Die Wahrheit hinter den Lügen
„Ja, ich, Sweetie", antwortete Murasaki. So weit sich Lloyd auch gegen den Stein presste, er konnte den kalten Atem auf seiner Haut spüren.
Lloyd verzog das Gesicht. Er hätte die Templer bevorzugt.
Sein Blick wanderte an dem Erzähler entlang. Es waren einige Monate vergangen, seit er ihn zuletzt gesehen hatte, aber er hatte sich kein Stück verändert. Der violette Schimmer umschloss immer noch seine Haare. Das höhnische Schmunzeln trug er wie immer auf den Lippen. Dann noch diese seltsame Robe mit den viel zu weiten Ärmeln. Und die goldenen Augen, die ihn ohne ein Blinzeln betrachteten.
Sein Blick blieb an Murasakis Kragen hängen. Die Robe, die er heute trug, war ein wenig weiter ausgeschnitten als sonst. Nur wenige Zentimeter. Es machte kaum einen Unterschied. Lloyds Blick wanderte an der Kleidung entlang. Die goldenen Ornamente waren in feiner Handarbeit in den violetten Stoff gestickt. Aber lange konnte er sich nicht auf die Verzierungen konzentrieren. Seine Augen flackerten wieder zu der hellen Haut. Er schluckte. Ihm war auf einmal warm geworden.
„Nein", durschnitt Murasakis Stimme die Stille. Er legte einen Finger auf Lloyds Stirn und bohrte seinen Nagel in kreisenden Bewegungen in die Haut. „Ich weiß, was in Eurem primitiven kleinen Verstand vor sich geht. Vergesst es! Ich mag zwar nicht so aussehen, aber ich bin zu alt für Euch."
Lloyd schlug seine Hand weg und trat aus der Nische. „Ich habe an nichts gedacht", sagte er. „Was macht Ihr überhaupt hier?"
Murasaki folgte ihm. „Ich war in der Gegend", antwortete er. „Und da dachte ich mir, dass es Euch sicherlich freuen würde, mich wiederzusehen ~"
„Tut es nicht." Lloyd verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn es nur das ist, dann kann ich jetzt ja wieder gehen."
Er wollte gerade losgehen, aber Murasaki hüpfte ihm in den Weg.
„Da gibt es tatsächlich noch einen Grund, aus dem ich hier bin", sagte er.
„Ach, was Ihr nicht sagt", antwortete Lloyd.
Belustigung blitzte in den goldenen Augen auf, doch schnell wandelte sie sich in Hohn. Der Erzähler hielt Lloyd seine Hand hin. Es war offensichtlich, was er von dem Elfen wollte, aber dieser rührte sich nicht, sodass Murasaki schließlich sagte: „Gebt mir Eure Hand."
„Warum?" Lloyd machte keine Anstalten der Anweisung zu folgen.
„Ich will etwas überprüfen."
„Dasselbe wie letztes Mal?"
„Ja." Murasaki wackelte mit seinen knochigen Fingern. Der Ring aus dunklem Metall, brachte Lloyd auf eine Frage. Aber er würde sich eher erhängen, als sie auszusprechen. Er kannte Murasaki nicht ansatzweise genug, um ihn zu fragen, ob er verheiratet war.
„Gebt schon her", riss der Erzähler ihn aus seinen Gedanken. Noch halb geistesabwesend reichte Lloyd ihm seine Hand. Wie auch letztes Mal betrachtete Murasaki die Handfläche. „Bin ich nicht", sagte er. „Auch wenn ich nicht weiß, weshalb Euch das beschäftigt."
„Hm?"
Murasaki sah ihm kurz in die Augen, und widmete sich dann, ohne eine Antwort zu geben, wieder der Hand. Von den Fingerspitzen fuhr sein Blick bis hin zum Handgelenk und wieder zurück, streifte über die Haut und suchte das, was nicht gefunden werden wollte. „Das ist merkwürdig", murmelte er.
„Was sucht Ihr überhaupt?", fragte Lloyd.
„Nichts", sagte Murasaki und ließ die Hand los. „Solange es Euch nicht findet, solltet Ihr Euch davon fernhalten."
„Ich habe kein Problem damit, mich von Euch fernzuhalten", antwortete Lloyd und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. „Aber Ihr scheint, mich nicht in Ruhe lassen zu können."
Murasakis Mundwinkel zogen sich nach oben, aber statt Freundlichkeit konnte Lloyd nur Kälte sehen. „Das ist die Einstellung, die Euch ständig in Schwierigkeiten bringt", sagte der Erzähler. „Obwohl ich sagen muss, dass es sehr erheiternd war, Euch dabei zuzusehen, wie Ihr Euer Darling vor den Templern in Schutz nehmt."
