Gnade der Zufall, wenn das Schicksal frisst
Bald schon hatte Lloyd das Anwesen hinter sich gelassen und war auf dem Weg in die Stadt. Der Wind raschelte durch die Blätter, ließ sie leise flüstern, als wollten sie ihm etwas sagen. Aber der Elf lauschte nicht. Seine Gedanken waren bei dem warmen Körper, den er kurz zuvor noch in den Armen gehalten hatte, dem leicht beschleunigten Herzschlag, den hitzigen Wangen, den Händen in seinem Nacken.
Er biss die Zähne zusammen und beschleunigte seine Schritte. Er wollte mehr. Mehr als das. Nicht länger dieses Hin und Her, dieses ständige da sein und doch wieder verschwinden. Jedes Mal, wenn er Tavaren seinen Rücken kehrte, war da dieser Gedanke: Er wollte nicht gehen.
Er schüttelte seinen Kopf. Was er wollte war irrelevant. Er war lange nicht mehr derjenige, der er damals war. Nun war er auf Hilfe angewiesen, konnte allein nicht einmal einen einzigen Tag überleben. Und Tavaren... Tavaren war Herzog, hatte Familie, bekam ein Kind, dessen Vater er sein würde, selbst wenn er es nicht gezeugt hatte. Da war kein Platz für ihn und trotzdem... Er wollte nicht gehen.
Jemand packte seinen Arm und hielt ihn in eisernem Griff. Erst jetzt wurde ihm sein Fehler bewusst, in Gedanken versunken zu sein.
„Endlich habe ich Euch gefunden."
Lloyd wirbelte herum und versuchte sich loszureißen, aber die Hand schloss sich nur fester um seinen Arm. Er hätte dem Wald lauschen sollen, auf der Hut sein sollen. Er hätte wissen müssen, dass Kematian sich auf die Suche nach ihm machen würde.
„Lasst mich los!", rief er und lehnte sich weiter gegen die Umklammerung auf. Er ignorierte den Schmerz und das Gefühl, dass der Rabe ihm die Knochen zerschmettern würde.
Aber wortlos schleifte Kematian ihn mit sich. Lloyd stemmte seine Füße in den Boden, versuchte sich weiterhin loszureißen.
„Lasst mich gehen!", rief er erneut. Als Antwort knurrte Kematian nur. In seinem Blick lag eine Gefühlslosigkeit, die es Lloyd kalt den Rücken herabrinnen ließ.
Er würde es nicht überleben. Wenn Kematian ihn nur umbrächte, dann hätte er Glück. Doch der gierende Schleier über Kematians grauer Iris verriet, dass er weit mehr im Sinn hatte, als Lloyd nur zu töten.
„Kematian!" Lloyd riss an seinem Arm. „Ihr müsst das nicht tun!"
Wortlos blieb Kematian stehen und ließ den Elfen los. Lloyd, der das nicht erwartet hatte, sammelte seine Gedanken nicht rechtzeitig, um seine Beine zum Losrennen anzutreiben, sodass Kematian ihn keine Sekunde später an der Taille packte und über die Schulter warf.
Lloyd erstarrte. Noch nie, noch niemals in seinem Leben hatte es jemand gewagt, ihn wie ein Kind über die Schulter zu werfen. Ihn, einen Königssohn, den Elfenprinzen.
Er öffnete seinen Mund, um zu protestieren, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Wenn er laut wäre, könnten Menschen auf ihn aufmerksam werden... und so wie jetzt wollte er nicht gesehen werden.
Statt zu schreien, schlug er mit Fäusten gegen Kematians Rücken und rammte ihm seinen Ellenbogen in die Schulter, aber der Rabe zuckte nicht einmal zusammen. Lloyd versuchte ihm seine Hacken ins Gesicht zu schleudern, aber Kematian wehrte die Tritte ab und hielt danach dessen Beine fest, damit er nicht noch einmal in Versuchung kam.
Lloyd wusste nicht, wie lange er damit verbracht hatte, sich aus Kematians Griff herauszuwinden, aber irgendwann sah er auf. Der Wald kam ihm bekannt vor.
Er stützte sich mit den Ellenbogen auf Kematians Schulter, um sich besser umsehen zu können. Und dann bemerkte er es. Die riesige Statue eines Reiters, der Pfeil und Bogen auf die Eindringlinge gerichtet hatte. Hinter ihm eine Ruine. Um genau zu sein, die Ruine, unter der Tavarens Spinnen hausten.
Das konnte doch nicht wahr sein. Wollte Kematian etwa in den Fallen umkommen und Lloyd mit sich in den Tod reißen?
