Ein Blick in den Abgrund II
Lloyd hätte gerne tief Luft geholt, aber der Rauch machte ihm dies unmöglich, falls er sich nicht auf Übelkeit einstellen wollte. Er zog den Vorhang beiseite und ging raschen Schrittes auf die Tür zu. Weit kam er jedoch nicht.
„Er will Euch sehen", ertönte eine Stimme neben ihm. Lloyd machte einen Satz zur Seite. Er hatte auf Schritte gelauscht, doch nicht gesehen, dass sich der Schatten unbewegt in der Mitte des Raumes aufgehalten hatte.
„Warum?", fragte Lloyd. Er wollte das Haus so schnell wie möglich verlassen. Schon jetzt vernebelte der Qualm seinen Verstand.
„Das weiß nur er", antwortete der Schatten. Er griff nach Lloyds Arm und zog ihn hinter sich her. Der Elf kämpfte zunächst noch dagegen an, gab aber schließlich unter schwächer werdenden Kräften auf.
Und so fand er sich, ehe er sich versah, in dem Zimmer im Obergeschoss wieder. Der Meisterdieb saß auf seinem Sofa, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen.
Das Geräusch der zufallenden Tür nahm Lloyd alle Hoffnung, dieser Situation entkommen zu können.
Ejahl hob seinen Kopf an. „Ihr... seid... zurück..." Die Worte kamen langsam und unbetont aus seinem Mund. Als sei er noch an einem weit entfernten Ort, kippte sein Kopf zurück nach hinten und ließ sich von der Lehne tragen.
Ejahl machte es für Lloyd sehr offensichtlich, dass er zwar vielleicht seinen Leuten gesagt hatte, sie sollten ihn zu ihm bringen, wenn er zurück war, aber gleichzeitig, dass er nicht erwartet hatte, ihn so früh bei sich zu sehen.
„Fuuu-..."
Lloyd verschloss seine Ohren vor dem Ende des Fluches. „Weswegen wolltet Ihr, dass ich herkomme?", fragte er.
Wortlos hob Ejahl eine Hand ein Stückchen an und deutete auf den freien Platz neben sich. Aber Lloyd hatte aus der letzten Begegnung gelernt. Er rührte sich nicht von der Stelle.
Der Meisterdieb hob seinen Kopf wieder an. „Der Mann dort hinter Euch... Seht Ihr ihn auch?", fragte er.
Lloyd wirbelte herum, aber dort stand niemand. „Nein", sagte er und wandte sich wieder zu Ejahl.
Der legte seinen Kopf wieder auf die Lehne. „Ich verstehe... Schon seltsam, wenn die Person, mit der man sich seit einer halben Stunde unterhält, gar nicht da ist..."
Lloyd schluckte. Er kannte sein Gegenüber nicht, aber in seinem Herzen regte sich ein Funken Mitleid für diesen Menschen.
„Wollt Ihr noch einmal in die Tunnel?", fragte Ejahl.
Der Elf nickte. „Ein paar Mal werde ich wohl noch hineingehen müssen."
„Was gebt Ihr mir dafür, Prinz?"
Lloyd schluckte. Einige Augenblicke vergingen in Stille, dann hob Ejahl erneut seine Hand und deutete auf das Polster neben sich.
„Ich gebe Euch irgendetwas anderes. Nur das nicht.", antwortete Lloyd.
„Huh." Ejahl hob seinen Kopf. „Ich will nichts anderes. Also kommt her oder vergesst unsere Abmachung." Die Worte, so kratzig sie auch klangen, waren mit Nachdruck gesprochen.
Kurz haderte Lloyd mit sich, ob er einfach gehen und einen neuen Weg in die Katakomben finden sollte, doch er hatte schon fast jeden Zugang abgesucht. Und daher – nur daher – ging er zu dem Meisterdieb und setzte sich auf das Sofa.
Ejahl rückte ein Stück an Lloyd heran, bis er ihm seinen Arm um die Schulter legen konnte, um ihn zu sich zu ziehen.
Der Rauch haftete fest an Ejahls Kleidung. Tief war er in den Stoff gezogen und hatte sich dort eingenistet. Übelkeit, ausgelöst durch den Geruch, stieg in Lloyd auf. Der Rauch kratzte in seiner Kehle, aber er unterdrückte ein Husten.
„Warum wollt Ihr dies?", fragte Lloyd. Solch eine zwielichtige Gestalt könnte schließlich vieles andere verlangen, dass ihm eher helfen würde.
„Weil Ihr es nicht geben wollt", antwortete der Meisterdieb.
„Und das ist der einzige Grund?"
Ein trockenes Lachen kroch aus Ejahls Kehle. Er lehnte sich ein Stück zu dem Elfen. „Natürlich." Der warme Atem traf auf Lloyds Wangen und löste eine Gänsehaut aus, die ihm den Rücken herunterrann.
