O, wie der Falschheit Außenseite glänzt II
Er landete leichtfüßig, als wäre er nur wenige Zentimeter und nicht einige Meter in die Tiefe gesprungen. Der Korridor, in dem er nun stand, war von Spinnennetzen bedeckt. Die feinen Fäden schimmerten im Schein der Flamme, die neben Tavaren tanzte und Schatten an die Wände warf.
Trockener Staub kitzelte in Lloyds Nase, sodass er fast niesen musste. Aber nur fast–
„tschi!"
Ungläubig sah Tavaren zu dem Elfen. „Habt Ihr gerade ...?"
Hastig schüttelte Lloyd mit dem Kopf.
„Das war das Süßeste, was ich jemals gehört habe." Der Wächter ließ sich in seiner Verzückung nicht bremsen. „Ich habe noch nie einen Elfen niesen hören."
„Meine Mutter war ein Mensch", brummte Lloyd. „Wir sollten weitergehen." Er beschloss, diese Sache einfach totzuschweigen und ihr keine Beachtung zu schenken.
Das dunkle Gewölbe erstreckte sich endlos weiter unter der Erde. Die Gänge, in denen sie entlanggingen, fanden kein Ende. Lloyd befürchtete, dass sie gar nicht mehr in der Nähe der Elfenruine waren. Je weiter sie gingen, desto törichter schien ihm seine Entscheidung, Tavaren hinterherzuspringen.
„Wie geht es Eurem Kopf?", riss der Wächter ihn aus seinen Gedanken.
„Ganz in Ordnung", antwortete er. Die Wunde, die Tavarens Schlag am vorherigen Tag verursacht hatte, war weder groß noch tief.
„Das ist gut ... Ich hatte nicht beabsichtigt, so fest zuzuschlagen ...", sagte Tavaren.
Nach einigen Sekunden Stille fragte Lloyd auch: „Und wie ist es bei Euch?" Er hatte auch ziemlich fest zugeschlagen.
„Ach, um mich braucht Ihr Euch keine Sorgen machen", antwortete Tavaren. „Es tut kaum mehr weh."
„Schade."
Die trockene Antwort brachte Tavaren zum Lächeln. „Seid Ihr immer so charmant oder bin ich jemand Besonderes?"
Lloyd gab vor, die Bemerkung nicht gehört zu haben, und ging wortlos weiter. Jetzt war er sich sicher. Es war ein Fehler gewesen Tavaren hinterherzuspringen. Er hätte einfach dabei zusehen sollen, wie die Falltür den Menschen verschlingt.
Der Gang mündete in eine Höhle. So hoch, dass Lloyd die Decke nicht einmal erreichen könnte, hätte er sich auf Tavarens Schultern gestellt – was ihm natürlich niemals eingefallen wäre. Das magische Feuer reichte nicht aus, um die Höhle gänzlich auszuleuchten. Tavaren schleuderte es in die Mitte. Dort spalteten sich weitere Flammen ab und tanzten durch die Höhle.
Bei dem, was Lloyd dort sah, lief es ihm kalt den Rücken hinab. Er hatte schon immer Schwierigkeiten mit Spinnen gehabt. Es war nicht so, dass er schreiend aufsprang, falls sich eine näherte, aber er ging ihnen möglichst aus dem Weg.
So war es nicht verwunderlich, dass er sich innerlich schüttelte – man möchte fast sagen, dass er einen innerlichen Schreikrampf bekam – als er mindestens fünfzig dieser Tiere in der Höhle sah. Alle gingen sie ihm mindestens bis zur Hüfte. Viele waren schwarz, einige aber auch gestreift. Auf ihren langen Beinen krabbelten sie hin und her und beobachteten ihn aus ihren unzähligen Augen.
Tavaren ließ sich nicht von den Spinnen ablenken. Sein Blick fiel zuerst auf die sechs Kinder, die in der Mitte der Höhle saßen. Umkreist wurden sie von diesen Ungeheuern – um es mit Lloyds Worten auszudrücken.
Tavaren trat einen Schritt in die Höhle und rief: „Knut!"