Aber zu Lloyds Überraschung löste der Rabe keine der Fallen aus. Im Inneren des Gemäuers ließ er den Elfen unsanft auf den Boden plumpsen.
Lloyd kroch sofort rückwärts von ihm weg, bis der den kalten Stein im Rücken spürte.
„Ich werde Euch nicht umbringen", sagte Kematian. Er blieb an der Stelle stehen und machte keine Anstalten auf ihn zugehen zu wollen.
„Warum habt Ihr mich dann hergebracht?", fragte Lloyd. Auf seiner Stimme lag Brüchigkeit, durch Furcht verursacht.
„Hier wird uns niemand stören." Kematian legte seinen Umhang ab und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen.
Lloyd schluckte. Das konnte nichts Gutes verheißen. Mit angstgeweiteten Augen beobachtete er Kematian dabei, wie er anfing sich das Hemd aufzuknöpfen. Er wagte es kaum zu atmen. Das Blut schoss ihm ins Gesicht und die Kerbe an seinem Ohr begann schmerzhaft zu pulsieren. Deswegen war Kematian zu ihm gekommen. Er wollte beenden, was er angefangen hatte.
Aber irgendetwas überzeugte Lloyd vom Gegenteil. Der Abstand, den Kematian zu ihm wahrte oder der Ausdruck in seinen Augen, der ihn zwar ängstigte, aber nicht ansatzweise so angierte wie in jener Nacht.
„Ich brauche Eure Hilfe", sagte Kematian. Das Hemd hatte er bis zur Hälfte aufgeknöpft. Er schob es zu Seite und entblößte seine Brust. Was Lloyd darauf sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ein Schmetterling, eingebrannt in die blasse Haut nur wenige Zentimeter rechts von dem Herzen. Noch frisch, eine höchstens zwei Wochen alt. Ein Fluchmal. Ein Zeichen von schrecklichstem Zorn. Zorn, der niemals verebben würde und niemals aus Vergebung treffen sollte.
Lloyd rappelte sich auf. Für einen Augenblick vergaß er seine Angst und trat an Kematian heran. Wie von selbst strichen seine Finger über die kalte Haut und zogen die Linien des Mals nach. Das war unverkennbar. Leandras' Zeichen. Einen Menschen hätte es binnen weniger Stunden umgebracht, aber Kematian als Vampir hielt länger aus. Wie lange würde sich noch zeigen.
„Was habt Ihr getan?" Lloyd sah zu dem Raben auf. Dessen Augen betrachteten ihm mit der üblichen Kälte, aber der dunkle Schleier der Gier verdichtete sich wieder, sodass er sich bewusst wurde, was sein Gegenüber war.
Er stolperte einige Schritte zurück, bis er die Wand wieder in seinem Rücken hatte.
Kematian richtete sein Hemd wieder, ließ es aber aufgeknöpft. „Vor einiger Zeit bekam ich einen Auftrag. Ich war involviert, als die Elfenprinzessin starb." Kalt wie Eis die Stimme, hart wie Eisen und gefühllos, wie nur ein Monster sein konnte.
Lloyd wandte sich von ihm ab. Mit einer Hand suchte er Halt an der Wand, die andere Hand legte er über seinen Mund. Seine Kehle schnürte sich zu, sodass ihm das Atmen schwerfiel.
Seine Schwester... tot...
„Ich glaube Euch nicht", krächzte er.
Kematian verschränkte die Arme vor der Brust. „Habe ich Euch jemals angelogen?"
Lloyd zwang sich, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Er konnte dem Raben nicht glauben.
„Wie werde ich den Fluch los?", fragte Kematian. Ungerührt sein Ton, gleichgültig seine Haltung. Fast schien er sogar genervt durch Lloyds Reaktion auf die Nachricht.
„Ihr habt meine Schwester umgebracht", knurrte Lloyd. „Und nun habt Ihr die Dreistigkeit, mich um Hilfe zu bitten?" Seine Hand ballte sich zur Faust.
Kematians Blick fiel auf sie. „Das würde ich an Eurer Stelle nicht tun."
Kurz bohrten sich Lloyds Fingernägel weiter in seine Handinnenfläche, aber dann entspannte er seine Haltung kurz wieder. Entschlossenheit zerfurchte ihm die Seele, kratzte wie eine Raubkatze an ihrer Innenseite, um einen Weg heraus zu graben. Aber Lloyd hielt sie zurück und in seinem Innersten fest.
Niemals würde er sie gehen lassen.
