Der Sieger, der verlieren musste II
Beinahe zwei Wochen später hatte sich das Heer Tavarens an der südlichen Grenze des Großen Waldes eingefunden. Hinter den Menschen das unberührte Unterholz und vor ihnen die Wüste aus Asche. Genau dort hatten sie ihr Lager aufgeschlagen und warteten sie auf den Elfenkönig mit dessen Gefolgschaft.
Tavaren hatte weniger Verluste einstecken müssen, als er erwartet hatte. Nur im Gebiet der Templer gab es kleinere Gefechte, doch die anderen Fürstentümer hatten sie beim Anblick der Übermacht passieren lassen, obwohl sie sich im Vorfeld unkooperativ gezeigt hatten.
Der Herzog selbst befand sich in einem Zelt. Er schrieb einen Brief an seine Familie, dass er die Reise gut überstanden hatte, da hörte er, wie ein Raunen durch seine Soldaten ging.
Sofort wandte er sich von dem Schreiben ab und verließ das Zelt. Das Licht der Abendsonne blendete ihn, sodass er kaum sehen konnte, weshalb die Soldaten aufgewühlt waren. Es war keine Gefahr, da war er sich sicher, denn niemand hatte Alarm geschlagen.
Er hob eine Hand an die Stirn, um die Sonne abzuschirmen, und dann erblickte er auch den Grund des Stimmengewirrs.
Der Wald hatte sich geteilt und aus der Öffnung mitten aus dem Dickicht trat der Elfenkönig. Statt seidenem Gewand trug er nun eine silberne Rüstung, die das Licht der Sonne in sich brach. Ihn begleiteten die Schmetterlinge, die jeden der Menschen auf Abstand hielten, doch keine anderen Elfen befanden sich an seiner Seite.
Sie hatten ihr Lager im Inneren des Waldes aufgeschlagen. Geschützt vor den Menschen und sicher vor allem, was ihnen Böses wollte.
„Eure Majestät", begrüßte Tavaren den Elfenkönig. „Es ist mir eine Freude, Euch zu sehen."
„Die Freude ist ganz meinerseits, Lord Kestrel", antwortete Leandras. Die Mundwinkel waren leicht erhoben, sodass es eher wie ein Lächeln aus Höflichkeit wirkte, aber jeder wusste, dass der Elfenkönig sich nicht die Mühe machte, Höflichkeitsfloskeln einzuhalten, wenn er sie nicht ehrlich meinte.
Leandras blieb einige Schritte von Tavaren entfernt stehen und wandte sich der Hauptstadt Benelas zu. Er setzte seine Professionalität wieder auf und hielt es für das Beste, auf diplomatischem Boden zu bleiben.
„Was glaubt Ihr, wird uns dort erwarten?", fragte er den Herzog im Hinblick auf die Schatten, die um die Stadt wirbelten und die Finsternis, von der die Sicht auf das Innere getrübt wurde.
„Wenn ich mir das so ansehe...", begann Tavaren. „Es wird wohl dunkle Magie sein. Sehr dunkle Magie. Solche Schatten kenne ich nicht einmal aus Büchern. Vielleicht ein Dämon?" Er sah fragend zu Leandras.
Der Elfenkönig nickte leicht. „Das vermute ich auch. Aber Dämonen sind nicht so machtvoll, wie sie in Büchern stets dargestellt werden. Für diese Zerstörung –" Er ließ seinen Blick über die Aschewüste schweifen. „– braucht es ein ganzes Dämonenheer."
„Wie hat es eigentlich angefangen? Ihr müsst doch etwas davon bemerkt haben."
„Haben wir", antwortete Leandras. Seine Braue zuckte leicht und gab Tavaren das Zeichen, dass er sich in dem Ton seiner Frage vergriffen hatte. „Wir gaben den Flüchtenden einen Weg und zumindest kurzzeitige Unterkunft, aber, Lord Kestrel, es hatte keine Woche gebraucht, bis das Land so aussah wie jetzt. Und den oder wahrscheinlicher die Schuldigen bekamen wir nie zu Gesicht."
„Ich verstehe", meinte Tavaren. Er richtete seinen Blick wieder auf die Stadt in der Ferne. „Wie lange werdet Ihr noch benötigen, um Eure Truppen zu sammeln?", fragte er.
„Sie befinden sich direkt hinter dem Waldesrand", antwortete Leandras. „Wenn Ihr bereit seid, dann können wir morgen nach Sonnenaufgang in die Schlacht ziehen."
Tavaren nickte. „So wird es das beste sein." Er ließ seinen Blick wieder zu dem Elfenkönig schweifen. „Ist der Große Wald immer noch geschützt vor fremder Magie?"
