Ein Blick in den Abgrund I
Lloyd stand vor dem heruntergekommenen Haus. Eine Weile hatte er überlegt, ob er wirklich zurückkehren sollte. Doch er hatte keine andere Wahl.
Einmal holte er noch tief Luft, ehe er eintrat. Sofort schlug ihm der Qualm entgegen, der gleich darauf seine Lungen schmerzen ließ.
„Ihr seid zurück." Er zuckte bei der Stimme leicht zusammen. Aus den Schatten löste sich Ejahls Gestalt, in der Hand eine Pfeife. Aber es war nicht dieselbe wie am vorherigen Tag, sondern eine aus dunklem Holz ohne Verzierungen mit einem langen silbernen Mundstück. Lloyd sah die Farbe in dem spärlichen Licht nicht genau und es kümmerte ihn auch wenig, ansonsten hätte er bemerkt, dass das Holz nicht nur ‚dunkel' war. Ein leichtes Lila schlich sich durch die Maserung.
Mit einer Handbewegung deutete Ejahl dem Elfen an, ihm durch den Raum zu folgen. Zögerlich ging Lloyd ihm nach. Er sah die Schatten, die durch die Dunkelheit huschten oder ihn nur regungslos beobachteten.
Ejahl schob einen Vorhang beiseite und legte eine Treppe, die in den Keller führte, frei. Diese Stufen schritt er nun herab. Seine Hand legte er dabei an die Wand, um sich abzustützen.
Der Keller war schmucklos und ebenso dunkel wie der Rest des Hauses. An den Wänden befanden sich zwar Fackelhalter, aber Ejahl sah davon ab, sie zu besetzen.
Er brachte Lloyd vor eine weitere Tür, die aus stabilem Holz gefertigt und mit Eisen verstärkt war. Mit einem kraftvollen Ruck zog er sie auf. Dahinter kam eine weitere Treppe zum Vorschein. Kalte Luft trat über die Schwelle und ließ Lloyd frösteln.
„Geht die erste Abbiegung rechts", sagte Ejahl. „Dort findet Ihr eine Laterne in einer Nische. Direkt hinter der Abzweigung, also geht nicht daran vorbei. Dann kehrt auf den Hauptweg zurück und folgt weiter der Treppe, bis ihr in den Tunneln angekommen seid."
Ejahl trat einen Schritt von der Tür zurück, um dem Elfen die Möglichkeit zu geben, ohne Sorge die Katakomben zu betreten.
Lloyd war schon fast an ihm vorbeigegangen, da ergriff Ejahl erneut das Wort. „Bevor ich es vergesse, heute solltet Ihr ein wenig vorsichtiger dort unten sein. Ihr könntet nicht allein sein."
Der Elf schluckte bei dieser Warnung, aber als er sich umdrehte, um Genaueres zu fragen, hatte Ejahl sich schon abgewandt. Die Worte kamen ihm nicht schnell genug aus dem Mund, sodass der für Lloyd Fremde wieder im Erdgeschoss verschwunden war, ehe er etwas sagen konnte.
Und so kehrte er sich zu der Dunkelheit um. Nun gab es einen zweiten Menschen, der ihm half, ohne dass er den Grund dafür wusste. Er holte tief Luft und trat in die Tunnel.
Wie Ejahl gesagt hatte, befand sich die Laterne in einer Nische. Lloyd entzündete sie sogleich mit einem Zündholz. Gestern hatte er nämlich nur eine der unzähligen Schachteln mitgenommen, die er für die Reise zur Verfügung hatte.
Wenige Minuten später stand er schon in den Tunneln. Die Laterne in der einen Hand, die Karte der Katakomben in der anderen, machte er sich auf den Weg.
Er lief einige Minuten durch die düsteren Gänge. An der nächsten Abzweigung blieb er stehen und blickte auf die Karte. Er musste in der Nähe des Gesindeviertels sein. Wenn er nach links abbiegen würde, käme er unter die Oberstadt und zur Residenz des Herzogs. Dort wollte er hin.