„Ihr wart dort?" Vor Überraschung löste Lloyd seine verschlossene Haltung kurz auf.
„Aber selbstverständlich doch. Eine Ewigkeit wird schnell langweilig, wenn man nichts findet, was einen fasziniert.", sagte Murasaki.
Nun wurde Lloyd wieder abwehrend. Er presste die Lippen zusammen und bemühte sich, den Erzähler so kalt wie möglich anzusehen. „Und ich fasziniere Euch?"
Murasaki legte den Kopf schief und betrachtete ihn amüsiert, wie ein Erwachsener, der von der Naivität eines Kindes erheitert wird. „Ich lasse mich leicht faszinieren", sagte er. „Ihr solltet es Euch also nicht zu Kopfe steigen lassen. Darin bewahrt Ihr sicherlich hilfreichere Gedanken auf, die nicht in Fragen zu meiner Wenigkeit ertränkt werden sollten." Er schwieg kurz, als würde er auf einen Konter von Lloyd warten, aber der Elf schnaubte nur verärgert. Dann sagte Murasaki: „Ich habe ein wenig Zeit totzuschlagen. Wollt Ihr mich begleiten?"
„Nein", kam von Lloyd.
„Nein?" Murasakis Ton sprach Bände. Er war sich sicher, dass Lloyd nicht bei dieser Antwort bleiben und letztlich nachgeben würde. „Wenn Ihr nicht wollt, dann kann ich Euch nicht zwingen." Er hielt kurz inne. „Nun, könnte ich schon, werde ich aber nicht. Aber Ihr müsst zugeben, Ihr habt keinen Grund, weshalb Ihr mich nicht begleiten solltet. Ich bin mir sicher, dass Ihr nichts Besseres zu tun habt und Kematian wird Euch auch nicht fortlaufen." Er drehte sich um. „Aber wer bin ich, Euch überreden zu wollen. Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag."
Ehe Lloyd nachhaken konnte, woher Murasaki den Raben kannte, hatte er die Gasse schon verlassen. Zähneknirschend folgte er ihm. Jedes Mal, wenn er ihn sah, wurde ihm mulmig zumute und er bekam eine Gänsehaut. Irgendein Geheimnis barg der Erzähler. Etwas Düsteres, das lange schon kein Tageslicht mehr erblickt hatte.
Lloyd hatte Murasaki schnell eingeholt. Der Erzähler war noch nicht weit gekommen und ihm schien es auch, als sei er absichtlich langsam geschlendert.
„Oh, welch Überraschung", sagte Murasaki mit gespieltem Erstaunen. „Ihr habt Euch also doch entschieden, mich zu begleiten."
„Bildet Euch nichts darauf ein", gab Lloyd zurück. „Ich habe wirklich nichts Besseres zu tun."
Nur wenige Minuten gingen die beiden in der Stadt umher, bis sie an einem Haus angekommen waren. Von außen sah es ähnlich aus wie Kematians. Nur die Blumenkästen fehlten. Murasaki öffnete die Tür und hielt sie ihm auf.
Aber Lloyd zögerte und blieb einige Schritte entfernt stehen. Der Gedanke, dem Erzähler in einen geschlossenen Raum zu folgen, in dem er keine Möglichkeit der Flucht hatte, bereitete ihm Bauchschmerzen.
„Macht Euch nicht so viele Gedanken", sagte Murasaki. „Von allen Dingen, die es zu fürchten gilt, bin ich momentan Euer geringstes Problem."
Lloyd sah sich kurz um, musterte die Fassade des Hauses noch einmal genau und schob sich anschließend an Murasaki vorbei in den Flur. Auch vom Grundriss her ähnelte es Kematians Haus, aber hier konnte er weder Küche noch Esszimmer erkennen. Stattdessen türmten sich Bücherregale in allen Zimmern auf und die Bücher, die dort keinen Platz mehr fanden, stapelten sich auf dem Boden. Inmitten der Bücher standen zwei Sessel.
Auf einen der Sessel deutete Murasaki und sagte: „Setzt Euch."
Während Lloyd sich niederließ, sah er sich abermals im Raum um. So viele Bücher kannte er nur aus Bibliotheken.
Der Erzähler setzte sich ihm gegenüber, überschlug die Beine und musterte ihn dabei, wie er die Bücher bestaunte. „Über die Jahre hat sich einiges angesammelt", sagte er. „Das, was Ihr hier seht, ist nur der kleinste Teil. Und, ehe Ihr fragt, Ja, ich habe sie alle gelesen."
