Ex Nihilo II
Lloyds Verstand war wie in Watte gepackt. Kein einziger Gedanke wollte sich in seinem Kopf formen. Hinter einer dichten Nebelwand hatten sich alle Worte verborgen und keines konnte sich durch die Schleier hindurchkämpfen.
Er öffnete leicht seinen Mund, drauf und dran eine Antwort zu geben. Doch auf einmal verschwand dieses seltsame Gefühl, als hätte jemand einen Schalter in ihm umgelegt.
Mit einem verächtlichen Schnauben schob Lloyd die Hände von sich. „Mein Werter." Seine Stimme klang nun rauer, fast drohend. „Wenn Euch Eure Hände lieb sind, dann behaltet sie bei Euch."
Tavarens Blick wurde nun unsicher, doch er fing sich schnell wieder.
„Hm", machte er. „An meinen Hypnosekünsten muss ich wohl noch arbeiten." Ein genervtes Stöhnen entfuhr ihm und er rückte von Lloyd ab. „Wollt Ihr Euch gleich ergeben?", fragte er. „Oder Euch vorher noch an einem Kampf wagen?"
Lloyd antwortete nicht. Plan A war vom Tisch. Plan B ebenso. Aber er hatte noch andere Möglichkeiten.
Bei der nächsten Bewegung Tavarens sprang Lloyd auf die Füße und verpasste ihm einen Tritt in die Magengegend. Der Wächter wurde nach hinten geschleudert und landete einen Meter weiter auf dem Boden.
Sal sprang sofort auf und wollte schon auf Lloyd losgehen, aber Tavaren hielt ihn auf.
„Lasst nur!" Er rappelte sich auf und klopfte den Staub aus seiner Kleidung. „Mit einem dreckigen Elfen werde ich schon allein fertig."
Tavaren hatte es also trotz Kapuze, von der die spitzen Ohren verborgen waren, erkannt. Andernfalls wäre Lloyd aber auch enttäuscht gewesen. Man stelle es sich nur einmal vor: Ein Elfenjäger, der keine Elfen erkannte.
Anstatt auf Lloyd zuzugehen, machte Tavaren nur eine Handbewegung. Nichts, das ihn viel Anstrengung gekostet hatte. Eher als würde er eine Fliege verscheuchen.
Aber diese einfache Bewegung riss den Elfen von den Füßen. Er wirbelte in der Luft herum und wurde mit einem dumpfen Aufprall gegen einen nahen Baum geschleudert. Er kam so hart auf, dass ihm alle Luft aus den Lungen entwich. Mit schmerzendem Rücken sprang er sofort wieder auf, aber nach dem Flug fand er sein Gleichgewicht nicht wieder und stürzte erneut zu Boden.
Er wagte einen weiteren Versuch, die Hände in den Boden zu stemmen, um sich zu erheben, aber Tavaren kam herbeigeeilt. Mit einem Tritt in den Bauch zwang er den Elfen wieder auf den Boden.
„Ihr bleibt unten!", befahl er ihm.
Lloyd versuchte ein weiteres Mal aufzustehen. Wieder ein Tritt. In seinem Magen zog sich alles schmerzhaft zusammen. „Unten bleiben!", ertönte Tavarens Stimme über ihm.
Er blieb am Boden. Noch mehr Tritte wollte er nicht einstecken. Ohne Zweifel würde der Wächter kein Risiko eingehen wollen, dass Lloyd eine Waffe ziehen könnte. Und außerdem hatte er keinen Grund sich weiter zu wehren. Noch verlief alles wie geplant.
Kräftige Hände packten ihn und hoben ihn gerade so viel an, dass er knien konnte.
„Was wollt Ihr von mir?", knurrte er.
„Antworten." Tavaren schob seine Hand unter Lloyds Kinn und drückte seinen Kopf gewaltsam hoch, um ihn mit seinen düsteren Augen eindringlich zu mustern. Aber der Elf starrte ebenso stählern zurück.