Er wandte sich nach links, doch ehe er losging, hörte er Stimmen. Ein Fackelschein erleuchtete den rechten Korridor. Ein kurzer Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Genau davor hatte der Meisterdieb ihn gewarnt.
Schnell löschte er die Laterne und quetschte sich in eine Nische, die eigentlich für die Aufbewahrung der Toten gedacht war. Aber lange schon wurden die Bürger Kastolats nicht mehr in den Katakomben bestattet. Vor etwa zwei Jahrhunderten hatten die Menschen damit aufgehört. Nicht weil die Katakomben keinen Platz mehr boten, sondern weil damals das erste Mal ein Krieg ausbrach und die Menschen erkannten, dass Knochen ein durchaus hilfreicher Baustoff waren.
Lloyd schüttelte sich bei dem Gedanken, aber er fing sich schnell wieder. Denn die Stimmen wurden lauter und der Fackelschein kam näher. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.
„Das ist absolut barbarisch", sagte eine der Stimmen. Lloyds Herz zog sich noch weiter zusammen. Er kannte diese Stimme.
„Solltet Ihr, nachdem was mit Eurem Vater geschehen ist, nicht auf unserer Seite stehen, Wächter?", sagte ein anderer.
„Nur weil er von einer Gruppe Elfen ermordet wurde, heißt das nicht, dass sie alle schlecht sind."
Kurz schwiegen beide. Nur die Schritte hallten von den Wänden wider.
„Solange Ihr uns nur nicht im Wege steht, müsst Ihr uns nicht helfen", sagte nun der, den Lloyd nicht kannte.
Der Elf spürte ein Kribbeln an seinem Fuß. Er wusste nicht, ob er es sich nur einbildete und er konnte nicht nachsehen, weil die Nische zu eng war, um sich umzudrehen. Daher zwang er sich, es zu ignorieren. Ein leises Piepsen hörte er, doch auch dies blendete er aus.
Das Licht und die Schritte kamen näher. Scharfer Schmerz fuhr in seinen großen Zeh. Instinktiv trat er nach der Ratte, die sich gerade daran gemacht hatte, an ihm zu knabbern.
Getroffen von dem Tritt gab sie ein lautes Quieken von sich. Die Menschen hielten an. Sie waren direkt vor seiner Nische angekommen.
Lloyd erkannte den Wächter an dessen Rüstung. Wenn Tavaren nämlich im Dienst unterwegs war, trug er eine Armschiene, in die das Wappen von Kastolat eingeprägt war. Ein Griffon, der seine Flügel ausbreitete, um die Stadt zu schützen.
Begleitet wurde Tavaren und derjenige, mit dem er gesprochen hatte, von mehreren Wachen.
„Habt Ihr das gehört?", fragte einer der Menschen.
Lloyd hielt sich die Hand vor den Mund und kroch noch tiefer in seine Nische hinein. Doch besonders weit kam er nicht. Der kalte Stein versperrte ihm den Weg.
Tavaren wandte sich zu der Nische. Lloyd hielt den Atem an. Er presste sich gegen die Felswand, zog sich seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und blieb regungslos liegen. Er fluchte in sich hinein und sah, wie der Wächter sich zu der Nische beugte und mit der Hand in der Dunkelheit tastete. Dabei streifte sie die Schulter des Elfen.
Lloyds Herzschlag setzte kurz aus. Für einen Moment schien die Zeit stehenzubleiben, als wollte das Schicksal ihm in dieser Sekunde die Chance zur Flucht ermöglichen. Doch einen Wimpernschlag später verließ das Schicksal seine Seite und kehrte ihm den Rücken zu.
Denn die Zeit verging wieder. Die Hand griff erneut in die Dunkelheit, traf wieder seine Schulter. Nun war seine Hoffnung verschwindend gering. Tavaren hatte ihn bemerkt. Etwas anderes konnte er sich nicht einreden.
