Der Sieger, der verlieren musste III
„Hier bist du", sagte Murasaki und trat an Kyrat heran. Sie befanden sich auf einem Hügel, so nah an dem Geschehen, dass sie das Schlachtfeld einsehen und die Todesschreie hören konnten, doch weit genug entfernt, dass sie außer Gefahr waren.
„Du willst wohl auch wissen, wie es ausgeht." Murasaki stellte sich neben ihn und sah auf die Stadt. Schatten zogen aus ihr auf. Der Rest der beiden Heere befand sich vor den Mauern und konnten sich nur fragend und angstvoll ansehen und warten, welche Befehle ihnen gegeben wurden.
„Das ist wohl nicht das Ergebnis, das du dir gewünscht hast", sagte Murasaki. Er riss seinen Blick von dem Schlachtfeld los und sah zu Kyrat. „Er hat sich keinem deiner Wünsche gebeugt und dich offenbar ganz vergessen. Hast du wahrhaft geglaubt, dass du Krieg kontrollieren könntest?"
Kyrat schwieg und sah nicht einmal zu dem Erzähler.
Murasaki sprach weiter: „Ich kann nichts mehr tun, aber du kannst alles noch zum Guten wenden. Du solltest runtergehen."
Kyrat öffnete seinen Mund und sprach genau zwei Verse:
„Keine Rettung für die Todgeweihten.
So heißt es in diesen Zeiten."
„Todgeweiht?" Murasaki erhob die Stimme. Seine Unruhe konnte er nicht länger verbergen. „Es sollte nie so weit kommen. Du hast es doch auch gelesen. Er sollte gar nicht dort stehen und es gibt keinen Grund, weshalb er Krieg ist."
Erst jetzt warf Kyrat ihm einen Blick zu.
„Deine Taten haben ihren Preis
und dort siehst du den Beweis."
Er deutete auf das Schlachtfeld. Aus der Stadt hetzten etwa zwanzig der einhundert Krieger, die sie betreten hatten. Unter ihnen auch Leandras und Tavaren. Der Rest würde das Innere der Mauern niemals wieder verlassen.
Ihnen dicht auf den Fersen folgten die Schatten und weiter hinten Lloyd. Humpelnd, doch seine Anmut konnte man ihm nicht absprechen. Frost bildete sich unter seinen Sohlen und hinterließ eine Spur aus Eis.
Der Elfenkönig gab den Heeren das Zeichen umzukehren und zum Wald zurückzukehren, während er selbst sich der Gefahr zuwandte.
Die Schmetterlinge schickte er gegen die Schatten. Das Licht zerriss die Finsternis, doch noch öfter verschlang die Finsternis das Licht. Mehrere Schmetterlinge zogen in die Dunkelheit und kehrten nicht zurück und jedes Mal schoss dem Elfenkönig Schmerz in die Brust, als würde ein Teil seines Herzens absplittern.
Schritt um Schritt musste er zurückweichen, damit er selbst nicht getroffen wurde. Er zog sein Schwert und begann es gegen die Schatten zu schwingen, aber der Stahl konnte sie nicht durchtrennen. Schlangenartig zischte die Finsternis kurz auf, ehe sie sich wieder zusammenfügte und einen weiteren Angriff wagte.
Leandras konnte sie nicht aufhalten, so sehr er es auch versuchte. Sie schossen an ihm vorbei und auf die Soldaten zu, die er versuchte zu schützen. Er wusste, dass all seine Mühen vergebens waren, als er die Schreie hinter sich hörte. Weit hinter sich. Sie mussten schon beinahe am Wald angekommen sein, doch er drehte sich nicht um, um Gewissheit zu haben.
Seine ganze Aufmerksamkeit richtete er auf das, was vor ihm lag und den Kampf gegen die Dunkelheit. Jeder Schlag und jeder Schwerthieb traf sein Ziel, doch bewirkte nichts.
