Frieden I
Der Erzähler brach ab. Ein leises Seufzen schwebte aus seinem Herzen. Er öffnete seinen Mund und wollte weiterlesen, doch er schloss ihn wieder und schwieg, statt zu sprechen.
Einige Seiten blätterte er weiter, hob seinen Blick und sagte: „Über meine Lippen soll kein Wort mehr von jener unheilvollen Nacht treten.
Nur so viel sage ich: Ich sah Lloyd, als Elliot ihn einen Tag später in den Berg der Drachen zurückbrachte. Die Glut seines Zornes blutete ihm aus den Augen, rann ihm über die Wangen und versengte die Erde unter seinen Füßen. Schatten strömten ihm durch den Körper und schwärzten sein Blut. Seine Adern, so sagt man, sollen sich auch heute noch dunkel von seiner weißen Haut abzeichnen.
Blut, das nicht seines war, tropfte von seinen Haaren. Reines Weiß zu Rot gefärbt. Am ehesten konnte man sein Aussehen mit einem Racheengel vergleichen, aber ich habe Racheengel kennengelernt und jeder von ihnen war ein Unschuldslamm gegen Lloyd. Niemand überlebte diesen Abend, jeder fiel dem König zum Opfer.
Und danach verschwand er für mehrere Monate. Er erzählte niemandem, wohin er ging oder weshalb. Von einem Tag auf den anderen zog er fort. Doch er hinterließ eine Spur aus Zerstörung.
Es fiel mir nicht schwer ihm zu folgen. Qualmende Dörfer und Leichenberge verrieten ihn und das Lied der Raben begleitete seinen Weg. Dort, wo er auftrat, wächst auch heute noch keine einzige Pflanze.
Zwar hatte ich ihn ständig im Blick, aber dennoch konnte ich ihn nie gänzlich zu fassen bekommen. Erst als schon fast der nächste Winter angebrochen war, floh er nicht länger vor mir."
Der Erzähler richtete seinen Blick zurück in das Buch und fuhr fort:
Er hatte seine Augen geschlossen, saß in dem weichen Gras, den Oberkörper gegen einen Baum gelehnt. Die letzten Strahlen der Herbstsonnen schienen ihm ins Gesicht. Er versuchte ruhig und langsam in tiefen Zügen zu atmen, aber die Pfeile in seiner Brust machten diese Aufgabe unmöglich.
Die Vögel zwitscherten, der Wind fuhr sanft durch die Blätter und ließ sie wie kleine Glocken erklingen, ehe er sie fortriss. In einiger Ferne plätscherte ein kleines Bächlein. An mehreren Steinen sprangen Tropfen einige Zentimeter hoch und landeten dann mit einem leisen Platschen im Wasser. Ein Ort, fast zu schön, um an ihm zu sterben.
Er röchelte leise. Der Versuch eines schwachen Lachens. Schritte näherten sich, Rascheln auf den trockenen Blättern und dann eine Stimme.
„Hier seid Ihr", hörte er. Klirren trat aus dem Unterholz auf die Lichtung. Er musste nicht einmal die Augen aufschlagen, um zu wissen, wer sich ihm näherte.
Schon als er aufgebrochen war, hatte er bemerkt, dass Murasaki ihm folgte, aber er war ihm stets einen Schritt voraus gewesen. Doch nun, den Tod vor Augen, hatte die Kraft ihn verlassen und er wollte nicht weiter fortlaufen.
Er öffnete seine Augen, als das Klirren fast neben ihm angekommen war. In der Dunkelheit konnte er die Umrisse des Erzählers erahnen.
„Was macht Ihr hier draußen?", fragte Murasaki und kniete sich zu ihm.
Lloyd holte tief Luft, damit er ein einziges Wort hervorbringen konnte. „Sterben."
„Aber dafür gibt es doch gewiss angenehmere Orte als mitten im Wald und allein."
Lloyd konnte sich zu einem schwachen Lachen durchringen. „Nicht für mich. Meine Möglichkeiten sind gerade ein wenig beschränkt." Er ließ seinen Blick zum Himmel schweifen, versuchte zu erkennen, ob ihm das wenige Licht von der Sonne oder dem Mond gegeben wurde, und richtete ihn, als er es nicht sehen konnte, zurück auf den Erzähler.
„Wie kommt es, dass Ihr immer bei mir seid, wenn ich sterbe?", fragte er.
Murasaki zuckte mit den Schultern. „Nennt es wie Ihr wollt. Ironie des Schicksals, Zufall oder Glück."