Die Hand piekte in seinen Arm, überprüfte nun ein drittes Mal, ob in der Nische jemand lag. Lloyd rührte sich nicht. Wie ein Tier, dass sich totstellte, damit der Angreifer von ihm abließ.
Doch seinen Plan hatte er erdacht, ohne an Aasfresser zu denken.
Tavaren tastete nach Lloyds Kapuze und zog sie ihm vom Kopf. Der leichte Schimmer der weißen Haare, die das Gold des Fackellichts auffingen, durchbrach die Finsternis. Der Wächter sah ihm direkt in die Augen. Ebenso erschrocken starrte Lloyd zurück. Das war das Ende.
Doch Tavaren deckte den Elfen wieder mit der Kapuze zu, verbarg ihn vor den Augen der Menschen. Er griff nach einer Ratte, die gerade genüsslich an Lloyds Umhang knabberte.
Lautstark protestierte sie und wand sich in seiner Hand. Tavaren drehte sich zu den anderen Menschen um und zeigte ihnen das Nagetier.
„Nur eine Ratte", sagte er und ließ das Tier wieder laufen. „Wir sollten weitergehen."
Lloyd sah den Menschen dabei zu, wie sie sich entfernten. Er blieb noch eine Weile dort liegen. Auch als die Schritte schon lange verklungen und das Licht verschwunden war.
Erst als er bemerkte, dass die Ratten seine Regungslosigkeit wieder ausnutzten, kroch er hervor. Der Gang war still und dunkel.
Er holte seine Laterne aus dem Versteck und zündete sie erneut an. Dann bog er nach links ab, der Weg zur Residenz des Herzogs.
Vorsichtig schlich er durch den Gang. Über Tavaren wollte er gar nicht nachdenken. Für dessen Hilfe wusste er nur eine Erklärung. Der Wächter wollte, dass er ihm vertraute, um an seine Pläne zu gelangen. Es konnte keinen anderen Grund geben.
Er riss sich gerade noch rechtzeitig aus seinen Gedanken. Beinahe hätte er die Abzweigung verpasst, die zur Herzogsresidenz führte.
Fackelhalter ohne Fackeln erkannte er in dem schmalen Gang. Er betrat ihn. Schon nach wenigen Augenblicken gelangte er an eine Treppe, die sich in die Höhe schraubte. So leise, wie er nur konnte, schlich er hoch. Er befürchtete, seine Schritte könnten in dem Keller der Residenz zu hören sein, falls er zu laut war.
Am Ende der Wendeltreppe versperrte eine Holzwand seinen Weg. Er fuhr mit den Fingerspitzen an dem Rahmen entlang. Ein leichter Luftzug schlängelte sich durch die schmalen Ritzen zwischen dem Stein und dem Holz, doch einen Schalter konnte er von dieser Seite aus nicht finden. Hatte man einmal diesen Weg betreten, so gab es kein Zurück.
Das Holz war nicht allzu massiv. Mit dem richtigen Werkzeug könnte man es zerschlagen. Jetzt wäre es jedoch zu auffällig. Dafür musste er warten, bis die Nacht hereingebrochen war. Oder sogar, bis zum Tag seines Auftrages. Dann würde niemand Verdacht schöpfen, weil die Tür eingeschlagen war.
Er wandte sich ab. Den Weg hatte er gefunden, sein Teil war nun beendet. Noch heute sollte er seinen Verbündeten eine Nachricht schreiben. Sie würden ohnehin noch zwei oder drei Tage brauchen, ehe sie hier ankamen.
Hastig eilte er aus den Katakomben. Die Laterne stellte er in genau derselben Nische ab, aus der er sie genommen hatte. Die Tür zu dem Haus hatte er schnell gefunden und so stand er nur wenige Sekunden später vor dem Vorhang, der die Treppe vor fremden Augen schützte.
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