Er wirbelte herum und schlug Kematian mit dem Handrücken ins Gesicht. Schmerz schoss ihm bis in den Arm hinauf. Durch die Wucht fühlten sich seine Fingerknöchel dem Zersplittern nahe. Noch nicht ganz geheilt von den Scherben, die noch vor einer Woche in der Hand gesteckt hatte, rissen die Wunden erneut auf. Blut floss an der Hand herab, rann zwischen den gepeinigten Fingern entlang. Aber den Elfen kümmerte es kaum. Vernebelt durch Zorn, der von Verlust hervorgerufen wurde, spürte er den Schmerz nicht, fühlte nicht, wie das Blut unter seiner Haut hervorströmte.
„Ich werde Euch nicht helfen", sagte Lloyd. Die Entschlossenheit blätterte sich von seiner Zunge, hatte einen Weg an die Oberfläche gefunden und floh. Zurück blieb Angst.
In ihm zog sich alles zusammen, aus Furcht vor dem, was der Schlag in Kematian ausgelöst haben könnte. Sein Blut gefror, als sich die Lippen des Raben zu einem kalten Lächeln verzogen.
„Ich hatte gehofft, dass Ihr es mir nicht so leicht machen würdet," sagte er. Er rollte sich einen Ärmel hoch. „Habt Ihr jemals von der Wirkung Vampirblutes in einem sterblichen Körper gehört." Er kam näher.
Lloyd drückte sich an die Wand, als würde er hoffen, dass das Gestein ihn verschlingen und somit retten würde. „Kematian", begann er, aber er wusste nicht, wie er den Raben davon überzeugen könnte, ihn in Ruhe zu lassen.
„Ihr müsst mir nur eine Antwort geben", sagte Kematian. Er kam noch einen Schritt näher und hob sein Handgelenk zu seinem Mund. Die Zähne schlug er in die eigene Haut. Zeitgleich griff er nach Lloyds Kiefer, damit er nicht entkommen konnte, und zog dessen Kopf mit einem Ruck nach oben.
Lloyd presste die Lippen zusammen, aber gleichzeitig wusste er, dass es nichts bringen würde. Hatte es letztes Mal schließlich auch nicht.
Kematian bohrte seinen Daumen zwischen die Lippen und drückte so fest gegen die Zähne, dass Lloyd das Gefühl hatte, er wollte sie herausbrechen. Und wenn er richtig vermutete, dann würde der Rabe genau das tun, sollte er nicht nachgeben.
Letztlich öffnete er seinen Mund. Diese Gelegenheit nutzte Kematian. Er presste ihm das Handgelenk auf die Lippen und füllte den Mund mit Vampirblut.
Lloyd musste würgen, wollte seinen Kopf wegdrehen und die Flüssigkeit wieder ausspucken, aber Kematian legte ihm eine Hand auf den Mund.
„Schluckt es." Seine Stimme trug keine Reue, keine Gefühle, nur kalte Grausamkeit. Er hielt Lloyd gleichzeitig Mund und Nase zu, sodass er keine Luft mehr bekam. In den düsteren Augen sah Lloyd nur Gier zu foltern und, wenn es notwendig war, auch zu morden.
Lloyd würgte, trommelte gegen Kematians Brust, trat gegen dessen Schienbein, aber der Rabe rührte sich nicht. Stattdessen zwang er ihn, mit der Hand unter dem Kinn, den Kopf noch ein Stück weiter zu heben.
Mit Schrecken musste Lloyd feststellen, dass die kalte Flüssigkeit auf seiner Zunge nun seinen Rachen herabrann. Dabei hinterließ sie einen beißenden Geschmack, der ihn nur noch mehr gegen Kematian ankämpfen ließ.
Nach einigen Augenblicken ließ der Rabe von ihm ab. Lloyd fehlte die Kraft in den Beinen und er rutschte zu Boden. Schweratmend versuchte er das Blut wieder hervor zu würgen, aber es war schon zu tief in seiner Kehle und um sich den Finger in den Hals zu stecken, dafür hatte er noch zu viel Würde.
„Dann lasst uns beginnen", hörte er Kematians Stimme über sich.
Auf Lloyds Haut breitete sich eine Gänsehaut aus. Da war Vampirblut in seinem Körper. Vampirblut. Er öffnete seinen Mund, um Kematian zu bitten, aufzuhören, aber kein Laut wollte über seine Lippen treten.
In seinem Magen wand sich etwas hin und her. Etwas Fremdes, Abnormales. Und dann biss es ihn. Zuerst nur leicht. Ein harmloses Kneifen, als hätte man etwas Falsches gegessen. Aber Sekunde für Sekunde wurde es schlimmer.