„Ja, ist er", antwortete Leandras. „Und er hat auch schon zugestimmt, Eure Truppen aufzunehmen, sollten wir uns dem, was in Blencalo auf uns wartet, geschlagen geben müssen. Solange sich Eure Soldaten nicht aus dem Gebiet entfernen, in dem sie sich aufhalten dürfen."
Der Elfenkönig wandte sich ihm zu. „Doch was Euch anbelangt, konnte ich ihn nicht überzeugen. Damals habt Ihr die Reise in den Wald nur überlebt, weil mein Sohn Eurer angetan war, doch mit seiner Verbannung, entschwand auch dieses Privileg. Daher bleibt stets an meiner Seite, wenn Ihr den Wald betretet. Ansonsten kann ich Eure Sicherheit nicht gewährleisten."
Sein Blick schweifte wieder zu der Stadt. Die Brauen leicht zusammengeschoben, bildete sich eine Falte zwischen seinen Augenbrauen.
Tavaren sah ebenfalls wieder nach vorne. „Ich weiß nicht, ob Ihr schon davon erfahren habt, aber falls nicht, dann möchte ich Euch diese Nachricht überbringen. Lloyd stattete mir einen Besuch ab. Er ist am Leben."
„Was?" Leandras' Blick schoss zu Tavaren zurück. „Das ist nicht möglich."
Der Herzog zuckte mit den Schultern. „Offenbar doch. Er muss das Gebirge überlebt oder es nie überquert haben. Aber er ist auf jeden Fall am Leben."
Der Elfenkönig schüttelte die Emotionalität ab und sah wieder auf die Stadt. „Ist er..." Er brach kurz ab, als wäre er sich nun doch nicht sicher, ob er die Frage stellen sollte. „Ist er noch bei Euch im Norden?"
Tavaren schüttelte den Kopf. „Er war nur einen Tag bei mir und brach sehr früh am Morgen wieder auf. Ich weiß nicht, wo er sich jetzt aufhält, aber er sicherte mir zu, dass er wieder zurückkehren würde."
Leandras unterdrückte seine Sorge und verließ sich auf die Worte des Herzogs. „Solange er am Leben ist, bin ich beruhigt", sagte er und warf einen kurzen Blick Tavaren. „Er muss Euch wirklich gernhaben."
Ehe Tavaren etwas darauf erwidern konnte, wandte sich Leandras schon ab. „Bis morgen, Lord Kestrel." Er deutete ein Winken an und machte sich dann auf den Weg mitten durch die Soldaten hindurch und zurück zu dem Rand des Großen Waldes.
„Sweetie, hört Ihr mir überhaupt zu?", holte Murasaki den Elfen aus seinen Gedankengängen.
Nach den ersten fünf Büchern hatte Lloyd einfach seine Augen geschlossen und gehofft, der Erzähler würde nicht bemerken, dass er ihm keine Aufmerksamkeit schenkte. Bis zum zwanzigsten Buch war sein Plan aufgegangen, doch nun war Murasaki dahintergekommen.
Lloyd schlug seine Augen wieder auf. „Jedes Wort habe ich verfolgt", sagte er.
„Lügt Ihr mich gerade an?" Das Rasseln der Ketten, das sich die ganze Zeit durch den Raum bewegt hatte, kam nun wieder zu ihm. „Ihr solltet doch aufpassen, falls ich einen Fehler mache."
„Habe ich doch", entgegnete Lloyd und fügte leise hinzu: „Teilweise."
Murasaki seufzte und setzte sich auf die Armlehne des Sessels, auf dem der Elf Platz genommen hatte. Er legte eine Hand auf Lloyds Kopf, als wollte er ihm die Haare verwuscheln, aber er tätschelte ihn nur kurz, da er die Frisur nicht durcheinanderbringen wollte.
„Wirklich unverbesserlich", sagte er.
Lloyd brummte nur kurz als Antwort, aber er wich der Berührung nicht aus. „Wie lange dauert es noch?", fragte er.
„Für die letzten fünf Bücher?" Murasaki strich mit der Außenseite des Zeigefingers vorsichtig an der Wange des Elfen entlang. „Einige Tage wohl noch."
„Das meinte ich nicht", gab Lloyd zurück. „Wie lange wird es noch dauern, bis die Heere hier ankommen?"
„Tavaren und Leandras sammeln sich gerade vor der Stadt und bereden, wie sie am besten hineingelangen, und sie überlegen immer noch, was sie hier drinnen erwartet." Murasaki erhob sich von der Lehne. „Vielleicht noch eine halbe oder eine Stunde."
Lloyd nickte. Er hatte das Gefühl, aufgeregt sein zu müssen, aber in ihm breitete sich nur Leere aus. Bald wäre es vorbei.
„Wollt Ihr schon runtergehen?", fragte Murasaki.
