloyds Hände noch einmal, ehe er sie losließ. Die Decke, die er bei sich hatte, breitete er aus und legte sie Kyrat über die Schultern.
Lloyd hatte gar nicht bemerkt, wann der Drache sich wieder zu einem Jungen verwandelt hatte. Elliot machte eine Handbewegung, auf die hin Kyrat augenblicklich barfuß und nur in die Decke eingehüllt die Plattform verließ. Doch nicht ohne Lloyd noch ein warmes Lächeln zu schenken.
Elliot wandte sich währenddessen wieder an den Elfen. „Ihr habt Euch also entschieden, unser Heim zu betreten." Seine Augen glitzerten vor Freude. „Lange habe ich dieser Entscheidung entgegengeblickt und noch länger habe ich mich auf sie vorbereitet. Alles Weitere sollten wir an einem gemütlicheren Ort besprechen. Lasst mich Euch Euer neues Zuhause zeigen, mein König."
Da war sie wieder. Diese Anrede. Wenn Lloyd sie mit Kyrats gereimten Worten verband... Er schüttelte seinen Kopf. Nein, das war unmöglich.
Mit einer ausladenden Handbewegung lud Elliot ihn dazu ein, ihm in das Innere des Berges zu folgen. Hinter der Flügeltür, die mindestens dreimal so hoch wie der Elf war, befand sich ein kirchenhoher Gang, der von verzierten Säulen gestützt war. Leuchtende Steine, eingefasst in die Wand, spendeten warmes Licht.
Ein dicker roter Teppich verschluckte das Geräusch der Schritte. Pflanzen rankten sich an dem unterirdischen Korridor entlang und umrahmten Steinmeißelungen. Die Bilder in der Wand erzählten Legenden, die Lloyd nicht vertraut waren. Doch eine Gestalt kam in diesen Abbildungen immer wieder vor.
Es war ein Mann mit langen Haaren und spitzen Ohren. Er wurde gekrönt, vertrieb eine düstere Macht und wurde von Drachen umkreist.
Lloyd wollte nicht arrogant erscheinen, deshalb fragte er Elliot nicht, aber er hatte das Gefühl, er sei dieser abgebildete Mann.
Der Erzähler sah von dem Buch auf und meinte: „Ich frage mich, ob der Berg überhaupt noch so aussieht. Oder haben die Drachen, nachdem was damals geschehen ist, alle Erinnerungen an Lloyd ausgelöscht? Jede Eingravierung geschleift und jedes Bild verbrannt?"
Sein Blick wanderte zu dem Raum und fing seinen Schützling ein. „Kyrat, was meinst du?", fragte er. Doch ehe der Junge auch nur seinen Mund öffnen konnte, sprach der Erzähler schon weiter: „Ach ja, du kannst es ja auch nicht wissen. Ich vergaß, dass die Drachen dich auch nicht mehr bei ihnen haben wollen."
Kyrat schürzte beleidigt die Lippen. Einige Augenblicke überlegte er, ob er etwas darauf erwidern sollte, doch er begnügte sich damit, sich den Mantel überzuwerfen und in Richtung Tür zu gehen. Diese Beleidigungen musste er sich nicht weiter anhören. Im Grunde war er schon viel zu lange geblieben.
Aber bevor er die Tür erreichte, hielt der Erzähler ihn auf, indem er sagte: „Bleibe doch noch. Willst du das Ende denn nicht erfahren?"
Kyrat stockte, die Klinke schon in der Hand. Wieder überlegte er, ob er antworten sollte und sagte letztlich:
„Das Ende ist mir wohlbekannt." Er ließ die Klinke los und drehte sich zu dem Erzähler um.
„Es ist eingebrannt in meinen Verstand.
Niemals könnte ich es vergessen,
aber du bist so versessen,
allen Schrecken erneut zu durchleben.
Ich werde mich dem nicht hingeben."
Er drehte sich wieder um, wollte gerade die Tür öffnen, da hielt der Erzähler ihn ein weiteres Mal auf.
„War ja klar, dass du dich dem nicht stellen willst", sagte er. „Obwohl alles deine Schuld ist."
Kyrat schnaubte.
„Meine Schuld, sagst du?
Meine Schuld gibt dir keine Ruh'?
Meine Schuld lässt dich auf diese Art leiden?
Und dich Krieg und Frieden meiden?
Dich die Welt in Schrecken sehen?
Dich nicht länger auf eigenen Füßen stehen?"
Das Gold in den Augen des Erzählers gefror. Er presste die Lippen aufeinander. Seine Miene wechselte zwischen Abscheu und Hass. Dann ergriff er wieder das Wort, diesmal ohne die unnötige Theatralik, ohne den Hohn, doch mit Härte und Bitterkeit. „Setz dich, Kyrat", sagte er. „Du bleibst, bis ich fertig bin."
Der Junge schnaubte erneut, aber er wandte sich von der Tür ab, legte seinen Mantel ab und setzte sich wieder.
„Sehr schön", sagte der Erzähler. „Dann kann ich jetzt fortfahren." Er suchte kurz den richtigen Absatz auf der Seite und sprach dann weiter:
Dumpf prallten die Schritte von den Wänden ab. „Lasst mich Euch den Grund erzählen, weshalb Ihr nun hier seid", durchbrach Elliot die Stille.
Lloyd nickte als Zeichen, dass er dem Drachen lauschen würde.
„Der Wald, über den Ihr mit Kyrat geflogen seid, in ihm leben viele Kreaturen, mit denen wir vor vielen, vielen Jahrtausenden Frieden geschlossen haben. Früher oder später werdet Ihr diese Wesen sicherlich mit Euren eigenen Augen sehen können. Aber diese friedvolle Ruhe wird gestört. Von einem Volk, das dem Euren ähnlich ist, doch von Euch nicht verschiedener sein könnte. Denn es wurde verdorben von..."