Erst dachte Lloyd, dass er eines der Kinder meinte, aber ... ihm schien es, als würden sich die Augen einer Spinne auf den Wächter richten. Mit ihren acht Beinen krabbelte sie auf Tavaren zu und blieb vor ihm stehen. Fröhlich drehte sie sich um die eigene Achse und gab gurrende Geräusche von sich.
Lloyd wich instinktiv einen Schritt zurück. Er wollte auf keinen Fall, dass Knut ihn als Mittagessen ansah, aber Tavaren hatte keinerlei Bedenken so nah an einem dieser Monster zu sein. Er strich dem Tier sogar über den Kopf. Lloyd rannte innerlich wieder panisch im Kreis, aber sein Stolz verbot es ihm, umzukehren und so schnell er konnte zu fliehen.
„Knut", mahnte Tavaren die Spinne. „Wir hatten das Thema doch schon. Ich weiß, euch ist langweilig, aber das ist kein Grund, Kinder zu entführen. Sie verhungern, wenn ihr sie so lange in Trance lasst. Dann müsstet ihr euch einen neuen Ort suchen."
Die Spinne klackerte schuldbewusst mit ihren Kneifern.
„Sag Arni und Peter, dass sie dir helfen sollen, die Kinder wieder rauszubringen. Sie waren schon immer diskreter als du."
Das Klickern wurde nun gespielt verärgert. Die Spinne rieb ihren haarigen Körper noch einmal wie eine Katze an Tavarens Beinen, ehe sie zurück zu den anderen krabbelte.
Der Wächter drehte sich zu Lloyd. „Ihr seid ja so blass", scherzte er. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er an dem Elfen – der noch in leichter Schockstarre war – vorbei und deutete ihm mit einer Handbewegung an, ihn zu begleiten. Nichts täte Lloyd gerade lieber. Er wollte nur weg von diesen Spinnen.
„Ich könnte Euch jetzt eine Geschichte erzählen", begann Tavaren. „Aber Ihr seid ganz niedlich, wenn Ihr mich gerade nicht hasst."
„Niedlich?" Lloyd hoffte, sich verhört zu haben.
„Bevorzugt Ihr drollig? Oder ... herzallerliebst? Putzig, vielleicht?"
„Ich will die Geschichte gar nicht hören", brummte Lloyd und versuchte zu ignorieren, dass er diese Neckereien vielleicht nicht charmant, aber zumindest erheiternd fand.
Tavaren zuckte mit den Schultern. „Ich kann Euch zu nichts zwingen."
Sie gingen den gesamten Weg zurück, bis eine Mauer vor ihnen emporragte. Aus einem Loch in der Decke fiel Licht auf die beiden.
Daran hatte Lloyd nicht gedacht, als er seinem Feind gefolgt war. Das Herunterspringen war einfach gewesen, doch nun mussten sie wieder zurückgelangen.
Tavaren hingegen ließ sich davon nicht beirren. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, ging leicht in die Knie und verschränkte die Finger ineinander.
„Ich helfe Euch hoch", sagte er.
Lloyd seufzte. Eine andere Wahl hatte er wohl nicht. Er stellte seinen Fuß in Tavarens Hände und kletterte auf seine Schultern. Dabei ließ er sich nicht in Versuchung bringen, dem Wächter seinen Stiefel in das Gesicht zu rammen. Er bekam den Rand der Falltür zu fassen und zog sich hoch.
Draußen legte er sich bäuchlings in das Gras und reichte Tavaren seine Hand, um ihn aus dem Gemäuer zu ziehen.
Als dieser wieder an der Oberfläche war und auf seinen Füßen stand, sagte er: „Wir machen Fortschritte. Ihr habt nicht einmal überlegt, ob Ihr mich dort unten lasst."
Lloyd warf einen Blick an Tavaren vorbei, zurück in das Gemäuer. Noch war es nicht zu spät. Er könnte ihn einfach wieder hineinstoßen.
Leise lachte Tavaren und trat von der Öffnung weg. „Wir sollten zurückgehen."
