Gier II
Einen weiteren Tag benötigte Kematian, bis er die Grenze der Wüste erreichte. Doch nach Benela sah das Land, dem er nun entgegenblickte, nicht aus. Dunkle Rauchwolken stiegen in den Himmel auf. Tiere begegneten ihm nicht und ebenso keine Menschen. Alles Grün und alle Farbe war aus der Welt entwichen und was zurückblieb, waren abgebrannte Ruinen und eine Wüste, so weit das Auge reichte. Nicht aus Sand, sondern aus Asche.
Die Hauptstadt Benelas – Blencalo – war nur wenige hundert Meter von den Wüsten des Imperiums und von der südlichen Grenze des Großen Waldes entfernt. Wegen dieser Nähe war die Stadt Leandras schon immer ein Dorn im Auge und dies wusste ein jeder.
Kematian ging, als er die Zerstörung sah, davon aus, dass der Elfenkönig zugeschlagen hatte, doch eine leise Stimme in seinem Kopf redete ihm ein, dass Leandras eigentlich die Natur achtete und besonders die weiten Wälder Benelas hatte er stets verehrt.
Für den Raben blieb jedoch die einzige Erklärung, für das, was sich vor seinen Augen erstreckte, dass der Elfenkönig mit seinem Heer durch das Land gezogen sein muss. Eine andere Macht, die einen solchen Hass auf die Menschen hegte, kannte er schließlich nicht, und dass sich unbemerkt ein Heer eingeschlichen hatte, glaubte er nicht. Und einer allein hätte dieses Werk nicht vollbringen können.
Kematian schob seine Vermutungen in die hinterste Ecke seines Verstandes. Er würde schließlich herausfinden, was geschehen war. Da brauchte er jetzt keine unnötigen Überlegungen anstellen.
Schon aus der Ferne sah er, dass die Hauptstadt von einer unnatürlichen Dunkelheit umgeben war und nicht einmal die rot-orangen Strahlen der Abendsonne halfen ihm, die Umrisse der Mauern in dem schwarzen Nebel zu erkennen.
Jeden gewöhnlichen Menschen hätte der Anblick wohl abgeschreckt, doch der Rabe ging direkt in diesen Schattensturm hinein, obwohl er wusste, dass er darin seinen Tod finden könnte. Denn genau dies suchte er. Er wollte nicht länger das ohnehin schon tote Leben mit sich herumschleppen und es stattdessen endlich hinter sich lassen. Es war nur unnötiger Ballast.
Im Inneren der Schatten gelang es der Sonne kaum, die Finsternis zu lichten. Doch Kematian konnte trotzdem die Stadt sehen... oder zumindest das, was von ihr übrig blieb.
Eines der Stadttore war aus den Angeln gerissen und auf ein nahestehendes Haus geschleudert, das unter dem Gewicht des eisenverstärkten Holzes eingestürzt war. Das andere Tor hing zwar noch an seinem Platz, aber ein Loch war hineingeschlagen, so groß, dass Kematian hindurchgehen konnte, ohne seinen Kopf einziehen zu müssen.
Mehrere Steine waren aus den Stadtmauern herausgebrochen und begruben Häuser im Inneren unter sich. Trümmerhaufen, so weit das Auge reichte.
Der Geruch nach Tod und Verwesung lag in der Luft, aber Kematian konnte keine Leichen sehen, doch ebenso keine lebendigen Menschen. Die Stadt war wie ausgestorben. Die einzigen Bewegungen gingen von den Schatten aus, die wie eine Wolke das Innere der Mauern umgaben.
Langsam und vorsichtig tastete sich Kematian zu dem Palast von Königin Marian II. vor. Von ihr selbst wusste er nichts, außer dass sie als gerechte Herrscherin verehrt wurde und schon mehrfach auf Gegenstimmen in dem Adelsstand anderer Länder gestoßen war. Eine Frau auf dem Thron wurde nicht ernst genommen und von einigen in Verhandlungen nicht geduldet.
Kematian hatte nur mit dem Sohn der Königsfamilie zu tun gehabt. Von ihm hatte er vor Jahren den Auftrag erhalten, dessen Verlobte umzubringen. Nichts Schweres, nur ein einfacher Mord.
Je weiter er ging, desto kühler wurde es. Bald zog sich eine dünne Reifschicht über die eingestürzten Gebäude und Kematian konnte seinen Atem sehen, sobald er Luft ausstieß.
Eis zog sich über den Boden, obwohl die Winter Benelas immer mild waren und es hier noch nie gefroren hatte.