„Ich beiße", sagte er.
„Was?", konnte Tavaren gerade noch ungläubig lächelnd fragen, da entzog sich Lloyd schon seinem Griff und biss fest auf Tavarens Daumen. Dessen Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Er trat Lloyd gegen den Kopf, sodass der Elf von der Wucht wieder auf den Boden geschleudert wurde.
Dumpfer Schmerz pochte in seinem Schädel. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Er spuckte das Blut in das Gras und lachte leise. Das war es ihm wert gewesen.
Mit Seilen wurden seine Handgelenke hinter seinem Rücken festgezurrt.
Eine Hand drückte ihn an der Schulter in den Staub, während er durchsucht wurde. Lloyd konnte nicht sehen, wer es war, aber allein die Kraft, mit der er unten gehalten wurde, verriet ihm, dass es sich um Sal handelte. Der Hüne war bereit, ihm alle Knochen zu brechen, sollte er auch nur eine falsche Bewegung machen.
Aber Lloyd setzte sich nicht länger zur Wehr. Regungslos blieb er liegen und ließ über sich ergehen, wie ihm seine Waffen abgenommen wurden. Zumindest die Offensichtlichen. Das Messer, das er zwischen einer doppelten Sohle innerhalb seines Stiefels versteckt hatte, fand Sal nicht.
Tavaren hatte sich währenddessen abgewandt. „Bringt ihn gleich in das Zelt", sagte er zu dem Hünen. „Ich werde mich mit ihm unterhalten."
„‚Unterhalten' heißt es je—" Die nächsten Worte konnte Lloyd nicht mehr hervorbringen, weil Sal seinen Kopf in das Gras drückte. Der Elf presste seine Lippen zusammen, damit er keine Erde in den Mund bekam.
„Seid vorsichtig mit ihm. Ihr brecht ihm noch alle Knochen", sagte Tavaren. Aber kein Hauch von Fürsorge schwang in seiner Stimme mit.
Doch die Hand, die Lloyds Kopf nach unten drückte verschwand, sodass er sein Gesicht aus der Erde drehen konnte. Er sah, wie Tavaren von ihm fortging und im Inneren eines Zeltes verschwand.
Aber dann wurde er am Arm gepackt und auf die Füße gezogen. Sal brachte ihn in ein anderes Zelt, kettete ihn dort an einen Pfosten und trat wieder nach draußen.
Für einige Augenblicke stand Lloyd verloren in der Mitte des Zeltes, ehe er sich im Schneidersitz auf den staubigen Boden setzte. Er schloss die Augen und wartete.
Schon nach wenigen Minuten hörte er Tavarens Stimme vor dem Eingang, aber was genau dieser sagte, verstand er nicht. Nur einige Wortfetzen. „Elf", „Spion", „Leandras". Diese wenigen Worte reichten, damit er sich ein sehr genaues Bild davon machen konnte, welche Vermutung der Wächter hegte.
Er holte tief Luft und öffnete seine Augen. Gerade rechtzeitig, bevor Tavaren eintrat. In seiner Hand hielt er ein kleines Büchlein und einen Stift. Genau dieses Büchlein fixierte Lloyd mit seinem Blick, als der Wächter näherkam. Er wusste, was jetzt geschehen würde und bereitete sich innerlich darauf vor.
Für jeden anderen hätte Lloyd sich vielleicht die Mühe gemacht aufzustehen, aber hier, in dieser Situation blieb er sitzen. Er änderte nur die Position. Aus dem wenig bequemen Schneidersitz löste er ein Bein, stellte den Fuß auf und zog das Bein an. Eine Tat, die ihn zwang, seinen Oberkörper leicht zurückzubewegen, bis er sich an dem Pfosten anlehnte. Unglücklicherweise klemmte er sich dabei seine Hände ein, die hinter seinem Rücken gefesselt waren. Aber sich nun noch einmal anders hinzusetzten? Daran dachte Lloyd nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er rührte sich nicht und hoffte nur, dass der Wächter bald wieder verschwinden würde.