Elliots Blick fuhr kurz an Lloyd entlang, als wäre er sich nicht sicher, ob er die nächsten Worte aussprechen sollte. Doch er fasste sich ein Herz und sagte: „Von unserem Drachengold. Es geschah vor etwa tausend schneereichen Wintern. Eures Vaters Landsleute durchquerten das Gebirge und kamen in unser Reich. Sie waren geschwächt von der langen Reise und hatten viele Verluste erlitten. Niemand von ihnen hatte je zuvor einen Drachen gesehen, also waren sie misstrauisch. Aber wir boten ihnen Zuflucht in unseren Reihen und in unserem Heim an.
Einige Jahre lang lebten wir in Frieden miteinander und ihr Blut mischte sich mit dem unseren. Doch Habgier brachte Verderbnis in ihre Gedanken und wir bemerkten es zu spät. Erst als unser letzter König durch sie starb, jagten wir sie fort. Noch immer ist ihr Wesen niederträchtig und verrucht. Dunkelelfen, so nennen wir sie. Der Krieg mit ihnen dauert nun schon mehrere Jahrhunderte an und reißt unser Reich ins Chaos. Aber dank Euch gibt es nun Hoffnung auf Frieden."
Ehe Lloyd fragen konnte, wie er einen Krieg beenden sollte, sprach Elliot weiter. Seine Stimmung hob sich weiter. Euphorisch und mit ausgebreiteten Armen machte er eine halbe Drehung um Lloyd herum, sodass ihn nun nicht mehr an seiner rechten sondern an der linken Seite begleitete. „Schon seit je her war unser König ein Halbblut. Unser letzter Herrscher brachte uns Jahrtausende des Friedens, doch seit seinem Tod sind wir ohne Führung."
Lloyd schluckte. Hieß das...? Hieß es das?
„Mit Euch wird das Reich endlich befreit werden. Schon vor hunderten von Jahren kündigte ein Prophet Euer Erscheinen an. Ihr seid geboren, um nun an dieser Stelle zu stehen und als unser neuer König zu herrschen."
Lloyd stockte. Seine Füße waren fest in dem dicken Teppich verankert und wollten keinen Schritt mehr gehen.
Elliot blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihm um. Seine Freude wurde nun von einem Hauch Sorge unterbrochen, aber das Lächeln verschwand ihm trotzdem nicht aus dem Gesicht.
„Was?", fragte Lloyd leise. Er musste sich verhört haben. Es gab keine andere Möglichkeit.
„Ihr werdet gekrönt, mein König. Ihr werdet unser neuer Herrscher. Eine Prophezeiung verkündete, dass Ihr uns Frieden bringen werdet", fasste Elliot noch einmal kurz die letzten Sätze zusammen.
Lloyd hatte sich nicht verhört. „Aber..." sagte er, doch er wusste nicht, wie er es in Worte fassen wollten, als schloss er seinen Mund wieder.
„Aber?", hakte Elliot nach. Die Sorge gewann langsam Überhand, doch der Drache versuchte, sich an seiner Freude über Lloyds Erscheinen festzuklammern. „Lasst mich an Euren Gedanken teilhaben, mein König. Dafür stehe ich Euch zur Seite."
Lloyd rang weiter mit sich, doch er musste es Elliot sagen. Und daher holte er tief Luft und sagte: „Ich bin doch gar nicht hier, um ein König zu sein. Ich will doch gar kein König sein."
Mit diesen Sätzen verschwand das Lächeln in Elliots Gesicht. Er sah aus, wäre gerade sein gesamtes Weltbild und der einzige Grund für seine Existenz in Flammen aufgegangen.
„Aber..." begann Elliot. „Die Prophezeiung. Die Krone. Das..."
Schuldgefühle machten sich in Lloyd breit und nagten an ihm. Er hatte fast sehen können, wie Elliots Welt zu seinen Füßen zersplittert war und nun in kleinen Scherben auf dem Boden verteilt lag.
„Elliot, verzeiht", sagte er, aber der Drache winkte nur ab. Er seufzte leise und rang sich ein betrübtes Lächeln ab.
„Ich habe Euch wohl schon wieder ein wenig überfallen", sagte er. „Natürlich lehnt Ihr dann ab. Ihr wisst nichts über uns und ich versuche Euch die Herrschaft zu übertragen. Ich hätte Euch mehr Zeit geben sollen. Schließlich seid Ihr gerade erst hier angekommen und ich überrumple Euch so. Ihr müsst müde und erschöpft von der langen Reise sein. Habt Ihr vielleicht auch Hunger?"
Lloyd schüttelte nur den Kopf. Er hätte Elliot gerne bei seiner Selbstgeißelung unterbrochen, aber die Stimme blieb ihm in der Kehle hängen. Denn was sollte er schon sagen, um den Drachen zu trösten? Die Krone konnte er nicht annehmen. Dann wäre er hier gebunden und könnte sich nicht auf die Suche nach der Rose machen.
Elliot seufzte. „Ich kann Euch nicht hier halten, wenn Ihr nicht wollte", sagte er. „Aber gebt mir vielleicht die Möglichkeit alles in Ruhe zu erklären und Euch zu überzeugen, die Krone anzunehmen."
Lloyd nickte. Er wusste zwar, dass ihn nicht dazu bringen könnte, hier zu bleiben, aber die Schuldgefühle, soeben Elliots Welt unter dem Stiefel zermahlen zu haben, zwangen ihn, sich die Erklärungen anzuhören.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro