Die Bürde der Krone II
Beide beeilten sich, durch die unzähligen Säulengänge zu gelangen. Jeden Augenblick könnte das Verschwinden des Herzogs bemerkt werden und Lloyd wollte ihn schon aus der Stadt wissen, wenn dies geschah.
Plötzlich hörte er Stimmen. Bis jetzt war ihnen keine einzige Wache begegnet, doch nun war eine Patrouille im nächsten Flur. Ohne zu überlegen, griff er nach Tavarens Arm und zog ihn in eine der Nischen zwischen zwei Säulen. Er legte einen Finger auf seine Lippen, um ihm anzudeuten, dass er still bleiben musste.
Jedoch kamen die Wachen nicht an der Nische vorbei. Die Schritte entfernten sich. Sie waren in einen anderen Korridor gegangen
„Ihr mögt dunkle Ecken, oder?", flüsterte Tavaren ihm entgegen.
Lloyd schnaubte. „Seid still und folgt mir einfach."
Noch einige Male mussten sich die beiden vor den nahenden Wachen verstecken. Das bestätigte Lloyds Vermutung, dass sie schon aufgeflogen waren. Er beschleunigte seine Schritte noch weiter, bis Tavaren Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten.
Um die Wachen an dem Haupteingang zu umgehen, schleuste er den Herzog durch einen versteckten Ausgang, der für die Königsfamilie als Fluchtweg offenstand. Und daher gelang es ihnen, ohne von einer Wache aufgehalten zu werden, den Palast zu verlassen. Als wollten die Zwillingsmonde ihnen helfen, verbargen sie sich hinter dichten Wolken und schenkten kein Licht.
„Seid Ihr mit einem Pferd angekommen?", fragte Lloyd.
„Mhm", kam als leiser Laut der Zustimmung von Tavaren. „Mit meinem Friesen. Glaubt Ihr er ist noch hier?"
„Mein Vater war schon immer ein Tierfreund. Er wird ihn nicht verletzt haben", antwortete Lloyd. Er führte Tavaren, so schnell er konnte, zu den Stallungen. Dabei sah er sich immer wieder um, falls ihnen jemand folgte, doch der Weg hinter und vor ihnen schien leer.
In den Stallungen war es stockfinster. Geruch nach Heu und Leder durchzog das Gebäude. Nur das Malmen und Schnauben der Pferde war zu hören.
„Da ist er." Tavaren ging an Lloyd vorbei zu einer der Boxen. Der Friese hob sofort seinen Kopf und stieß ein wohlwollendes Schnauben aus, als er seinen Besitzer erkannte. Tavaren strich ihm sanft über den Nasenrücken.
„Wir sollten uns beeilen", sagte der Prinz neben ihm. „Ich möchte Euch aus dem Wald wissen. Ihr werdet gefunden, wenn wir hier verweilen."
Tavaren nickte. Schnell holte er den Rappen aus der Box und sattelte ihn. Lloyd schleuste ihn und das Pferd aus einem unbewachten Tor.
Nachdem sich Tavaren in den Sattel geschwungen hatte, sagte er. „Lloyd, im Norden versuche ich Euren Namen reinzuwaschen. Ihr werdet für den Mord an meinem Vorgänger verantwortlich gemacht, aber ich weiß, dass das nicht Eure Tat war. Ich stoße dabei zwar auf mehr Widerstand, als ich erwartet hatte und sicherlich macht es die Tatsache, dass Ihr Leandras' Sohn seid auch nicht besser... aber Ihr könnt jederzeit zu mir in den Norden kommen. Solange ich in Eurer Nähe bin, wird keiner der Adeligen es wagen, Euch auch nur ein Haar zu krümmen."
„Ich werde darauf zurückkommen", sagte Lloyd schnell. „Aber jetzt solltet Ihr Euch beeilen. Ich wünsche Euch eine gute Reise, Tavaren."
„Eine letzte Sache noch." Tavaren stützte sich mit seinem Ellenbogen auf dem Sattelknauf ab. „Ich danke Euch. Wärt Ihr nicht gewesen, hätte ich die Stadt wohl nicht heil verlassen können."
Lloyd winkte ab. „Dankt mir nicht", sagte er. „Es ist das Mindeste, das ich tun konnte. Und nun aber los mit Euch. Und verlasst den Weg bloß nicht." Er trat einige Schritte zurück.
Tavaren nickte. „Auf Wiedersehen", verabschiedete er sich. Ihm war anzusehen, dass er noch mehr sagen wollte, aber er schwieg und nickte nur noch einmal. Dann trieb er den Friesen zur Eile.
Lloyd seufzte und sagte, als Tavaren ihn schon lange nicht mehr hören konnte: „Gehabe dich wohl."
