Die Asche der Vergangenheit II
„Eine interessante Frage", meinte der Erzähler und legte sich wieder in das Gras. Doch dieses Mal nicht rücklings sondern auf die Seite. Das Gesicht in eine Hand gestützt und ein Bein angewinkelt. Das Lächeln auf seinen Lippen war weder warm noch kalt, nur leicht von Hohn gezeichnet, während er Lloyd betrachtete. „Welcher Wahrheit möchtet Ihr glauben?"
„Eurer nicht", sagte der Prinz sofort. „Ihr seid ein Mensch, wie hättet Ihr dabei sein können?"
„Ach ja." Der goldene Blick glitt von Lloyds Augen zu seinen Haaren. „Wie hätte ich das nur?" Er streckte seine Hand aus, aber ehe sie ihr Ziel erreichte, wich Lloyd zurück. Die Brauen des Erzählers schoben sich leicht zusammen, doch er fuhr fort, ohne seine Handlung zu kommentieren: „Das Schicksal der Lichtelfen blieb jahrhundertelang ungewiss. Niemand wollte ihnen nachreisen, um herauszufinden, ob sie ihr Ziel erreicht hatten oder ob sie letztlich auf der Reise umgekommen waren. Es gibt zwar einige Theorien, aber niemand kennt die Wahrheit... nun, fast niemand." Die Mundwinkel des Erzählers kräuselten sich nach oben. „Wollt Ihr sie hören? Die Wahrheit?"
Lloyd sah den Erzähler skeptisch an. Niemand kannte die Wahrheit. Doch... er konnte sich die Antwort des Erzählers anhören, ohne sie gleich als Wahrheit anzuerkennen. Eine Theorie, nichts weiter.
Zögerlich nickte Lloyd.
Etwas blitzte in dem Gold der Augen auf. List, ähnlich einem Fuchs, ohne Bosheit, doch mit Interesse. Schuld, wo nur Schuldlosigkeit sein sollte, denn was sollte der Erzähler mit den Ereignissen der Vergangenheit zu tun haben.
„Habt Ihr jemals von den Rosen des Winters gehört?" Wieder streckte der Erzähler seine Hand aus. Diesmal ließ Lloyd es geschehen. Vorsichtig, bedacht nicht die Haut zu berühren, zog der Erzähler die Blume aus dem schlohweißen Haar. Gläsern wie Eis die Blütenblätter, der Stiel weiß, als wäre er von Schnee umschlungen.
Einige Sekunden zeigte der Erzähler Lloyd diese Blume, ehe er sie zurück hinter das Ohr des Elfen steckte und seine Hand sinken ließ.
Lloyd schluckte. „Die Rosen des Winters? Meint Ihr die Rosen aus Eis?"
Der Erzähler nickte. Sein Lächeln war nun erschöpft, als hätte ihn diese eine Bewegung alle Kraft gekostet. „Den Rosen des Winters gelang es nie, das Gebirge zu überqueren. Sie froren ein, tausende von ihnen... und stehen dort als gläserne Statuen noch heute. Daher erhielten die Lichtelfen auch ihren zweiten Namen. Als Eiselfen sollten sie bekannt sein. Ewig sollte man sich an die Schande erinnern, die dieses Volk nahezu auslöschte.
Und Heimweh allein war es, was Leandras vor diesem Schicksal rettete. Keine Liebe, kein Wunsch nach Familie oder Kindern. Nein, allein Heimweh rettete ihm das Leben und schenkte ihm seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn.
Doch ebenso schnell, wie er seine Frau fand, wurde sie ihm schon wieder geraubt. Kein Schwert trennte die liebenden Herzen, sondern ein Strick."
„Hört auf!" Lloyd ertrug es nicht, solche Worte aus dem Mund des Erzählers zu hören, gesprochen ohne jegliche Gefühle, die der Prinz mit den Erinnerungen verband.
Der Erzähler schloss seinen Mund und musterte ihn einige Sekunden lang stumm, ehe er sich erhob. Er richtete sich den dünnen Mantel, der von einer Schulter gerutscht war und sagte: „Ich sollte mich nun wohl auf den Weg zu Eurem Vater machen."
Der Erzähler hatte sich schon abgewandt, da stand Lloyd aus dem Wasser auf. „Ich begleite Euch", sagte er. Nach dieser Begegnung könnte er sich ohnehin nicht länger entspannen. Der Wind wollte ihn schließlich auch nicht länger ablenken.
Die dunkle Robe hing durchnässt an ihm herab, als er aus dem Wasser stieg. Er schlang sich den Stoff um den Körper und band ihn mit einem Gürtel zusammen. Der Erzähler war stehengeblieben hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Geduldig wartete er auf den Prinzen.
„Habt Ihr jemals darüber nachgedacht ein Hanfu zu tragen?", fragte er, als Lloyd zu ihm aufgeholt hatte.
„Ein was?", fragte der Elf.
„Ein Hanfu", wiederholte der Erzähler und breitete die Arme aus, damit Lloyd einen besseren Blick auf das Kleidungsstück bekam. Die dunkle Robe reichte ihm bis zu den Knöcheln und wurde mit einem violetten Gürtel in Position gehalten. Darunter trug er eine Hose, die in die Stiefel mit den feingliedrigen Ketten gesteckt war. Einen dünnen dunkel-violetten Mantel mit fast lächerlich weiten Ärmeln trug er darüber.
„Nein", antwortete Lloyd. „Das kam mir nie in den Sinn."
„Hm", machte der Erzähler und schwieg anschließend. Sogar einige Minuten vergingen in Stille. Nur die feingliedrigen Ketten schlugen aneinander und klirrten leise. Es war keine angenehme Stille, denn jedes Vogelgezwitscher war verschwunden. Nicht einmal der Wind, der durch die Blätter streifte, machte ein Geräusch. Der Wald war verstummt und würde niemanden warnen.
„Rot könnte Euch stehen", sagte der Erzähler schließlich.
Lloyd öffnete seinen Mund, um nachzuhaken, doch er schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Während er die Stille ertragen hatte, musste der Erzähler damit beschäftigt gewesen sein, sich Lloyd in einem Hanfu vorzustellen.
„Aber Rot beißt sich so mit Lila", überlegte der Erzähler weiter.
„Warum sollte es mich interessieren, ob es zu lila passt?", fragte Lloyd.
Übertrieben erschrocken zog der Erzähler Luft ein. „Ist das eine ernstgemeinte Frage? Ich muss doch schließlich gut neben Euch aussehen."
Lloyd schnaubte. Er konnte es nicht erwarten, zurück im Palast zu sein, um seine Ruhe zu haben. Einige Minuten würden die beiden noch brauchen, ehe sie die Stadttore passieren konnten, und, da Lloyd die Stille noch weniger ertragen wollte als das Gerede des Erzählers, fragte er: „Warum rot?"
Der Erzähler hob die Schultern. „Das war nur mein erster Gedanke. Weiß wäre vermutlich das Eleganteste, mit goldenen Verzierungen."
„Mhm", machte Lloyd.
„Oder hellblau. Das wäre sicherlich auch eine interessante Wahl."
Lloyd bereute es schon, gefragt zu haben, denn er hatte sich geirrt: die Stille war ihm bei weitem lieber, als dem Erzähler zuhören zu müssen. Doch dies musste er nun aushalten, bis sie an der Mauer waren.
Misstrauisch blickten die Elfen den Erzähler an, aber, da er in Begleitung des Prinzen erschien, wagte es niemand nachzufragen. Erst hinter der Mauer holte jemand zu ihnen auf. Nicht weil ihm der Erzähler aufgefallen war, sondern weil er ein Freund von Lloyd war. Argon.
Zur Begrüßung boxte er leicht die Schulter des Prinzen. „Du bist früher zurück, als die meisten erwartet haben", sagte er.
„Wie lange haben sie diesmal gewettet?", fragte Lloyd.
„Das wenigste waren einige Stunden. Einige sind aber auch der Meinung, dass du irgendwann nicht zurückkommst, weil du ständig ohne Garde losziehst."
Lloyd winkte ab. „Der Wald steht mir zur Seite. Da brauche ich keine Angst haben."
Argon nickte. Erst dann fiel sein Blick auf die Gestalt neben Lloyd, die eigentlich jedem sofort ins Auge stach.
„Wer ist das?", fragte Argon.
„Das ist..." Lloyd setzte zwar an, doch er kannte den Namen des Erzählers nicht. Fragend sah er zu der Gestalt in Lila.
Dessen Mundwinkel zuckten. „Ich sollte mich nun wohl auf den Weg machen. Daddy wartet bestimmt schon." Er hob seine Hand, um ein Winken anzudeuten, wandte sich dann ab und machte sich auf den Weg zum Palast.
„Hat er meinen Vater gerade...?" Lloyd ließ die Frage offen, denn das Wort wollte er gewiss nicht wiederholen.
„Das ist gerade nicht der Punkt." Argons aufgeregter Ton zwang Lloyd dazu, seine Gedanken zu sammeln. „Hast du einen vollkommen Fremden, dessen Namen du noch nicht einmal kennst, nicht nur in den Wald, sondern sogar in die Stadt gebracht?"