Meterweit hinter ihm waren die Verbündeten, flohen in den Wald, wie er es ihnen befohlen hatte. Er allein stand der Macht gegenüber. Eine Macht, die er nicht bekämpfen konnte, doch er wollte sie so lange aufhalten, wie notwendig war, um zu retten, wen er retten konnte. Ob Mensch oder Elf, an diesem Tag war nur wichtig, dass sie die Hoffnung trugen, um das Licht in der Welt wiederherzustellen.
Selbst wenn er heute unterging, andere würden seinen Platz einnehmen und sie würden siegen.
Schmerz fraß sich in seine Seite. Er machte sofort einen Satz von dem Schatten fort und schlug nach ihm, aber ein anderer bohrte sich in seinen Arm und zwang ihn, das Schwert fallenzulassen.
Als wäre es nichts, schnitten die Schatten durch Rüstung, Fleisch und Knochen und zwangen ihn in die Knie. Metallischer Geschmack auf seiner Zunge. Er spuckte das Blut in die Asche. Die Hände in den Boden gestemmt, versuchte er sich aufzurichten. Das Adrenalin betäubte jeden Schmerz in seinem Körper.
Tavaren bemerkte erst spät, dass Leandras nicht mehr an seiner Seite auf dem Weg zum Wald war. Er blieb stehen und drehte sich zum Schlachtfeld um. Dort sah er ihn knien, umringt von Schatten, doch kleine Lichtpunkte schützen ihn.
Der Herzog sah zurück zu dem Wald. Nur noch wenige Meter und er wäre in Sicherheit angekommen, aber... Er wandte sich ab und rannte los. Zu Leandras und fort von jedem Schutz. Er konnte den Elfenkönig nicht einfach sterben lassen.
Nicht nur wäre Tavaren ohne ihn auch dem Tode geweiht, da er den Wald nicht betreten konnte, es schien ihm auch falsch, den Elfenkönig ganz allein gegen die Schatten ziehen zu lassen.
In weiter Ferne sah er Lloyd. Er stand schon vor den Mauern, aber noch einige Meter von Leandras entfernt. Wenn Tavaren sich beeilte, dann könnte er den Elfenkönig retten.
Er lief mitten in die Schatten hinein, doch sie schienen ihn kaum zu bemerken. Sie hatten ihre Aufmerksamkeit auf die Fliehenden und auf Leandras gerichtet, versuchten das Licht zu verschlingen, doch es hielt sich tapfer.
Doch eines hatte Tavaren nicht erwartet. Eine Änderung im Geschehen. Eine Partei, die sich heraushalten wollte, doch nun trotzdem eingriff.
Lila Stoff flatterte um Leandras herum. Nur für eine Sekunde lang, ehe er wieder verschwand und den Elfenkönig mit sich nahm.
Und damit richteten die Schatten ihre Aufmerksamkeit auf das nächststehende Ziel. Den Herzog.
Tavaren erstarrte. Er brauchte keine Sekunde, bis er bemerkte, dass Leandras gerettet war, und wandte sich um. Wieder dem Wald zu, aber ehe er auch nur einen Schritt machen konnte, ehe ihn nur eine Bewegung näher zu dem Schutz bringen konnte, durchriss ihm ein Schatten die Brust. Er war ungeschützt durch Licht und daher hielt die Dunkelheit nichts auf.
Ihm entfuhr ein kurzer Schrei, doch mit zerfetzen Lungen konnte er nicht genug Luft sammeln, um einen weiteren Laut von sich zu geben.
Tavaren spürte, wie er fiel, aber den Boden erreichte er nie. Sanft wurde er aufgefangen und in Arme gebettet.
Lloyd war zu ihm geeilt und zog ihn auf seinen Schoß. Sein Blick war klar und nicht länger getrübt von Wahnsinn oder Grausamkeit. Die Schatten, die sich zuvor über den Boden geschlängelt hatten, verschwanden nach und nach. Allein Blutsprenkel auf der weißen Haut zeugten von seiner Tat.