Lloyd wollte mit den Augen rollen, aber ihm fehlte die Kraft dazu.
„An meiner Stelle hätten viele stehen können", fuhr Murasaki fort. „Leute, die Euch gewiss besser helfen könnten als ich. Und doch bin ich der Einzige, der sich auf den Weg gemacht hat, Euch zu finden."
„Wenigstens sterbe ich nicht allein." Er hustete. Metallischer Geschmack klebte ihm auf der Zunge. In einer überraschend schnellen und präzisen Bewegung griff er nach Murasakis Ärmel und sah ihm in die Augen. „Bitte, lasst mich nicht allein. Bleibt bei mir, bis es vorbei ist."
„Selbstverständlich." Murasaki legte seine Hand auf die des Elfen und drückte sie leicht.
„Danke", hauchte Lloyd. Seine Atmung ging nur noch stockend. Er wollte sich nicht ans Leben klammern, aber einfach aufgeben konnte er auch nicht.
Einige Sekunden lang durchbrachen nur schwere Atemzüge die Stille. Murasaki setzte sich in das Gras und zog sich den Elfen auf den Schoß.
Lloyd schluckte den Schmerz, den die Bewegung in seinem Brustkorb auslöste, herunter und biss die Zähne zusammen. Er schloss seine Lider und schmiegte sich an die Schulter.
„Das, was ich Euch für Eure Augen gegeben habe, Ihr habt es nicht genommen." Er spürte leichte Vibration in Murasakis Brust, als er sprach.
„Wie könnte ich Euch vertrauen?" Lloyds Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der einzige Weg, wie ihm das Sprechen keine Qualen bereitete.
Ein belustigtes Schnauben kam von Murasaki. „Ihr liegt zum zweiten Mal sterbend in meinen Armen und vertraut mir nicht?" Er zog ihn ein Stück näher an sich und strich ihm über das Haar.
„Wart Ihr nicht derjenige, der mir sagte, dass ich Euch nicht vertrauen soll?", murmelte Lloyd und schlug die Augen wieder auf.
„Keiner meiner klügsten Momente, das gebe ich zu, aber wohl einer meiner ehrlichsten."
Lila schimmerte es vor Lloyds Augen. Kurz glaubte er, dass er es sich nur eingebildet hatte, denn seit Wochen schon, hatte er keine Farbe mehr sehen können.
Er hob eine Hand an und ergriff eine der violetten Haarsträhnen. Vorsichtig ließ er sie durch seine Finger gleiten. Seidig und weich. Jemand wie Murasaki, der tagtäglich durch die Welt zog und keinen Ort seine Heimat nannte, hatte gewöhnlich nicht solche Haare.
Erneut flackerte es violett auf, brannte sich in seinen Verstand ein. Diesmal war er sich sicher, dass es keine Einbildung war.
„Warum haben sie diese Farbe?", murmelte er. Er bemerkte nicht einmal, dass er seinen Gedanken ausgesprochen hatte.
Murasaki drehte seinen Kopf in Lloyds Richtung. „Das ist etwas, dass ich eigentlich nie erzählen wollte, aber Euch – und nur Euch – lasse ich meinen Zuhörer sein. Doch dafür sollten wir warten, bis wir mehr Zeit haben, denn wir werden sehr viel davon brauchen. Es ist eine Geschichte von Fremden, die erst zu Freunden und dann zu Feinden wurden. Von Krieg, als er das erste Mal durch die Welt zog. Und von Verrat und wie er dem Verachteten Selbsthass lehrte."
„Und Ihr werdet mir die Wahrheit erzählen?", fragte Lloyd. Die Strähne hielt er noch in der Hand.
„Jedes meiner Worte ist wahr", antwortete der Erzähler. „Ihr müsst nur die Lügen von ihnen waschen."
Lloyd brachte genug Kraft auf, um ein Schnauben auszustoßen.
„Was?" Ein Lächeln huschte über Murasakis Gesicht. „Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass ich es Euch einfach machen würde."
Lloyd antwortete nicht und schob nur seine Brauen zusammen. Er wollte seine Hand sinken lassen, aber dabei streifte er Murasakis Wange. Kalt wie Eis, wie nur ein Toter sein konnte. Er zuckte zurück, aber Murasaki verharrte regungslos.
Vorsichtig streckte er erneut seine Hand aus, legte die Fingerspitzen auf die kalte Haut. „Seid Ihr tot?", flüsterte er. Eine Frage, die er nicht gestellt hätte, wenn er nicht sterbend in Murasakis Armen liegen würde.