Lloyd schluckte. Ja, das hatte er. „Ich...", begann er, doch die Worte wollten nicht seine Zunge übertreten. Stattdessen machte er kehrt und lief dem Erzähler hinterher. Jedoch fand er ihn auf dem Weg zum Palast nicht wieder.
Innerhalb des Schlosses war alles in heller Aufruhe. Als Lloyd an den Wachen vorbeilief, konnte er sie tuscheln hören.
„Bist du dir sicher?"
„Ein Wunder, dass seine Majestät ihn nicht rausgeworfen hat."
„Er hätte den Weg hierher gar nicht finden sollen."
Lloyd rannte schneller.
Er stieß die Flügeltür des Thronsaals so schwungvoll auf, dass sie beinahe gegen die Wand krachte. Leandras saß auf seinem Thron. Das Gesicht in die Hand gestützt, drückte er Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. Die Augen hatte er geschlossen, aber eine Braue zuckte verräterisch und zeigte, dass seine Nerven kurz vor dem Zerreißen waren.
Und Lloyd sah den Grund. Unverkennbar. Die violetten Haare. Die Robe mit den weiten Ärmeln. Die wilde Gestikulation, als versuchte er den Elfenkönig gerade von einer großartigen Idee zu überzeugen. Der Erzähler hatte den Thronsaal vor Lloyd erreicht.
Leandras öffnete die Augen und bohrte den frostigen Blick in seinen Sohn. „Hast du ihn hineingelassen?"
Lloyd öffnete seinen Mund, doch der Erzähler sprach statt seiner: „Du weißt doch genau, dass ich niemanden brauche, der mir die Tür öffnet."
Entgeistert sah Lloyd zu dem Erzähler. Noch nie hatte er gehört, wie jemand, der nicht zur Familie gehörte, seinen Vater duzte.
Leandras' Augenbraue zuckte kurz, ehe er seinen Sohn wieder ansah. „Er gab uns Informationen", sagte er und gab dem Erzähler mit einer Handbewegung die Erlaubnis zu sprechen. Dann stützte er seinen Kopf erneut in die Hand.
„Erinnert Ihr Euch an die Begebenheiten in Kastolat? Den Abend, als Ihr meinen Teppich ruiniert habt?", fragte der Erzähler.
Leandras sah bei diesen Worten auf. Sein Blick wechselte zwischen Lloyd und dem Erzähler, doch er sagte nichts.
Lloyd nickte. Der Abend war ihm noch sehr gegenwärtig.
„Der Prinz von Kastolat blieb verschont", sagte der Erzähler. „Vor dieser verhängnisvollen Nacht wurde er entführt. Nach Dremkes, in die Nähe des Niemandslandes. Seit Monaten versuchen die Raben den Auftrag zu Ende zu bringen, doch bis jetzt ohne Erfolg. Aber, wie Fortuna es möchte, hat sich nun der Wächter auf den Weg gemacht, den Prinzen zu retten, damit dieser endlich zum Herzog gekrönt werden kann."
„Du sollst ihn auskundschaften", ergriff nun Leandras das Wort, gerichtet an seinen Sohn. „Und herausfinden, was mit dem Prinzen geschieht. Wenn es dir möglich ist, dann horche auch den Wächter aus."
Lloyd nickte. Ein neuer Auftrag. So gern er auch im Großen Wald war. Hier langweilte er sich fast zu Tode. Er drehte sich um und wollte den Thronsaal verlassen, da sprach Leandras erneut. „Und Ihr", diesmal sprach er zu dem Erzähler. „Ihr geht auch. Ehe ich es mir anders überlege."
„Aber natürlich", antwortete der Erzähler. „Wie könnte ich dir einen Wunsch abschlagen?"
Leandras' Augenbraue zuckte, aber er erwiderte nichts. Erst als sein Sohn und der Erzähler den Thronsaal verlassen hatten, öffneten sich seine Lippen zu einem lautlosen Seufzer.
Lloyd wollte keinen Gedanken mehr an den Erzähler verschwenden. Oder an die Anrede, die er für Leandras benutzt hatte. Oder weshalb der Erzähler ihn duzte, der Elfenkönig ihn aber höflich und distanziert ansprach.
Aber das Klirren der Stiefel bohrte sich in Lloyds Verstand und hinderte ihn daran, den Erzähler neben sich zu vergessen.
„Ihr agiert gegen Euer Volk?", fragte Lloyd, um das Schweigen zu durchbrechen und sich von dem Klirren – und auch von den Blicken der Elfen im Palast – abzulenken.
„Ich agiere gegen niemanden", antwortete der Erzähler nüchtern. Zu nüchtern.