„Tavaren." Lloyds Stimme brach nach diesem einen Wort und ging in ein Schluchzen über. Tränen quollen aus seinen Augen und tropften auf Tavarens bleiches Gesicht. In diesem Moment sah der Elf aus wie ein Kind. Hilflos und unwissend, was die Zukunft bringen würde. Ängstlich vor der Dunkelheit, die drohend über ihm ragte.
Mehr und mehr Tränen rannen seine Wangen herab. „Ich war auf dem falschen Weg", schluchzte er. „Ich sollte den Preis dafür zahlen. Bitte, vergib mir."
Tavaren öffnete seinen Mund. Er wollte Lloyd sagen, dass er nicht weinen sollte, ... dass alles gut würde, aber kein Ton kam aus seinem Mund. Er wollte seine Hand heben, musste aber bemerken, dass alle Kraft seinen Körper bereits verlassen hatte.
„Bitte, halte durch", flehte Lloyd. „Ich finde einen Weg. Ich kann dich retten." Er zog den Körper näher an sich und vergrub sein Gesicht in Tavarens Brust. „Das hier habe ich doch nie gewollt."
Tavarens Blick verschwamm und um ihn herum wurde es dunkel. Das Letzte, das er sah, war Lloyds Gesicht. Der Elfenprinz. Der Dunkle König. Doch viel wichtiger als das: Er war derjenige, den Tavaren immer geliebt hatte.
Aber keiner dieser Titel war noch von Bedeutung. Keines der Gefühle, die Tavaren in sich trägt, konnte von diesem Tag an Lloyd zur Seite stehen.
Vor ihm war ein Mann, der sich niemals verzeihen konnte. Ein Mann, der sich bis an sein Lebensende hassen würde.
Mit diesem Wissen musste er ihn gehen lassen.
Ohne letzte Worte.
Und ohne ein Lebe wohl.
Leandras stürzte auf kalten Waldboden. Obwohl es schon lange her war, dass er auf diese Art entrückt wurde, wusste er sofort, was geschehen war.
Er schob die Hand, die ihm aufhelfen wollte, weg und hob sich selbst auf die Beine. Schmerz in seiner Seite hinderte ihn, tiefe Atemzüge zu nehmen. Er presste eine Hand auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen, aber rot floss es unaufhörlich an ihm herab.
„Bringt mich sofort zurück", brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Angesprochen hatte er die Gestalt in Violett, die ihn zwar gerettet, doch gleichzeitig andere verdammt hatte.
Murasaki schüttelte seinen Kopf und sagte: „Nein, das werde ich nicht." Und ohne ein Wort verschwand der Erzähler wieder, ehe Leandras die Chance hatte, ihn umzustimmen.
Der Elfenkönig stieß einen kurzen Frustrationslaut aus, ehe er seine kühle Ausstrahlung wieder annahm und sich im Wald umsah.
Es handelte sich eindeutig um den Großen Wald und er wusste auch, wo er sich genau befand, doch er würde mindestens eine Stunde brauchen, bis er wieder auf dem Schlachtfeld angekommen war.
Ohne zu zögern, ging er los. So schnell er konnte, doch die Verletzung hinderte ihn am Rennen.
Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, bis er wieder in dem Lager ankam, das die Elfen kurz hinter dem Waldrand aufgeschlagen hatten.
Er achtete nicht auf die Worte seiner Untergebenen und auch nicht darauf, dass sie sich offenbar mit den Menschen, die in den Wald gelangt waren, stritten. Stumm ging er mitten durch das Lager, wies alle Heiler ab, griff sich ein neues Schwert und ging zurück zum Waldrand.
„Eure Majestät", begann einer der Elfen und wollte ihn von seinem Vorhaben abbringen, aber Leandras brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Doch er konnte ihn nicht davon abbringen, ihm zu folgen.
Mehrere Elfen griffen sich ihre Waffen und legten wieder ihre Rüstungen an, um ihren König in den Kampf zu begleiten. Leandras hielt sie nicht auf, obwohl er als Einziger den Kampf beenden wollte, den er angefangen hatte.