In der Zeit, die der Erzähler überlegte, ob er antworten sollte, fuhr Lloyd mit seiner Hand an dessen Hals entlang und wollte in den Kragen schlüpfen, um einen Herzschlag auf der nackten Brust zu suchen, aber Murasaki hielt ihn auf.
Er verschränkte seine Finger in Lloyds und leitete die Hand sanft von seinem Kragen fort und auf den Oberkörper des Elfen. „Manchmal", antwortete er auf die Frage. „Es ist ein wenig schwierig. Gefallen und verbannt bin ich zwar, doch die Güte wollte nicht ganz von mir ablassen und bringt mich in einen seltsamen Zwiespalt. Nicht ganz lebend, aber tot bin ich auch nicht. Blut fließt durch meine Adern, aber es ist kalt. Mein Herz schlägt nur selten und noch seltener mit jedem Jahr, das vorüberzieht. Niemand schreibt Bücher über mein Wesen und ich traf noch nie jemanden, der ist wie ich."
Lloyd kuschelte sich wieder an Murasakis Schulter, schloss seine Augen und murmelte: „Ich verstehe nicht, was Ihr mir sagen wollt."
„Das müsst Ihr auch nicht." Murasaki drückte leicht Lloyds Hand. „In anderen Worten: Ich bin gestorben, weil ich keinen Grund mehr zum Leben hatte."
„Das verstehe ich noch weniger." Lloyds Kraft schwand und ebenso die Schmerzen. Die Stimme so dünn, dass sie beinahe von dem Wind fortgetragen wurde.
Er spürte Murasakis Brust beben und hörte kurz darauf auch ein leises Lachen. „Ich werde Euch irgendwann alles erklären. Vielleicht. Aber vielleicht habe ich Euch auch schon alles erzählt, die größten Stationen in meinem Leben, und Ihr habt nur nicht erkannt."
Er sah zu dem regungslosen Körper in seinen Armen und zog ihn noch näher an sich. „Lebt Ihr noch?" Er hob eine Hand und schob dem Elfen eine der weißen Strähnen aus dem Gesicht. Schweiß glitzerte auf der Haut, vermischt mit Dreck und Blut. Die Adern zeichneten sich dunkel von dem Weiß ab. Besonders deutlich am Hals, doch die Schatten zogen sich auch an seinem Gesicht hoch.
Wenn er ihn mit geschlossenen Augen und dem Schlafe nah sah, dann konnte er sich kaum vorstellen, was in ihm schlummerte und sogar schon herausgebrochen war. Doch in diesem Augenblick konnte er nur Frieden in ihm erkennen. Krieg hatte sich wieder zurückgezogen. Vorerst.
„Mhm", kam von Lloyd, leise und erschöpft.
„Wer hat Euch eigentlich angegriffen?", fragte der Erzähler und legte ihm die Hand auf die Wange, stützte den Kopf und hielt ihn an seiner Schulter.
„Ich weiß nicht", hauchte Lloyd. „Konnte sie nicht sehen."
Murasaki seufzte. Einige Sekunden schwieg er, strich nur vorsichtig mit dem Daumen über Lloyds Wange. „Wenn ich Euch zurück in den Berg der Drachen gebracht habe, dann werde ich für einige Zeit nicht zugegen sein", sagte er. „Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurückkehren werde."
Lloyd versuchte die bleischweren Lider zu öffnen, aber es gelang ihm kaum. „Warum?"
„Ich muss einige Dinge erledigen", antwortete Murasaki, doch dann schwieg er wieder, ohne eine wirkliche Erklärung zu geben.
Nach einigen Augenblicken seufzte er erneut und er sagte: „Wir sollten schon mal losgehen. Dann ist mein Weg nicht mehr so lang."
„Ich kann nicht einmal aufstehen", murmelte Lloyd. „Wie soll ich dann gehen können?"
Im nächsten Moment verschwand der Boden unter ihm. Murasaki neigte ihn leicht, damit er ihm nicht aus den Armen fallen konnte.
„Solltet Ihr Euch nicht mittlerweile daran gewöhnt haben, Sweetie?", sagte Murasaki. „Meine Flügel mögen zwar gebrochen sein, aber meine Beine funktionieren noch ganz gut."
Lloyd fehlte die Kraft, um zu antworten. Er hatte die Worte nicht einmal gänzlich wahrnehmen können. Dumpf und in weiter Ferne schienen sie. Nach zwei Schritten sank sein Kopf gegen Murasakis Oberkörper und er tauchte in die Dunkelheit.
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