Lloyd presste die Lippen aufeinander. Es mochte sein, dass die Antwort nicht gelogen war, doch sie war weit von der Wahrheit entfernt. „Was wollt Ihr?", fragte er.
Der Erzähler stockte kurz. „Das ist in der Tat eine sehr interessante Frage", sagte er. „Gerade jetzt, in diesem Moment." Er überlegte kurz. „Kuchen... ich schätze, ich hätte gern Kuchen."
„Kuchen?", fragte Lloyd. In keinem Universum hätte er sich eine solche Antwort erdenken können.
Der Erzähler nickte. „Was gäbe es Besseres als Kuchen?"
Lloyd fielen schon nach kurzem Überlegen fünf Dinge ein. Eines davon war die Abwesenheit des Erzählers.
Ein leises Lachen ertönte neben ihm. „Das war keine Frage, die Ihr hättet beantworten müssen." Er seufzte. „Euch ist es zu verdanken, dass ich nun Hunger bekommen habe. Ich würde Euch ja einladen, aber Leandras gefiele es sicherlich nicht, wenn ich Euch weiterhin ablenke." Er wandte sich von Lloyd ab. „Auf Wiedersehen, Sweetie, ich verspreche Euch, dass es nicht lange dauern wird."
In Lloyds Ohren klang dieser Satz wie eine Drohung. Der Erzähler winkte ihm zum Abschied und ließ ihn im Korridor stehen. Das Klingeln der Ketten hallte noch eine Weile in den Gängen, ehe es schließlich verschwand.
Lloyd schüttelte den Kopf und kehrte in sein Zimmer zurück. Er legte die immer noch feuchte Robe ab und schlüpfte in die dunkle Kleidung, die er stets trug, wenn er für einen Auftrag unterwegs war. Seinen Umhang hatte er noch nicht ausgetauscht, obwohl er die Löcher, die durch den Aufenthalt in Kastolat entstanden waren, nur spärlich geflickt hatte. Doch diesmal musste er auf einen anderen Mantel zurückgreifen, denn der Winter war hereingebrochen. Selbst wenn der Große Wald alle Kälte von den Elfen fernhielt, so war Lloyd ihr doch außerhalb der schützenden Bäume gnadenlos ausgeliefert.
Es klopfte. Ehe er „Herein" sagen konnte, öffnete sich die Tür, doch der Eindringling blieb im Rahmen stehen. Schon bevor ein Wort gesprochen wurde oder Lloyd in die Richtung gesehen hatte, wusste er, dass es sich um Cahlia handelte.
„Du willst also schon wieder weg?", fragte sie. „Die ganzen Lorbeeren allein abstauben?"
„Vater hat mich geschickt. Du kannst dich an ihn wenden, wenn du mit seiner Entscheidung nicht zufrieden bist", antwortete Lloyd.
Cahlia schnaubte. „Und das ist der einzige Grund? Du scheinst dich mit Menschen viel zu gut zu verstehen. Erst der Wächter und dann dieser – was ist der Typ überhaupt? Und vor allem, warum hast du ihn angeschleppt?"
Lloyd knirschte mit den Zähnen. Er wandte sich von Cahlia ab und machte sich auf die Suche nach seinem Kurzschwert, um sich währenddessen eine Antwort zu überlegen.
Seine Schwester stieß sich von dem Türrahmen ab und reichte ihm das Schwert, das auf der Kommode lag. „Es sind Menschen", zischte sie, Abneigung und Verachtung in ihrer Stimme.
Lloyd nahm ihr das Schwert aus der Hand und lief nun in seinem Zimmer umher, um seine Dietriche zu suchen.
„Das ist es nicht wert", fuhr Cahlia fort. „Unser Volk für die Menschen zu verraten. Was auch immer sie dir anbieten, was auch immer du in ihnen finden kannst, das dir keiner unseres Volkes geben kann. Nimm. Es. Nicht."
Lloyd zog die Dietriche aus einer Schublade und verstaute sie in seiner Tasche. Nun drehte er sich zu seiner Schwester. „Warum sollte ich mein Volk verraten?" Kalt blickten seine Augen auf sie nieder. „Ich bin der Thronfolger. Ich kann hier jeden Weg einschlagen, den ich möchte. Die erste Stimme, die Vater anhört, ist meine."
„Wenn du meinst." Cahlias Stimme war ebenfalls einige Grade gesunken. „Aber erwarte nicht, dass ich dich aus deinem Grab schaufle."
„Das kam mir nie in den Sinn. Und jetzt lass mich allein. Ich muss mich vorbereiten."
Sie presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, aber kam seinen Forderungen nach und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
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