Tavaren blieb vor ihm stehen und schlug das Büchlein auf.
„Ist ‚Lloyd' Euer richtiger Name?", fragte er. Er nahm den Stift auf und setzte ihn an der Buchseite an.
Lloyd nickte nur. Seine Stimme sparte er sich für den Zeitpunkt, wenn er sprechen musste. Und darauf musste er nicht lange warten.
Denn nachdem Tavaren Name: Lloyd auf die Seite geschrieben hatte, fragte er: „Wie alt seid Ihr?"
„Dreiundzwanzig", antwortete der Elf.
„Dreiundzwanzig?"
„Nicht alle Elfen sind hunderte von Jahren alt", sagte Lloyd und zuckte mit den Schultern. Doch er bemerkte schnell, dass es ein Fehler war, denn dadurch quetschte er seine Handgelenke noch weiter. In einer schlichten Bewegung setzte er sich wieder in den Schneidersitz.
„Ist der Boden unbequem?", fragte Tavaren. Lloyd stockte. Er hatte gehofft, dass der Mensch es nicht bemerken würde.
„Findet es doch selbst heraus." Lloyd presste in Unmut die Lippen aufeinander. Er hatte so sehr versucht, es zu verheimlichen, dass er nun schmollte, da der Wächter es herausgefunden hatte.
Er hatte es in Missmut gesagt. Umso überraschter war er, als Tavaren sich gegenüber von ihm hinsetzte.
„Wirklich unbequem", sagte er. Dann zuckten seine Mundwinkel. „Aber wenigstens muss ich hier nicht schlafen."
Lloyd antwortete nicht und betrachtete sein Gegenüber nur stumm. Dieser Mensch zerrte schon jetzt an seinen Nerven.
„Aber nun weiter", sagte Tavaren. „Ihr seid nicht wirklich aus dem Imperium."
„Was lässt Euch das glauben?" Lloyd tat unschuldig. „Würde ich Euch etwa anlügen?"
Tavaren neigte seinen Kopf leicht. „Aus Everas also", schlussfolgerte er. „Schickt Leandras Euch, um mir auf die Nerven zu gehen?"
„Ohne Zweifel hat Leandras Besseres zu tun, als sich mit einem Menschen zu beschäftigen", gab Lloyd zurück.
„Nur ein Mensch?", hakte Tavaren weiter. „Mir scheint, Ihr habt Eure Hausaufgaben nicht richtig gemacht."
„Oh? Wirklich?" Lloyd bemühte sich, so viel Erstaunen in seine Stimme zu legen, wie er nur konnte.
Tavaren nickte. „Ich bin der Wächter von Kastolat, wisst Ihr. Die rechte Hand des Herzogs und dessen erster Berater." An diesem Punkt war es für Lloyd unmöglich zu glauben, dass Tavaren nicht wusste, wer er war. Doch er entschied sich, mitzuspielen.
„Wow, dass ich mal den Wächter höchst selbst treffen würde. Ich dachte immer, es wäre so ein alter Mann, der kaum mehr richtig laufen kann, nachdem ihn ein Pfeil ins Knie traf."
Tavarens Blick verdunkelte sich. Mit der Erwähnung seines Vaters hatte Lloyd einen wunden Punkt bei ihm getroffen.
Ohne auf ihn einzugehen, sah Tavaren zurück in das Buch und vervollständigte die Notizen. Kopfüber versuchte Lloyd mitzulesen.
Tavaren notierte die 23, die der Elf ihm zuvor genannt hatte. Hinter Everas schrieb er ein Fragezeichen. Ebenso hinter Leandras.
Sein Blick schweifte kurz zu Lloyd. Dieser hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt. Wie auch mit seinen angeketteten Händen. Unschuldig blickte er zurück, als hätte er nicht jedes der aufgeschriebenen Worte akribisch genau mitverfolgt.
