In rabenschwarzer Nacht II
Im nächsten Augenblick hörte Lloyd, weshalb sich der Rabe so plötzlich davongemacht hatte. Schwere Schritte kamen die Treppe hoch und kurz darauf hämmerte jemand gegen die Tür.
„Macht auf!", ertönte eine wohlbekannte Stimme. „Sofort!"
Lloyd wusste nicht, wohin er sollte und dass der Wächter ihn so sah, das wollte er auch nicht. Kurzerhand sprang er auf und zwängte sich unter das Bett. Keine Sekunde später, flog die Tür mit einem lauten Knall auf.
Von seinem Blickwinkel aus, sah Lloyd nur Tavarens Stiefel. Für einen Moment blieb er im Türrahmen stehen, dann rannte er zu dem offenen Fenster.
„Mist!", fluchte er.
Weitere Schritte kamen die Treppe hochgehechtet. Ein weiteres Paar Stiefel kam in Lloyds Sichtfeld. „Ihr könnt vielleicht rennen." Das war Camille. Sie schnaufte schwer und ging ein Stückchen in das Zimmer hinein.
„Hier siehts aus, als hätten wir jemanden beim Vögeln unterbrochen." Sie hob einen von Lloyds Stiefeln hoch. „Gehört ihm die Kleidung?", fragte sie und ließ den Stiefel wieder fallen.
„Nein", sagte Tavaren. „Ich habe ihn noch im Wald verschwinden sehen und er sah ziemlich angezogen aus."
„Mhm." Camille drehte sich einmal um die eigene Achse. „Sieht aus als hätte er sich einen Mann mit aufs Zimmer genommen", sagte sie.
„Ich schätze, als Vampir ist es ihm egal, ob er nun eine Frau oder einen Mann beißt", antwortete Tavaren.
Vampir?, dachte Lloyd. Das erklärte natürlich Einiges. Er tastete nach der Stelle an seinem Hals, an der er gebissen wurde.
„Er ist fort, aber sein Opfer könnte immer noch hier sein", sagte Tavaren. „Uns ist niemand entgegengekommen. Und ohne Kleidung in den Schnee zu gehen, das wäre Selbstmord."
Lloyd verzog sein Gesicht. Hatte Tavaren ihn gerade ‚das Opfer' genannt?
Die Stiefel des Wächters bewegten sich auf das Bett zu. Lloyd fluchte innerlich. Natürlich sah man als erstes unter dem Bett nach. Das war überhaupt das einzige Versteck im ganzen Raum.
Noch jemand eilte die Treppe hoch und rannte in das Zimmer.
„Wir haben ihn." Das war Sal – der Hüne in Tavarens Gefolgschaft. „Eva hat ihn angeschossen und dann ist er in unsere Falle getappt, aber er ist stärker, als wir gedacht hätten. Wir brauchen Eure Hilfe."
Der Raum leerte sich. Die drei polterten die Treppe hinunter und verließen das Gasthaus. Lloyd wartete noch einige Augenblicke, bis er sich sicher war, dass die Menschen nicht zurückkehrten. Erst dann kroch er unter dem Bett hervor.
Seine Knie waren noch immer wackelig, als er zur Tür ging. Tavaren hatte sie aufgebrochen und dabei das Schloss beschädigt, sodass sie immer wieder ins Zimmer schwang, wenn Lloyd versuchte, sie zu schließen. Er schnappte sich einen seiner Stiefel und legte ihn vor die Tür, damit sie geschlossen blieb.
Dann ging er zum Fenster, um den eisigen Wind auszusperren. Unglücklich jaulte er vor dem Glas, aber Lloyd erbarmte sich nicht, ihn wieder einzulassen.
Gerade als er sich umdrehte, um seine Kleidung zusammenzuklauben und anzuziehen, versagten seine Beine ihren Dienst und er sank zu Boden. Die Wand bot ihm Halt. Er zog die Knie an und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Seine Wangen brannten. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und versuchte die wenigen Knoten zu lösen. Er kämmte die Strähnen, indem er sie durch seine Finger rinnen ließ.
Wie lange er dort saß, wusste er nicht. Erst als er seine Haare wieder vollkommen entwirrt hatte, holte er tief Luft und stand auf. Sein Blick schweifte durch den Raum. Er würde nicht mit Camilles Worten wiederholen, wie es dort aussah, aber sie hatte es treffend gesagt.
Mit einem Seufzen gürtete er sich seine Waffen wieder um. Er hob seinen Umhang auf und schüttelte den Staub ab, ehe er ihn überwarf. Zum Schluss sammelte er seine Stiefel ein. Der Pelz, mit dem sie gefüttert waren, war noch durchnässt.
Trotzdem zog er sie an. Er musste sich ablenken und in diesem Zimmer würde ihm das nicht gelingen.