„Alle?", fragte Lloyd verblüfft. „Das muss Jahre gedauert haben."
Ein leises Klirren ertönte, als Murasaki anfing mit seinem Fuß zu wippen. „Nur ein paar. Zeit ist bei mir nicht gerade Mangelware."
Lloyd sah zu ihm. Fast augenblicklich hielt der Erzähler in seinen Bewegungen inne und das Klingeln verstummte. „Wie alt seid Ihr genau?", fragte der Elf. Murasaki hatte schon mehrfach sein eigenes Alter angesprochen, aber Lloyd konnte sich nicht vorstellen, dass er älter als Mitte dreißig oder vielleicht vierzig war. Und damit schätzte er schon sehr hoch.
„Ich habe irgendwann aufgehört, die Jahre zu zählen", antwortete Murasaki und begann wieder mit seinem Fuß zu wippen. „Und ich nehme Euch Eure Fragen zwar nicht übel, aber einige andere könnten sie für unhöflich halten."
Der Erzähler sagte zwar, dass er nichts gegen die Fragen hatte, aber irgendwo dämmerte es Lloyd, dass er sich zurückhalten sollte, wenn er nicht vor die Tür gesetzt werden wollte.
„Aber nun genug von mir", sagte Murasaki. „Was mit Euch geschehen ist, scheint mir viel interessanter zu sein. Ich habe schon von Eurer Verbannung gehört, aber nun frage ich mich, wie Euer Plan für die Zukunft aussieht. Wohin wollt Ihr nun? Was sind Eure nächsten Schritte?"
Lloyd sank ein wenig zusammen. „Ich... ich weiß es nicht", gab er zu. „Eigentlich wollte ich mich daran machen, die Aufgaben zu lösen, die ich bei der Verbannung bekommen habe, aber... ich weiß nicht, wo ich anfangen soll." Er zuckte zusammen. Ohne sich Gedanken zu machen, hatte er gesprochen. Die Worte waren einfach aus seinem Mund geflossen, hatten sich herauslocken lassen. Er schob seine Brauen zusammen und presste die Lippen aufeinander.
„Was gab Euer Vater Euch auf?", hakte Murasaki nach.
„Ich soll eine Rose aus Eis und einen Stein aus Feuer finden. Und die Feder eines Engels, der keine Güte mehr in sich trägt." Lloyd schob seine Brauen noch weiter zusammen. Das leise Klirren bohrte sich in seine Ohren, hallte in seinem Verstand wider und versetzte ihn gänzlich in Schwingung.
Murasaki hörte auf mit seinem Fuß zu wippen und antwortete: „Das sind in der Tat schwierige Aufgaben. Ich würde Euch nur zu gerne helfen, aber ich trage zumindest noch einen Funken Güte in mir." Das Klingeln ertönte wieder. „Habt Ihr überlegt in den Norden zurückzukehren?"
Lloyd nickte leicht. „Ich bezweifle aber, dass ich lebendig dort ankommen würde... Hier habe ich erstmal eine Unterkunft, bis sich alles gelegt hat, aber..." Wie von selbst legte sich seine Hand an seinen Hals. „Aber...", setzte er erneut an, aber seine Kehle schnürte sich zu und hinderte die Worte daran, herauszukommen.
Murasaki blieb stumm. Das Rasseln der Ketten verklang.
Lloyd stützte seine Stirn in seine Hand und schützte sich vor dem goldenen Blick. Er wollte nicht darüber sprechen, nicht an Kematian denken. An die Hand an seinem Hals. Die Zähne in seiner Haut. „Darf ich eine Weile bei Euch unterkommen?", fragte er vorsichtig. „Nur bis ich einen anderen Platz gefunden habe. Nur einen Tag oder zwei..." Er konnte kaum glauben, dass er dies gesagt hatte. Sein Mund war auf einmal trocken. Er wagte es nicht, aufzusehen.
„Bei mir?" Ein Hauch von ehrlicher Überraschung hatte sich an die Stimme geheftet. „Also, das..." Die Frage hatte ihn unvorbereitet getroffen.
„Verzeiht", sagte Lloyd. „Das war ein dummer Vorschlag." Er sah auf. Das Gold in Murasakis Augen schien lebendiger als jemals zuvor. Als hätte er kurz sein wahres Gesicht gezeigt und die Maske aus Hohn abgelegt. Und was Lloyd dahinter sah, war Unsicherheit, Angst und Schuld, die niemals vergeht, niemals abgelegt werden kann. „Ich... ich sollte gehen", sagte Lloyd, aber ehe er aufstehen konnte, ertönte ein lauter Knall und die Tür flog auf. Im Flur kam Kyrat zum Vorschein.