Genau zum Palast führte ihn sein Weg. Dorthin, wo die Kälte so beißend wurde, dass selbst er das Gefühl hatte, sich seinen Umhang enger um den Körper schlingen zu müssen. Dort wollte er seinen Tod finden.
Er schob die schwere Tür zum Thronsaal auf. Im Inneren war es wärmer, doch von warm weit entfernt.
Unter den Geruch der Verwesung schlich sich eine vertraute Note. Etwas, von dem er nicht geglaubt hatte, es jemals wieder riechen zu können. Elfenblut mit einem Hauch von Menschlichkeit. Doch was genau der Elfenprinz hier tat, konnte Kematian sich nicht vorstellen.
Er ging der Spur nach, durch den Thronsaal und eine Treppe hinaus. Ähnlich wie die Stadt war auch der Palast totenstill. Nur ein einziger Herzschlag, brachte sein Trommelfell zum Schwingen.
Kematian schüttelte die Verwirrung von sich ab und ging weiter. Er traute seinen Ohren nicht ganz, glaubte nicht, dass nur eine einzige Person hier im Palast sein konnte und diese eine Person auch noch der Elfenprinz sein sollte.
Er folgte dem Geräusch bis zu einer Tür. Dahinter sollte sich sein Ziel befinden. Er holte tief Luft und machte sich auf alles gefasst.
Vorsichtig schob er die Tür auf. In der Dunkelheit konnte er die hellen Umrisse des Prinzen sehen. Er saß auf dem Fensterbrett, den Kopf gegen die kühle Scheibe gelehnt. Ein Bein baumelte entspannt herunter und die Fußspitzen streiften den Teppich. Das andere Bein hatte er angewinkelt und auf dem Knie ruhte sein Ellenbogen. Er hob seinen Kopf nicht an und schien den Raben gar nicht bemerkt zu haben.
Kematian legte seine Vorsicht ab und stieß die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlug und mit dem Knauf stecken blieb.
Lloyd zuckte zusammen und fiel vor Schreck beinahe von dem Fensterbrett. Seine Augen schnellten ihn Kematians Richtung, doch sehen konnten sie ihn nicht.
Der Rabe machte einen Schritt in den Raum hinein. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam nicht mehr dazu, einen Laut von sich zu geben.
Ein Klirren zog sich durch den Raum. Violett wirbelte es vor seinen Augen. Ehe er bemerkte, was vor sich ging, traf ihn eine Faust mitten im Gesicht. Die Wucht schleuderte ihn zur Seite und gegen einen Schrank.
Das Holz splitterte durch den Aufprall. Schmerz zog sich durch Kematians Rücken. Fast als hätte seine Haut Feuer gefangen. Seine Kleidung saugte sich mit einer Flüssigkeit voll, von der er erst nach und nach bemerkte, dass es sich um sein eigenes Blut handelte.
Er konnte sich nicht länger auf den Beinen halten und rutschte an dem Schrank entlang auf den Boden. Blut sammelte sich in seinem Mund. Kalt lief es ihm von der Stirn herab und über sein Gesicht, tauchte sein Blickfeld in Rot.
Er versuchte sich aufzuraffen, aber er konnte keine Stärke in seinen Beinen finden, sodass er jedes Mal, wenn er sich einige Zentimeter erhoben hatte, wieder auf den Boden fiel.
„Ihr wisst, wofür das war", hörte er eine Stimme.
Kematian hob seinen Blick an. Eingehüllt in eine violette Robe, die mit Pfauenfedern an Schultern und Ärmeln verziert war, stand eine Person vor ihm, die er noch nie zuvor gesehen hat. Die goldenen Augen bohrten sich zu ihm hindurch, kalt und ohne Gnade.
Kematian wollte sagen, dass er keine Ahnung hatte, weswegen dieser Mann in geschlagen hatte, doch sobald er seinen Mund öffnete, brach der Schwall Blut aus ihm heraus, der seine Zunge beschwerte und seine Worte unverständlich machten.
„Wer ist da?", klinkte sich nun Lloyd ein. Der eine war der Erzähler, das wusste er, aber den anderen konnte er nicht sehen.
„Ich hatte erwartet, dass Ihr mich so langsam erkennt, Sweetie." Das Klirren hüpfte durch den Raum und kam rechts von dem Elfen zum Stehen. Lloyd verfolgte die Bewegung bis dorthin und hielt seine Augen auf den Punkt gerichtet, an dem er vermutete, dass dort Murasakis Gesicht war.
„Euch meinte ich nicht", sagte er. „Aber hier ist noch jemand, nicht wahr? Was ist geschehen?"