Noch einen letzten Blick warf er in den Raum. Er hatte nichts vergessen, dass ihn entlarven könnte, sollten die Menschen noch einmal herkommen. Später würde er zurückkehren, aber zuerst musste er seinen Kopf frei bekommen.
Er trat aus dem Zimmer und stieg die Treppe hinab.
„Ihr könnt mir doch sagen, wer es war", hörte er jemanden säuseln. Camille. Lloyd war drauf und dran umzukehren, da schoss ihr Blick in seine Richtung. Es war unmöglich, dass sie ihn nicht erkannt hatte.
Sie saß auf dem Tresen. Überraschend gefasst wandte sie sich zu dem Wirt und fragte: „Er?"
Stumm nickte der Wirt.
Sie sah wieder zu Lloyd. Ihre Mundwinkel zuckten, aber noch bemühte sie sich ein Lachen zurückzuhalten. „Ihr?"
Lloyd rollte mit den Augen und stapfte die letzten Stufen hinunter. „Was soll mit mir sein?" Er blieb mit verschränkten Armen vor ihr stehen.
Camille sah nun zurück zu dem Wirt. „Seid Ihr Euch sicher, dass er es war?"
Der Wirt zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab.
Lloyd schnaubte. „Ja, ich war es", gab er zu.
Jetzt konnte Camille ihr Lachen nicht länger zurückhalten. Sie schlug sich auf den Oberschenkel und prustete los. „Ich habe jeden erwartet. Jeden nur Euch nicht."
„A-ha", machte Lloyd. „Wenn Ihr mich nun entschuldigt." Er wandte sich von ihr ab und verließ das Gasthaus. Draußen war es mittlerweile dunkel und noch kälter geworden.
Camille sprang auf und hüpfte an seine Seite. „Ihr habt Euch von einem Vampir verführen lassen?" Sie kicherte. „Wobei wir das ‚Verführen' hier wohl in Anführungsstriche setzen müssen. Das Zimmer hat Bände gesprochen. Nachdem Ihr Euch so gesträubt habt, ins Bordell zu gehen, hätte ich das echt nicht erwartet. Habt Ihr Euch wirklich unter dem Bett versteckt?"
„Ja." Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Er beschleunigte seine Schritte in der Hoffnung, Camille loszuwerden, aber die Frau blieb hartnäckig an seiner Seite.
„Und hat er Euch gebissen?", fragte sie.
„Nein."
„Nein?"
„Nicht wirklich", sagte Lloyd.
„Darf ich mir trotzdem Euren Hals ansehen?"
Wortlos blieb er stehen, griff nach dem Kragen seines Umhangs und zog ihn zur Seite, damit Camille selbst beurteilen konnte, ob das ein Biss war oder nicht.
„Das verdient es wirklich nicht, Biss genannt zu werden", sagte sie. „Das allerdings", sie deutete auf eine Rötung an seinem Hals, „wird ein bemerkenswerter Knutschfleck."
Lloyd brummte und rückte seinen Kragen wieder zurecht, ehe er weiter durch den Schnee stapfte.
Camille hüpfte ihm hinterher. „Wo wollt Ihr eigentlich hin?"
„Ich brauche nur frische Luft", antwortete Lloyd.
„Ah, stimmt", sagte Camille. „Ihr wart mittendrin. Er hat es nicht zu Ende gebracht und Ihr wollt nicht selb—"
„Camille!", unterbrach er sie.
Beruhigend hob sie die Hände. „Schon okay. Ihr seid ja heute wieder pampig." In ihrer Stimme hörte Lloyd, dass sie noch etwas ergänzen wollte, aber einmal bewies sie Taktgefühl und schwieg.
Einige Minuten gingen sie wortlos nebeneinanderher. Nur noch wenige Schneeflocken tanzten in der Luft. Die Zwillingsmonde waren aufgestiegen und tauchten die weiße Welt in silbernes Licht.
„Erzählt es bitte nicht Tavaren...", bat Lloyd nach einigen Augenblicken.
Camille sah zu ihm. Ihr fragender Blick bohrte sich in ihn.
„Ich möchte nicht, dass er es erfährt", erklärte er. „Er soll nicht denken, dass ich..." Er brach ab. Wie sollte er es nennen? Dass Tavaren dachte, er wäre immer so. Oder dass all die Gerüchte über ihn wahr wären... Oder...
„Ich verstehe schon", kam von Camille. „Ich werde nichts sagen."
„Danke..."
„Falls Tavaren den Vampir aber zu fassen bekommt", sagte sie. „Dann wird der vermutlich reden."
„Ich weiß", antwortete er. „Vielleicht habe ich Glück und Tavaren glaubt ihm nicht." Er seufzte. „Weshalb versucht Tavaren ihn zu fassen zu bekommen?"
„Er hat ein wenig Chaos in Kastolat angerichtet. Kiran und Mina sind währenddessen auch verschwunden. Ihr habt die beiden kennengelernt, falls Ihr Euch erinnert."