Die letzten Zentimeter zog Ejahl ihn zu dem Kuss heran. Er schloss die Augen und ließ die Tat über sich ergehen, denn auch wenn sie ihm missfiel, so war Ejahl doch vorsichtig. Er drückte nur leicht seine Lippen auf Lloyds, nicht so, als hätte er unlautere Motive, sondern eher, als täte er es nur als einfache Bezahlung, damit der Elf weiterhin die Katakomben begehen könnte.
Die Übelkeit verschwand langsam, doch nun machte sich Benommenheit an ihrer Stelle breit. Alle Kraft verschwand aus dem Körper. Wärme breitete sich um Lloyds Herz herum aus. Seine Sorgen schienen weit entfernt und sogar kaum mehr existent zu sein.
Doch der Nebel hatte seinem Verstand noch nicht so sehr umschlungen, dass er das Klicken der sich öffnenden Tür ausblendete. Jemand hatte den Raum betreten.
Lloyd riss erschrocken die Augen auf. Er wollte seinen Kopf drehen, den Kuss unterbrechen und schauen, wer der Ankömmling war, doch er hatte seine Rechnung ohne Ejahl gemacht.
Eine Hand vergrub sich in den weißen Haaren und hinderte ihn, sich abzuwenden. Ejahl neigte seinen Kopf leicht, damit – wer auch immer dort angekommen war – einen möglichst guten Blick auf die beiden hatte. Und als er dies sichergestellt hatte, vertiefte er den Kuss.
Lloyd erstarrte für einen Augenblick. Hatte er doch gerade noch gedacht, dass es gar nicht so schlimm war, so verschlechterte sich seine Lage nun drastisch. Nicht nur, wusste er nicht, wer ihn beobachtete, er konnte sich auch kaum gegen Ejahl wehren. Kraftlos wollte er den Meisterdieb von sich schieben, doch jeder seiner Versuche war vergebens.
Nur wenige Sekunden vergingen, doch für ihn fühlten sie sich an wie Stunden. Erst dann ließ Ejahl von dem Elfen ab. Er rückte gleich ein Stückchen zurück und griff seine Pfeife fester, damit Lloyd sie ihm nicht aus der Hand schlagen konnte und sie kaputt ginge wie die letzte.
Seinen Blick richtete er auf den Neuankömmling und überschlug die Beine. „Wächter, welch ein überraschender Besuch."
‚Wächter'... Dieses Wort hallte noch einige Augenblicke nach, ehe Lloyds Verstand ganz greifen konnte, was es bedeutete. Ihm gelang es kaum den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Langsam drehte er sich um. Er hoffte inständig, dass Ejahl ihm einen Streich gespielt hatte und Tavaren nicht wirklich den Kuss hatte mitansehen müssen.
Doch der Meisterdieb hatte nicht gelogen. Dort stand Tavaren. Seine Mimik wechselte zwischen Ungläubigkeit, leichter Wut, Entsetzen und Verletztheit. Seine Augen wanderten von Lloyd zu Ejahl und von Ejahl zurück zu Lloyd.
„Das—", setzte er an, doch er sprach nicht zu Ende. Stattdessen drehte er sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer.
Lloyd sprang auf seine Beine und folgte ihm. Auf Ejahl achtete er gar nicht weiter. Aber als er wieder auf der Straße stand, war von Tavaren keine Spur mehr. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Noch eine Weile lang versuchte Lloyd ihn zu finden, aber als er nach einer Stunde immer noch durch die Straßen irrte, kam ihm ein Gedanke. Weshalb kümmerte es ihn so sehr, dass Tavaren das mitangesehen hatte?
Und so brach er die Suche ab und kehrte zum Gasthaus zurück. Die Menschen, die sich dort tummelten, beachtete er kaum. Hastig stieg er die Treppe herauf und verbarrikadierte sich in seinem Zimmer.
Wahllos griff er sich eine seiner Notizen, die sich mittlerweile über den gesamten Boden verteilt hatten und riss eine Ecke ab. Darauf verfasste er eine kurze Nachricht in seiner Muttersprache:
Es ist Zeit.
Seine Verbündeten wussten, was er damit meinte.
Er entzündete eine Kerze und hielt das kleine Zettelchen in die Flamme. Sofort wurde es von dem Feuer verschlungen und ließ keine Spuren zurück.
Jetzt hieß es warten. Sein Teil war erfüllt. Aber nun... was nun?
Lloyd warf sich rücklings auf das Bett. Er verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und starrte die Decke an. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und einen Plan zu fassen, wie es weitergehen sollte, doch immer wieder entfloh ihm sein Verstand und schweifte zu dem Wächter.
Dies passierte einige Male, ehe er hochschreckte. Eine Sache war ihm entfallen: Tavaren hatte immer noch das Medaillon.