Doch am Waldrand angekommen, sah er keine Schatten mehr. Dafür aber die Toten, die sich wie ein Meer in der Asche verteilt hatten. Menschen gleichsam wie Elfen. Jeder, der es nicht rechtzeitig die schützenden Bäume erreicht hatte, war seines Lebens beraubt worden.
Und auf dem Schlachtfeld – etwa in der Mitte zwischen den Mauern der Stadt und dem Großen Wald – kniete derjenige, der für all das Chaos verantwortlich war. In seinen Armen ein Körper, der schon lange erkaltet und regungslos war.
Die Tränen wollten ihm nicht versiegen, der Schmerz nicht von ihm ablassen. Denn sein Herz brach und blutete scharfe Splitter, die ihm ins Fleisch stießen. Das Schluchzen war mittlerweile nur noch ein leises Wimmern.
Er hörte Schritte, aber ihm gelang es nicht, seinen Kopf von dem Toten zu nehmen.
„Lloyd?" Leandras' Stimme. Sein Vater trat noch ein Stück näher an ihn und blieb vor ihm stehen.
Lloyd sah zu ihm auf, aber starrte nur in die Dunkelheit, sodass er zurück auf den Körper in seinen Armen blickte.
„Bitte, töte mich", sagte er. Kratzig vom Weinen war die Stimme, schwach und unsicher wollte sie lieber in seiner Kehle hängen bleiben.
„Lloyd..." Sein Vater wollte noch mehr sagen, aber Lloyd unterbrach ihn.
„Töte mich", rief er. „Ich kenne mein Vergehen und weiß, welche Strafe auf mich wartet. Also vollziehe sie sofort, ehe ich noch jemandem Schaden zufügen kann. Wenn ich schon sterben muss, dann hier und durch deine Hand."
So ungern er es auch tat, er entließ den Körper aus seinen Armen. Dann zog er seinen Gehrock aus und entblößte seinen Nacken. Vor seinem Vater ging er auf die Knie, bohrte die Finger in die Asche und wartete.
Stille.
Mehrere Minuten lang schweig Leandras und sah nur auf seinen Sohn hinab. Er presste die Lippen zusammen und streckte die Hand aus.
„Gebt mir eine Axt", befahl er und spürte kurz darauf das kalte Metall eines Griffes in seiner Hand. Niemand hier könnte es an seiner Stelle tun. Einen Henker hatte er nicht in seinem Gefolge, denn er allein oder der Wald vollzogen Hinrichtungen.
Sein Schnitt wäre sauber. Ohne Schmerz und ohne Leid. Wer wusste, wie andere mit ihm umgehen würden, wenn sie von seinen Verbrechen erfuhren. Die wenigsten würden ihm einen schnellen Tod gewähren.
Er packte den Griff fest mit beiden Händen. Sein Sohn wimmerte leise, aber Leandras blendete das Geräusch aus und stumpfte sich für die Tat ab, die ihm bevorstand. Der Elfenkönig setzte die Axt im Nacken an, doch noch ließ er sie kurz über der Haut schweben.
Einmal holte er tief Luft.
Es hatte keinen Zweck, sagte sich Leandras. Wenn er es nicht tat, würde es ein anderer tun und ein anderer würde seiner Grausamkeit freien Lauf lassen.
Er schluckte und hob die Axt, hoch über den Kopf. „Letzte Worte, mein Sohn?", fragte er.
Lloyd schüttelte kaum merklich den Kopf und hauchte ein leises „Nein."
Noch einmal holte Leandras tief Luft, ehe er die Klinge mit einem kräftigen Hieb niederfahren ließ. Sauber trennte sie Haut, Fleisch und Knochen und blieb dann in der Asche stecken.
Der Elfenkönig wandte sich sofort ab und ging. Hinter sich hörte er das dumpfe Geräusch, als der Körper auf den Boden traf.
„Eure Majestät, was sollen wir nun mit ihm machen?", fragte jemand.
„Begrabt ihn", sagte Leandras, aber er drehte sich nicht noch einmal um. „Begrabt ihn tief."
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