Tavaren sah zurück in das Buch. Helle Haare, graue Augen notierte er.
Doch das war ein wenig geschmacklos, um Lloyds Äußeres zu beschreiben. Haare, weiß wie der Schnee im tiefsten Winter, der jeden unglücklichen Reisenden sofort gefrieren lässt. Augen, von der Farbe des Morgennebels, doch nicht verschleiert oder trüb, sondern lebhaft und sogar feurig. So feurig, dass die Funken auf jeden, der ihm zu nahe kam, übersprangen und ihn mit einem einzigen Blick in Flammen aufgehen ließen. Kein einziger Makel verunreinigte das formschön geschnittene Gesicht. Keine Narbe und nicht einmal ein Muttermal durchbrach die weiße Haut.
Kaum dass Tavaren seine Beschreibung von Lloyd – wenn man es so nennen möchte – fertiggestellt hatte, stockte er.
Er legte den Stift in das Büchlein und klappte es zu, ehe er das Gesicht des Elfen noch einmal genauer musterte. Halb setzte er sich auf und schob wie zuvor seine Hand unter dessen Kinn. Lloyd behielt den Gedanken, dass er Tavaren erneut beißen könnte, im Hinterkopf, aber zunächst wollte er wissen, was der Wächter in ihm gesehen hatte.
Eindringlich starrte Tavaren ihm in die Augen, suchte etwas in den hellgrauen Tiefen. Dann, als er es gefunden hatte, schweifte sein Blick weiter zu den spitzen Ohren.
„Ihr seid ein Halbblut", stellte er schlussendlich fest.
Lloyd entzog sich seinem Griff und wandte sein Gesicht ab. „Was Ihr nicht sagt."
„Das macht die ganze Sache natürlich schwieriger."
„Inwiefern?", hakte Lloyd nach. Er wusste die Antwort, aber er wollte sichergehen, dass Tavaren dasselbe meinte. Dass er auch wusste, dass er Lloyd nicht ohne Weiteres am nächstbesten Baum aufknüpfen konnte. Nun ... konnte vielleicht schon, aber er durfte es nicht. Und er würde es nicht tun, wenn ihm irgendetwas an seinem Posten lag.
Zwar gab es Mittel und Wege – die Tavaren durchaus kannte – um sich aus diesen Regelungen herauszuwinden, doch bei allem, was Lloyd über ihn gehört hatte, war er davon überzeugt, dass der Wächter diese Schlupflöcher nicht nutzen würde.
Tavaren richtete sich auf, ohne die Frage zu beantworten. Er klopfte sich den Staub aus der Kleidung und wandte sich zum Gehen.
Lloyd hielt es nicht für notwendig ihn aufzuhalten. Als Tavaren aber den Ausgang des Zeltes schon fast erreicht hatte, drehte er sich noch einmal zu dem Elfen um.
„Lloyd", sagte er. „Glaubt mir oder glaubt mir nicht, aber ich bin kein ungerechter Mann. Ich beschütze diejenigen, die meinen Schutz benötigen. Ich gebe denen zu essen, die Essen brauchen und ich töte jene, die den Tod verdienen. Ich hoffe ehrlich, dass Ihr nicht zu Letzteren gehört."
Damit drehte er sich wieder um. „Ihr solltet schlafen", sagte er, als er die Plane, von der die Öffnung des Zeltes versperrt war, anhob. „Wir brechen morgen auf."
Nachdem Tavaren das Zelt verlassen hatte, wartete Lloyd noch einige Augenblicke, ehe er seinen Kopf gegen den Pfosten lehnte und tief ausatmete. Er schloss seine Augen. Wenn er richtig lag, musste er diese Tortur noch drei Tage lang erdulden. Sich drei Tage lang von diesem Menschen herumschubsen lassen.
Er öffnete seine Lippen zu einem lautlosen Seufzer und hoffte inständig, dass er falsch lag. Dass die Reise nur zwei Tage dauern würde und er schnell wieder befreit wäre.
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