Augenblicklich änderte sich Murasakis Blick wieder. Die Verletzlichkeit war verschwunden und der Hohn zurückgekehrt. „Kyrat, was machst du denn hier?", fragte er. „Solltest du nicht irgendwo am anderen Ende der Welt sein?"
Kyrat funkelte ihn finster an und zeigte ihm dann mit einer Kopfbewegung an, dass er ihm in das obere Stockwerk folgen sollte.
Murasaki seufzte, stützte die Hände auf den Lehnen ab und erhob sich. „Ich fürchte, ich muss Euch kurz allein lassen. Meine Anwesenheit ist wohl unabdingbar. Macht es Euch einfach bequem. Ich bin gleich zurück." Er ging auf Kyrat zu, aber ehe er ihn erreichte, schweifte sein Blick zu einem der Regale. Er tippte mit seinem Zeigefinger auf einen der Buchrücken.
Der Junge räusperte sich, um Murasakis Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. „Jaja." Der Erzähler rollte mit den Augen. „Sei doch nicht immer so ungeduldig." Er folgte Kyrat die Treppe hoch. Nachdem eine Tür geschlossen wurde, hörte Lloyd nur noch gedämpfte Stimmen, aber konnte nicht einmal Wortfetzen verstehen. Doch er konnte unterscheiden zwischen Kyrats ruhig gesprochenen Reimen und Murasakis leicht aufgeregter Stimme.
Er stand auf und ging zu dem Buch, auf das der Erzähler gezeigt hatte. Der Buchrücken war mit zartblauen Ornamenten verziert. Er zog das Buch aus dem Regal. Die silbernen Lettern hoben sich kaum von der Farbe des Umschlages ab. Rosen aus Eis oder wie Lichtelfen den Namen ‚Eiselfen' bekamen stand als Titel geschrieben.
Lloyd wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil sich die Tür im Obergeschoss öffnete. Und kurz darauf, erklang das vertraute Klirren in seinen Ohren. Hastig stellte er das Buch zurück und setzte sich wieder auf den Sessel, noch ehe Murasaki die Treppe herunterstieg. Er wusste nicht einmal, weshalb er sich so ertappt fühlte, schließlich hatte der Erzähler ihm sehr deutlich dieses Buch zeigen wollen.
„Wie es aussieht, muss ich Euch nun rauswerfen", sagte Murasaki. „Kyrat ist heute wieder ein wenig schwierig. Aber erlaubt mir, Euch noch zur Tür zu bringen."
„In Ordnung", sagte Lloyd und stand aus dem Sessel auf. Murasaki öffnete ihm die Tür und hielt sie offen.
Ehe Lloyd ein Wort des Abschiedes sprechen konnte, sagte Murasaki, seine Stimme leicht gedämpft, aber nicht flüsternd: „Gebt mir ein paar Stunden. Ich kläre die Sache mit Kyrat und dann kann ich Euch Unterschlupf gewähren. Aber..." Unsicherheit blitzte kurz in dem Gold auf. „Ich hoffe es, kommt nicht zu spät, aber lasst mich Euch trotzdem einen Rat geben, der Euch sehr weit in Eurem Leben bringen könnte: Vertraut niemandem. Vor allem nicht denjenigen, die Euch darum bitten." Durch den ernsten Ton in Murasakis Stimme richteten sich Lloyds Nackenhaare auf.
„Heißt das," hakte der Elf zögerlich nach, „ich sollte Euch auch nicht trauen?"
Murasaki seufzte. „Setzt Euer Vertrauen in mich und ich werde es ausnutzen und Euch hintergehen."
Lloyd schluckte. Dieser plötzliche Ernst traf ihn vollkommen unvorbereitet. Aber gerade als er das gedacht hatte, legte sich wieder ein Lächeln auf Murasakis Lippen.
„Nun aber los mit Euch. Es wird schon dunkel", sagte der Erzähler. „Aber falls Ihr trotz meiner Worte zurückkehren möchtet, dann wird meine Tür Euch offenstehen." Ohne auf eine Verabschiedung von Lloyd zu warten, schloss er ihm die Tür vor der Nase.
Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden und die Zwillingsmonde standen hoch am sternenreichen Nachthimmel. Lloyd hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Er wandte sich von der Tür hab und machte sich auf den Weg zurück zu Kematians Haus.
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