Nach nur zwei Schritten aber stockte er und drehte sich wieder zu dem Elfen. „Wie seid Ihr überhaupt aus der Stadt gelangt?"
„Ich habe meine Wege", sagte Lloyd schlicht. Er wollte nicht riskieren, Tavaren von den Katakomben zu erzählen. Er würde dann womöglich jeden Eingang, der noch offen war, zuschütten lassen.
„Auf diesen Wegen kommt Ihr bestimmt auch wieder zurück in die Stadt. Da werdet Ihr meine Hilfe nicht brauchen, um durch das Tor zu kommen."
Lloyds Brauen schoben sich zusammen. „Doch", antwortete er missmutig.
Tavarens Mundwinkel zuckten. „Na dann, kommt mit."
An den Stadttoren beäugten die Wachen den Elfen skeptisch, aber mit Tavaren an seiner Seite wagten sie es nicht etwas gegen ihn zu sagen, oder ihn gar aufzuhalten, das Tor zu passieren.
Lloyd wurde nicht ganz schlau aus dem Wächter. Dies war nun schon die zweite Gelegenheit, um ihm Steine in den Weg zu legen. Aber Tavaren hatte sie einfach verstreichen lassen.
„Weshalb helft Ihr mir?" Die Worte waren einfach aus ihm herausgeplatzt. Er hatte kaum einen Gedanken an die Folgen verschwendet, doch nun bemerkte er, dass der Wächter genau dies als Erinnerung sehen konnte.
„Weil ...", setzte Tavaren an, doch sein Blick fing etwas hinter Lloyd. In seinem Augenwinkel huschte ein Schatten entlang, aber als sich der Elf in die Richtung drehte, war dort nichts.
„Entschuldigt mich", sagte Tavaren. Er schien plötzlich ein wenig aufgelöst. „Wir sehen uns sicherlich noch einmal wieder, aber nun muss ich fort. Auf Wiedersehen." Und mit diesen Worten war er verschwunden.
Lloyd machte sich auf den Weg zurück in das Gasthaus. Um seine Spuren zu verwischen und den Menschenmengen zu entkommen, ging er durch die Gassen und bewegte sich in einem großen Bogen auf das Gasthaus zu, anstatt auf direktem Wege dorthin zu gehen.
Nun musste er einen neuen Plan fassen. Einen anderen Eingang in die Katakomben finden. Er durfte nicht versagen. Alle verließen sich auf ihn, aber ihm rann die Zeit aus den Händen.
Als Tavaren die Tür öffnete, schlug ihm wieder die rauchige Luft entgegen. Im Inneren war es pechschwarz, aber ihm war es noch möglich Umrisse zu erkennen. Die Treppe, mit dem Schatten, der auf den Stufen saß. Ein wenig weiter im Raum waren Laken, auf denen zwei Menschen lagen und sich leise murmelnd unterhielten.
Tavaren schenkte ihnen keine Beachtung und ging stattdessen wieder die Treppe hoch und zu Ejahl.
Der Meisterdieb saß, wie immer, auf seiner Couch. Die Pfeife in seiner Hand, den Kopf in den Nacken gelegt.
Als er die Tür hörte, sah er auf. „Tavaren", begrüßte er den Wächter. „Welch eine Freude Euch wiederzusehen." Sarkasmus tropfte von seiner Stimme und bildete eine Pfütze zu seinen Füßen.
„Was wollt Ihr diesmal?" Tavaren verschränkte die Arme vor der Brust. Er war es leid, den Meisterdieb zu sehen.
„Mir kam zu Ohren, dass Ihr Euch mit dem Elfen versteht, obwohl Ihr ihn eigentlich gefangen nehmen, wenn nicht gar hinrichten solltet. Ich habe mich gefragt, warum sich Euer Gemüt so plötzlich verändert hat. Gestern habt ihr ihn schließlich noch durch die Stadt gejagt."
Tavarens Kiefer mahlte. „Warum sollte ich Euch das sagen?"