Er schwang sich aus dem Bett und war kurz davor, sein Zimmer zu verlassen, da stockte er. Kastolat war groß. In der letzten Stunde hatte er versucht den Wächter zu finden, doch es war ihm nicht gelungen.
Diese Gedanken schüttelte er schnell aus seinem Kopf. Irgendwie musste er schließlich anfangen, die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Und wenn er jeden Stein einzeln umdrehen und jedes Staubkorn hochheben musste, irgendwann würde er Tavaren finden.
Und so trat er aus dem Zimmer. Er hatte die Tür noch nicht ganz hinter sich geschlossen, da erklang eine Stimme neben ihm.
„Wir sind jetzt wohl Nachbarn." Vor Schreck hüpfte Lloyd einen Schritt zu Seite. Er sah in warme dunkelbraune Augen, die ihm fröhlich entgegenstrahlten. Camille. Die Frau, die am ersten Tag, als er in Kastolat angekommen war, hier in dem Gasthaus mit Sal geredet hatte. Wenn er richtig vermutete, dann war auch sie in der Gefolgschaft des Wächters oder kannte ihn zumindest.
„Ich bin Camille", stellte sie sich vor.
Beinahe sprach der Elf das ‚Ich weiß', das ihm für einen Bruchteil einer Sekunde in den Gedanken aufgeblitzt war, aus, doch er hielt es rechtzeitig zurück und nannte ihr stattdessen seinen Namen: „Lloyd."
„Nun, Lloyd", fing sie an. „Wollt Ihr mich vielleicht begleiten? Die Straßen sind so gefährlich, da hätte ich nichts dagegen, wenn so ein großer und starker Mann wie Ihr, mich beschützen würdet." Sie hüpfte einen Schritt auf ihn zu.
„Äh..." Lloyd wich ein Stück zurück und hob abwehrend die Hände, aber Camille schnappte sich seinen Arm, sodass er nicht mehr entkommen konnte.
Sie fuhr mit den Fingerspitzen unter sein Hemd und hob es an. Einen Augenblick starrte sie wie gebannt auf die freigelegte Haut.
Lloyd öffnete seinen Mund, aber alles, was aus ihm kam, war Gestammel, also schloss er ihn wieder. Seine Ohren erhitzten sich und liefen rot an. Er räusperte sich, um Camille deutlich zu machen, dass diese Tat nicht angemessen war, aber sie sah nur kurz auf, ehe sie wieder hinabblickte und ihn weiter mit großen Augen anstarrte.
„Ihr seht so schlaksig aus, da hätte ich nicht gedacht, dass Ihr unter Eurer Kleidung so muskulös seid", sagte sie. „Mit dem Körper kann ich Euch leicht einen Job verschaffen." Sie hob sein Hemd noch ein Stückchen weiter, um einen besseren Blick zu bekommen.
Doch diese Tat war es, die Lloyd aus seiner Starre riss. Er zog seinen Arm aus dem Griff und nahm sein Hemd aus Camilles Hand.
Leicht schmollend wandte sie sich ab. „Dann nicht", sagte sie und ließ den Elfen mit einem großen Fragezeichen im Gesicht zurück.
Warum, fragte er sich, warum waren in dieser Stadt alle, ausnahmslos alle Menschen so. Und nun stiegen Schuldgefühle in ihm auf. Er wusste zwar nicht, was genau er falsch gemacht hatte, doch vielleicht hatte sich auch die gesamte Spezies der Menschen grundlegend verändert, während er abwesend war. Dann musste er aber unbedingt seine verbündeten Elfen warnen, damit sie nicht mit ebensolchen Ereignissen konfrontiert wurden, falls sie sich zu den Menschen wagten.
Doch nun rannte er Camille erst einmal hinterher. Sie war momentan die einzige Chance, wie er Tavaren finden konnte. Wenn der Preis dafür nur ein wenig unangebrachtes Anstarren war, könnte er es vertrösten. Denn – und dies ist eine Sache, die er niemals zugeben würde – ein wenig gefiel es ihm schon, bewundert zu werden.
Nur wenige Meter auf der Straße holte er sie schon ein.
„Ihr wolltet doch, dass ich Euch begleite", sagte er. „Weshalb rennt Ihr dann einfach so fort?"
Ein Lächeln breitete sich auf Camilles Gesicht aus. „Und ich dachte schon, ich hätte Euch vergrault. Aber Ihr scheint doch ein dickeres Fell zu haben, als ich erst vermutet hatte."
Jetzt realisierte er, dass sie nur überprüft hatte, ob er ihr folgen würde, selbst wenn sie eine solch unangemessene Tat vollbracht hatte. Und die Antwort darauf war ‚Ja'. Er ließ sich nicht so einfach abschrecken.
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