Lloyd nickte. Die Bediensteten, die er in Camilles Etablissement kennenlernen durfte, hatte er noch nicht vergessen. „Habt Ihr eine Spur, wo sie sein könnten?"
„Nein", sagte Camille. „Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir den Vampir zu fassen bekommen. Nur er weiß von ihrem Aufenthaltsort... falls sie überhaupt noch am Leben sind."
Nun wusste Lloyd nicht, ob er hoffen sollte, dass der Rabe entkam, oder dass Tavaren ihn zu fassen bekam. Er entschied sich, dass Letzteres besser für ihn wäre. Schließlich kannte Lloyd sein Gesicht und er hatte auch gesagt, dass er sich die Bezahlung noch holen werde. Ein Schauer kroch ihm über den Rücken, als er daran dachte.
Eine Weile spazierten die beiden noch durch den Schnee, aber irgendwann waren Lloyds Füße in den nassen Stiefeln wieder so kalt, dass seine Zehnen schon taub wurden. Er verabschiedete sich von Camille und machte sich auf den Weg zurück zum Gasthaus.
Als Camille schon verschwunden, aber die Taverne noch ein kleiner Lichtpunkt in der Ferne war, da hörte Lloyd ein leises Zischen. Fast wie das einer Schlange, doch kälter und härter. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er dem Geräusch nachgehen sollte, aber er wandte sich kopfschüttelnd ab und setzte seinen Weg fort. Die Monde standen hoch und erleuchteten die Nacht.
Keine zwei Schritte war er gegangen, da ertönte das Zischen erneut. Noch lauter hallte es in seinem Kopf wider. Es wirkte vertraut, rief nach ihm, sang eine leise Melodie, die nur für ihn bestimmt war.
Er blickte in die Richtung, aus der es kam. Lange würde es bestimmt nicht dauern, nachzuschauen. Und so ging er zwischen den Bäumen in den schneebehangenen Wald.
Schon nach wenigen Augenblicken sah er es. Ein Schatten stieß das Zischen aus. Er wand sich auf dem weißen Schnee wie eine verletzte Schlange, als könnte er die Helligkeit nicht ertragen. Als er Lloyd bemerkte, hielt er für einen Moment inne, ehe er auf den Elfen zu schlängelte.
Lloyd hatte eine solche Schatten-Schlange noch nie gesehen. Er wich einige Schritte zurück, doch sein Fuß stieß gegen eine Wurzel und er stolperte.
Rasend schnell kam die Schlange auf ihn zu. Sie stürzte sich auf ihn. Gerade rechtzeitig schloss Lloyd fest die Augen und riss die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen. In seinen Fingerspitzen kribbelte es, aber da war kein Schmerz.
Er öffnete seine Augen. Die Schlange war fort. Verwirrt sah er sich um und als er nicht einmal Mulden, durch sie verursacht, im Umfeld finden konnte, blickte er in seine Hände. Im schummerigen Mondlicht konnte er es kaum erkennen. In seinen Fingerspitzen wirbelten feine Schatten umher, schlängelten sich durch seine Adern, doch als sie an seinem Handgelenk angekommen waren, lösten sie sich langsam auf und hinterließen keine weiteren Spuren auf der weißen Haut. Einige Augenblicke starrte Lloyd nur auf seine Hände und fragte sich, ob das, was er gerade gesehen hatte, nur eine Illusion gewesen war.
Der kalte Wind jedoch und die Taubheit in seinen Füßen holten ihn aus seinen Gedanken. Er hievte sich auf, klopfte den Schnee von seiner Kleidung und machte sich auf den Weg zurück zum Gasthaus.
Einmal blickte er noch zurück, falls die Schlange wiedergekehrt war, aber nur der weiße Schnee glitzerte im Mondlicht. Kein Schatten, der ihn verdunkelte.
Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet. Er warf noch einen Blick auf seine Hände, aber auch dort waren alle Spuren schon verwischt.
Als Lloyd das Gasthaus betrat, musterte der Wirt ihn abschätzig und brummte etwas, dass sich anhörte wie „Die Jugend von heute."
Ohne ihn weiter zu beachten, schleppte sich Lloyd die Stufen hoch. Er stieß die Tür auf und schwang sie hinter sich wieder zu. Die Stiefel streifte er sich ab und stellte einen vor die Tür, damit sie geschlossen blieb.
Das Zimmer war dunkel. Die Zwillingsmonde hatten sich hinter dicken Wolken verborgen und schenkten ihm kein Licht. Er machte sich keine Mühe, eine Kerze zu entzünden, streifte nur seinen Umhang von den Schultern und warf ihn über einen Stuhl, ehe er erschöpft ins Bett fiel.
Dieser Tag hatte sich als anstrengender herausgestellt, als er erwartet hatte.
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