Es bohrte sich in ihn, durchfraß sein Inneres. Er schlang die Arme um seinen Bauch und krümmte sich zusammen. „Kematian." Alle Kraft in seiner Stimme war verlorengegangen. „Hört auf damit." Hilfesuchend sah er auf, aber Kematian blickte nur kalt auf ihn herab.
„Quält es Euch jetzt schon?", fragte er. Geheuchelte Fürsorge hatte sich in seiner Stimme geschlichen. „Ihr braucht mir nur sagen, wie ich den Fluch loswerde, und schon lasse ich Euch in Ruhe."
Lloyd biss die Zähne zusammen. Er schüttelte seinen Kopf, um Kematian zu signalisieren, dass er von ihm nichts erfahren würde.
Doch etwas in dem Raben wurde durch Lloyds Wehr nur weiter angestachelt. Ein kaltes, vorfreudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Der Schmerz fraß sich weiter durch Lloyds Oberkörper, bis jeder Zentimeter in Kälte eingehüllt war. Seine Arme und Beine wurden taub. Ein gepresstes Stöhnen kam aus seinem Mund. „Kematian bitte...", brachte er hervor.
„Ihr habt immer noch nicht genug?"
Lichtpunkte flimmerten vor Lloyds Augen auf. Blitze durchzuckten ihn. Ein Schrei brach aus ihm heraus und verhallte in den Ruinen des ehemaligen Elfenpalastes.
Lloyd ließ seinen Kopf auf seine Knie sinken. Er umklammerte seinen Oberkörper fester. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und rannen sein Gesicht herab.
„Es... gibt...", brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Blut wand sich weiter in ihm, sodass er aufkeuchen musste.
„...Keine..." Es kostete ihn alle Kraft sich auf die Worte, die er formen wollte zu konzentrieren. Jeden Buchstaben einzeln, als versuchte er zum ersten Mal in seinem Leben zu sprechen. „...Heilung..."
Sofort ließ der Schmerz nach. Stoßweise holte Lloyd Luft, aber er wagte es noch nicht, sich in Sicherheit zu wiegen.
„Es gibt keine Heilung?", hörte er die kalte Stimme über sich. Er hoffte inständig, dass Kematian dies aus Hoffnung sagte und nicht, weil er wusste, dass Lloyd log.
Der Elf schüttelte seinen Kopf. „Keine... Heilung..." sagte er, immer noch atemlos.
Kematian kniete sich zu ihm und griff nach seiner Kehle. „Dann seid Ihr unnütz für mich."
Lloyds Augen weiteten sich. Er klammerte sich an Kematians Arm und versuchte ihn von sich zu schieben, aber der Rabe achtete nicht auf ihn. Er schnürte ihm die Luft weiter ab.
Lloyd sah sein Leben an sich vorbeiziehen. Er konnte spüren, wie das Blut in seinem Hals wie von einem Damm abgehalten wurde. Eine drückende Spannung legte sich auf sein Genick. Ein kleiner Gedanke kratzte an seinem Hinterkopf. Kematian würde ihm nicht das Genick brechen. Er wollte ihm die Zeit voll von Leid geben, in der er sich überlegen konnte, ob es nicht doch eine andere Antwort auf Kematians Frage gäbe.
„Ke—", krächzte Lloyd und kratzte an Kematians Unterarm. So wollte er nicht sterben. Nicht in irgendeiner Ruine, in der ihn tagelang niemand finden würde.
Doch dann ließ der Rabe ihn los, als hätte er sich verbrannt.
Lloyds Kopf sank gegen seine Brust. In ihm war keine Kraft mehr, die ihm helfen konnte, aufzusehen.
„Was habt Ihr getan?", fragte Kematian. Ein Hauch Überraschung mischte sich in seine Stimme. Ein Unterton, den Lloyd noch nie bei dem Raben gehört hatte.
Aber er war nicht länger in der Lage sich zu rühren. Erst die Nachricht von dem Tod seiner Schwester, dann das Vampirblut in seinem Körper und zuletzt das Strangulieren. Als die Dunkelheit ihre Hände nach ihm ausstreckte, ließ er sich dankbar von ihr einfangen. Er versuchte nicht, gegen sie anzukämpfen oder ihr zu entkommen. Sie war die Einzige, die ihm Schutz gewähren konnte. Vor Kematian, vor seinen Gedanken und vor der Welt.
Er schloss seine Lider und ließ sich von der Wärme umhüllen.
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