„Ich bin hier, Sweetie", säuselte es in Lloyds linkes Ohr. Vor Schreck machte er einen Satz zur Seite, landete ungünstig auf seinem kaputten Bein und wäre beinahe zu Boden gestürzt, hätte Murasaki ihn nicht rechtzeitig am Arm gegriffen und wieder auf die Füße gezogen.
„Unser guter Freund Kematian wollte Euch einen Besuch abstatten", erklärte Murasaki.
Lloyd sah in die Richtung, wo er das laute Wums gehört hatte, als der Rabe gegen den Schrank gekracht war. „Unser guter Freund?", fragte er. Er konnte sich weder vorstellen, wie das ‚unser' noch das ‚Freund' zuträfe. „Ihr kennt Euch?"
„Ich bezweifle, dass er mich kennt, aber ich kenne ihn", antwortete Murasaki und begann wieder im Kreis um Lloyd herum zu hüpfen. „Eine äußert flüchtige Bekanntschaft, zugegeben. Und ich habe auch seine Taten weniger –" Er suchte nach einem Wort. „– schwierig eingeschätzt."
Lloyds Miene gefror. Ihm kam eine Vermutung, die er sogleich aussprach: „Ihr habt ihm damals, als ich von meinem Vater verbannt wurde, den Auftrag gegeben, mich aufzunehmen, nicht wahr?"
Einige Sekunden lang hörte er nur das Klirren, aber Murasaki schwieg. „Zerbrecht Euch darüber nicht den Kopf", sagte er schließlich.
Das reichte Lloyd als Antwort aus. Es war ein für Murasaki erstaunlich deutliches Ja.
„Doch nun entschuldigt mich kurz", sagte der Erzähler. „Ich muss mich noch um den kleinen Raben kümmern."
Kematian sah auf, als er dies hörte, doch ehe er noch einen Versuch wagen konnte, sich auf die Beine zu heben, war Murasaki schon bei ihm angekommen und packte ihn am Kragen. Er zog ihn auf die Füße, schleifte ihn aus dem Zimmer hinaus und ein Stückchen den Flur entlang.
Kematian wollte sich zwar losreißen, aber gelähmt von Verwirrung und Erstaunen konnte er sich nicht rühren. Selten traf er jemanden, dessen Schlag ihn nicht nur verletzte, sondern gänzlich bezwang.
„Ein Sturz aus dem Fenster wird Euch nicht umbringen, oder?", fragte Murasaki, nachdem sie außer Hörweite Lloyds waren.
Kematian konnte nur mit dem Kopf schütteln, aber weiterhin entsagten sich ihm die Worte.
„Doch zuerst das Wichtigste." Murasaki ließ den Kragen los und schob sich den Ärmel hoch. „Wie wäre es, wenn wir Leandras' Fluch auf später verschieben. Zehn bis zwanzig Jahre kann ich Euch bestimmt geben. Aber in der Zeit solltet Ihr besser zusehen, dass Ihr eine endgültige Heilung findet. Denn ich werde Euch nur ein einziges Mal helfen." Er hob seinen Arm und hielt ihn dem Raben vor das Gesicht. „Beißt mich."
Kematian schluckte. Er glaubte nicht, dass sein Gegenüber wusste, was er da verlangte, doch gerade als er den Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen, rammte Murasaki ihm das Handgelenk gegen die Zähne.
Sofort riss die Haut ein. Blut floss aus der Wunde und wirbelte um Kematians Zungen herum. Süße, die ihm nicht einmal der Elfenprinz geben konnte, breitete sich in seinem Mund aus und rann seine Kehle herunter.
Er packte den Arm fester und grub die Zähne tiefer in das Fleisch. Nichts, das er jemals getrunken hatte, war mit diesem vergleichbar. Selbst einen Elfen würde er unbeachtet lassen, wenn er dafür auch nur einen Tropfen von diesem Blut erhielte.
Die erste Mahlzeit seit Monaten. Es kümmerte ihn nicht, den Schmerz zu betäuben oder seinem Gegenüber gar andere Gefühle einzuflößen, doch der Erzähler verharrte ruhig und gab keinen Laut von sich.
Doch nur wenige Sekunden vergingen, da drückte Murasaki ihn weg und entriss ihm sein Handgelenk. „Das reicht", sagte er.
Ehe Kematian wieder ganz in der Realität angekommen war, öffnete Murasaki schon das Fenster. Er packte ihn am Arm und schleuderte ihn nach draußen, aber er verfolgte nicht, ob der Rabe wirklich heil am Boden ankam, schloss stattdessen das Fenster und ging zurück zu Lloyd.
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