Noch ehe er sich umdrehen konnte, noch ehe er einen Schritt machen, seine Sachen packen und für eine Weile untertauchen konnte, traf ihn ein Schlag am Hinterkopf. Er stürzte zu Boden, sah gerade noch, wie Hufe und Stiefel an ihm vorbeirauschten.
„So nutzt du deine letzte Chance?" Cahlia. Sie war zurück. Lloyd stemmte die Hände in den Boden und versuchte sich aufzurichten, doch ein Tritt gegen den Kopf zwang ihn zurück auf die kalte feuchte Erde.
„Dank dir, musste ich die letzten Monate untertauchen", spuckte sie ihm entgegen. „Diese Hure hat mich verfolgt, weil du den Menschen geholfen hast. Wie eine Furie hat sie mich gejagt. Und hier? Hierher konnte ich nicht zurück, weil du, DU hier warst und mich nicht in Ruhe lassen wolltest."
Lloyd schnaubte. „Sicher, dass ich dein Problem war. Oder hattest du einfach Angst, dass der Wald dich nicht vor ihr beschützen würde? Weil du—" Sein Kopf wurde in den Boden gepresst. Schlamm bahnte sich den Weg in seinen Mund und er konnte ihn nicht ausspucken, weil das Gewicht, das ihn niederdrückte, nicht verschwand. Er hustete und würgte, aber nur mehr Dreck legte sich auf seine Zunge.
„Erbärmlich", hörte er seine Schwester sagen. Endlich nahm sie ihren Fuß von seinem Kopf.
Er spuckte die Erde aus, aber das Gefühl auf seiner Zunge blieb. Als er die Zähne zusammenbiss, knirschten die feinen Sandkörner hässlich in seinen Ohren.
Er wurde gepackt und angehoben. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen den Griff, aber die Elfen gaben kein Stück nach.
Nur ein Gedanke verfolgte ihn auf seinem Weg zurück zum Palast: Hoffentlich wird Tavaren den Wald heil verlassen.
Lloyd hörte seinen Vater seufzen. Er selbst wagte es nicht aufzusehen. Ihm war nicht erlaubt gewesen, sich umzuziehen. Sporadisch hatte er sich den Schlamm aus dem Gesicht gewischt. Genützt hatte das jedoch nicht viel. Er spürte, wie sich die Erde zusammenzog und riss, während sie langsam trocknete.
„Ist dir bewusst, was ich für dich alles in die Wege geleitet habe?", fragte Leandras. „Du hast so oft gegen meine Gesetze verstoßen wie kein anderer. Ich habe dich gewarnt. Das war deine letzte Chance." Er erhob sich von seinem Thron. Das Geräusch der Absätze hallte laut wider. Noch lauter als das letzte Mal. Eis breitete sich auf Lloyds Wirbelsäule aus und kroch ihm den Rücken herunter. „Was du getan hast, ist Hochverrat." Leandras blieb vor seinem Sohn stehen. „Lloyd, ich kann nicht länger Milde walten lassen."
„Vater ich—", setzte Lloyd seine Entschuldigung an. Der Schlag traf ihn so schnell, er hatte nicht einmal gesehen, wie Leandras ausgeholt hatte. Er stürzte auf den harten Boden. Seine Hand tastete sich zu seiner schmerzenden Wange. Blut rann aus einem Schnitt sein Gesicht herab, vermischte sich mit der Erde und tropfte in einem braun-rötlichen Gemisch auf den Marmor.
Verzweifelt sah er zu seinem Vater, suchte die warme Gnade. Vergeblich. Kalt blickten die blauen Augen auf ihn nieder. Aber hinter der Kälte verbarg sich etwas, das Lloyd noch viel mehr ängstigte. Ein Funke entzündete sich in dem gefrorenen Blau.
Leandras kochte vor Wut.
„Vater, bitte", flehte Lloyd, aber der Elfenkönig wandte sich von ihm ab.
Eine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. „Bringt es herein." Die Stimme war drohend leise. Dennoch öffnete sich sofort die Flügeltür und zwei Wachen traten ein. Die eine trug eine Standfackel, die andere ein Kissen, auf dem ein verzierter Dolch lag.
„Vater!" Lloyd versuchte erneut zu Leandras durchzudringen.
Der König ließ sich nicht erweichen. „Haltet ihn fest", wies er die beiden Wachen an.
Die Wachen packten den Prinzen, einer an jedem Arm, und zogen ihn zu Leandras. Der König ergriff den Dolch und hielt ihn über die Fackel.
„Bitte, Vater", flehte Lloyd erneut. „Tu das nicht, bitte."