Ejahl nahm einen Zug aus seiner Pfeife. Den Rauch behielt er eine Weile im Mund und stieß ihn dann durch seine Nase wieder aus. Erst dann sagte er: „Mit Informationen kann ich mir in dieser Stadt sehr viel mehr kaufen als mit Gold. Und da Ihr mir verwehrt, diese götterlose Stadt zu verlassen, muss ich sehen, wie ich hier zurechtkomme."
„Lasst uns einen Tausch eingehen", schlug der Wächter vor. „Ihr sagt mir, wo Lloyd in Kastolat unterkommt und ich erzähle Euch dafür, weswegen ich kein Problem mit seiner Anwesenheit habe."
„Oh, Tavaren." Ejahl lächelte. Man konnte es fast als Wolfslächeln bezeichnen, doch die gelben Zähne ließen es eher wieselig erscheinen. „Werdet Ihr etwa zu einem Geschäftsmann?" Er machte eine kurze Pause, um wieder einen Zug aus seiner Pfeife zu nehmen.
Tavaren antwortete ihm nicht und wartete stattdessen, bis der Dieb weitersprach.
„Eigentlich wollte ich nur eine Theorie bestätigt wissen", fuhr Ejahl fort. „Als Ihr damals Euren Vater umbrachtet ... Ihr verstecktet es hinter dem großen Wort der Gutherzigkeit. Euer Vater wollte Unschuldige hinrichten, nur weil es Elfen waren. Doch mit seinem Mord wolltet Ihr etwas ganz anderes erreichen, nicht wahr?"
Der Wächter schluckte. Er wusste, wohin das führte.
Ejahl entging das Hüpfen von Tavarens Adamsapfels nicht. Ein Licht, das ihm den Weg wies. „Die Thronfolge in Kastolat war schon immer ein wenig außergewöhnlich. Der Wächter, als rechte Hand des Herzogs, darf dessen Nachfolger werden, falls das Herzogsgeschlecht ausgelöscht wird. Und das ist Euer Ziel, nicht wahr? Euren Vater habt Ihr eigenhändig aus dem Weg geräumt. Und nun hofft Ihr, dass der Elf die nächsten Morde vollbringt, damit Eure Hände nicht mit dem Blut der Herzogsfamilie befleckt ist."
Tavaren biss die Zähne zusammen. Er hatte den Meisterdieb noch nie gemocht.
Ein siegessicheres Lächeln breitete sich auf Ejahls Gesicht aus. „Dann habe ich Recht?" Ein kratziges Lachen stieg aus seiner Kehle auf. „Ich hielt es nur für eine Theorie. Denn Ihr seid doch so ein rechtschaffener Mann, oh Wächter. Dass sich solch finstere Gedanken in Eurem Kopf aufhalten, wer wäre ich, dies für möglich zu halten."
„Und was, wenn es so ist?", fragte Tavaren. „Mein Ruf ist schon geschädigt. Welchen Grund hätte ich, es nicht selbst zu Ende zu bringen? Die Fertigkeiten habe ich."
Der Meisterdieb nahm wieder einen Zug aus seiner Pfeife. Seine Lippen verharrten einen Moment zu lange an dem Mundstück. Er schindete Zeit, in der er sich eine Theorie zurechtlegte.
„Das ist dann wohl der Funke Gutherzigkeit, der noch in Euch ist", sagte Ejahl schließlich. „Habe ich ‚Gutherzigkeit' gesagt? ‚Heuchlerei', trifft es wohl eher. Ihr wollt Euch nicht als den Mörder sehen. Aber wenn Euer Feind das vollbringt, wovor Ihr Euch scheut, dann würde kein Blut an Euren Händen kleben. Weil Ihr ein Feigling seid, suhlt Ihr Euch in Unschuld!" Beim letzten Satz hatte er sich leicht nach vorne gebeugt und seine Stimme erhoben, sodass das Kratzen noch deutlicher zu hören war. Doch nun röchelte er und ließ sich wieder zurückfallen.
Der Wächter machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum und dann das Haus. Ejahl rief ihm nicht nach, versuchte nicht ihn aufzuhalten. Tavarens Reaktion sagte ihm mehr, als es Worte je getan hätten.
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