„Du hast dich für eine Seite entschieden." Leandras wendete den Dolch in der Flamme. „Lebe nun mit den Konsequenzen."
Mit angstgeweiteten Augen sah Lloyd zu der Klinge, deren Stahl anfing, rot zu leuchten. Er lehnte sich gegen die Wachen auf, versuchte seine Arme loszureißen, doch eisern hielten sie ihn fest.
Mit dem glühenden Dolch in der Hand wandte sich Leandras wieder seinem Sohn zu.
„Bitte, Vater!" Lloyd versuchte weiterhin seine Arme zu befreien. Er bemerkte kaum, wie ihm bittere Tränen die Wangen herabrannen.
Leandras holte tief Luft. Er schob Lloyds Haar zur Seite und griff nach seinem Ohr. An der Spitze, die so charakteristisch für die Elfen war, setzte er das Messer an.
Lloyd kniff die Augen zu, biss sich auf die Lippe, um ein Wimmern zu unterdrücken. Auf den Schmerz war er nicht vorbereitet. Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Blitze durchzuckten sein Innerstes. Ein spitzer Schrei hallte durch den Palast und durchstieß sogar die Ohren der Tiere im Großen Wald, die allesamt erstarrten, ehe sie lossprinteten, um Zuflucht zu suchen.
Lloyd gelang es kaum bei Bewusstsein zu bleiben und doch brannte sich dieser Schmerz weiter durch sein Ohr.
Mit einem Knall flog die Tür des Thronsaals auf. Lloyd hörte ihn kaum, bemerkte nur, dass sein Ohr nicht länger Feuer fing. Kraftlos ließ er sich hängen. Hätten die Wachen ihn nicht festgehalten, wäre er zu Boden gefallen.
Er wollte seinen Kopf heben, um zu erfahren, wer ihn dort gerettet hatte. Verschwommen sah er eine Gestalt auf dem Boden zu den Füßen seines Vaters knien. Die Ränder seines Sichtfeldes wurden schwarz.
„Bitte, Eure Majestät", hörte er eine Stimme. Argon. „Tut ihm das nicht an", flehte er für seinen Freund. „Er erkennt seinen Fehler. Bitte, vergebt ihm."
Einige Sekunden geschah nichts. Dann wurde Lloyd losgelassen. Auf dem kalten Boden fand er sich wieder. Er tastete nach seinem Ohr. Die Spitze war noch da. Nur eine Einkerbung verriet, welche Strafe ihn erwartet hätte.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen und rappelte sich auf. Ein Arm legte sich um ihn und half ihm, zu stehen. Durch seinen tränenverschmierten Blick erkannte er kaum, wer es war.
„Shyani...?", wollte er fragen, aber alles, was aus seinem Mund kam, war ein tonloses Hauchen. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut in seinem Mund schmeckte, um sein Schluchzen zu unterdrücken.
„Lloyd." Das war die Stimme seines Vaters. Immer noch kalt. Immer noch unnachgiebig. Der Prinz zwang sich aufzusehen. „Du wirst das Königreich noch heute Nacht verlassen", sagte Leandras. Bei diesen Worten brannten seinem Sohn erneut Tränen in den Augen. „Drei Dinge musst du mitbringen, wenn du zurückkommen möchtest. Eine Rose aus Eis, die noch nie von einem Menschen berührt wurde. Ein Stein aus Feuer, vor dem sich selbst die Sonne verneigt. Und zuletzt die Feder eines Engels, der keine Güte mehr in sich trägt."
Lloyd hatte nicht die Kraft zu widersprechen. Und selbst wenn, hätte er es nicht getan. Sein Vater erwies Gnade.
Leandras trat zurück zu seinem Thron und setzte sich. Er beobachtete seinen Sohn dabei, wie er von Shyani und Argon nach draußen begleitet wurde. Mit einer Handbewegung wies er die Wachen an, sicherzustellen, dass Lloyd den Wald verließ. Erst nachdem die Tür ins Schloss fiel, trat ein lautloser Seufzer aus seinem Mund. Er überschlug die Beine und stützte sein Kinn in die Hand.
Einer der Schmetterlinge kam zu ihm. Die Flügel transparent und nur von feinen silbrigen Linien durchzogen. Leandras streckte die Hand aus, damit der Schmetterling sich auf seinen Zeigefinger setzen konnte.
„Habe ich das richtige getan?", fragte er leise.
Der Schmetterling wippte leicht mit seinen Flügeln und ließ die ohnehin schon weiße Haut silbern schimmern.
„Ich weiß." Er schlug die Augen nieder und nahm einen tiefen Atemzug. „Aber, was wenn nicht?"
Den Schmetterling schickte er mit einem vorsichtigen Wedeln fort und vergrub sein Gesicht in den Händen.
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