Erneut nickte Lloyd nur stumm und erhob sich. Der Erzähler legte ihm eine Hand auf den Rücken und leitete ihn wieder in die richtigen Richtungen.
Erst als sie schon in dem Korridor waren, ergriff Lloyd wieder das Wort. „Darf ich Euch eine Frage stellen?"
„Aber selbstverständlich", antwortete Murasaki.
„Werdet Ihr meine Geschichte erzählen", fragte der Elf und richtete die Augen in Murasakis Richtung.
„Irgendwann bestimmt, aber ich habe mich noch nicht ganz entschieden", antwortete der Erzähler. „Wenn ich sie berichte, dann werde ich wohl einige Passagen streichen müssen, andere aufhübschen, einige Änderungen vornehmen."
„Warum?"
Murasaki stieß ein leises Lachen aus. „Ich sagte Euch bereits, dass ich kein Historiker bin, sondern Geschichtenerzähler. Niemand will die Wahrheit und ich werde sie niemandem geben."
Lloyd öffnete seinen Mund, um etwas entgegenzusetzen, aber der Erzähler sprach weiter, ehe er einen Laut von sich geben konnte.
„Außerdem mag ich zwar schon viele Dinge in meinem Leben gesehen und erlebt haben, aber über einiges wage ich es trotzdem nicht, zu sprechen."
„Ich verstehe", murmelte Lloyd. Er hatte nicht in der Hand, wie seine Geschichte erzählt würde, und er konnte nicht entscheiden, wie er in Erinnerung blieb. Nur ein Wort brauchte es und aus einem Rechtschaffenen würde ein Monster. Ob er der Antagonist oder der Held der Geschichte war, hing von dem Erzähler ab.
Murasaki brachte ihn in den Thronsaal und stellte ihn einige Meter gegenüber der Tür auf. Er drehte ihn in Richtung des Einganges und sagte: „Dort werden sie hineinkommen. Sie haben mittlerweile die Stadt betreten und werden in einigen Minuten hier sein."
Lloyd nickte. Der Gedanke an das, was folgte, schnürte ihm die Kehle zu, bis er kaum mehr atmen, geschweige denn sprechen konnte. Die Leere in seinem Inneren füllte sich langsam mit Angst, mit Aufregung und mit Beklemmung. Er begann zu zittern und umschloss den Knauf seines Gehstockes fester, bis das Weiße an seinen Knöcheln hervortrat.
Eine Berührung strich ihm über die Wange. „Ich werde mir das Ganze aus der Ferne ansehen", sagte Murasaki. „Doch, ehe ich gehe, möchte ich Euch noch eine Sache sagen. Ungeachtet, wie es heute ausgeht, meine Tür steht Euch immer offen. Ob Ihr des Nachts oder mitten am Tag bei mir anklopft, ich werde Euch einlassen."
„Habt Dank", sagte Lloyd leise. Er befürchtete, die Worte könnten seine Kehle nicht verlassen, wenn er zu laut sprach.
Schritte erklangen vor der Tür. Viele Schritte.
„Doch nun ist es an der Zeit erstmal Abschied zu nehmen, Sweetie", sprach der Erzähler schnell. Er hatte es bis zur letzten Sekunde hinausgezögert, doch nun rann ihm die Zeit aus den Fingern. „Ich hoffe, dies ist nicht das letzte Mal, dass wir uns sehen werden."
Mit dem lauten Knall, als die Tür aufgestoßen wurde, verschwand der Erzähler. Nur das leise Klirren zog sich noch kurz durch den Raum, viel länger aber durch Lloyds Verstand. Lauter, als es jemals zuvor war, doch so leise, dass keiner der Ankömmlinge es hörte.
Lloyd straffte die Schultern und holte tief Luft. Oft hatte er in den letzten Tagen darüber nachgedacht, wieder in den Norden zu gehen und niemandem zu erzählen, dass er den Süden zerstört hatte. Doch etwas hatte ihn gezwungen zu bleiben. Er wollte nicht länger fortlaufen.
Schritte sammelten sich im Thronsaal. Menschen wie auch Elfen umstellten ihn und richteten Pfeile auf ihn, um ihn in Schach zu halten.
Hier würde es sich entscheiden und hier würde es enden.
Die Soldaten teilten sich und gaben den beiden Heerführern die Möglichkeit einzutreten. Doch kaum einen Schritt kamen sie in den Thronsaal hinein, da erstarrten beide angesichts der Person, die sie einige Meter entfernt vor sich fanden. Wie ein Scherz schien es, denn keiner der beiden hatte erwartet, Lloyd hier zu sehen.
„Du?" Tavaren ergriff als erster das Wort. Er sah fragend zu Leandras, dachte, dass es sich um eine List der Elfen handeln könnte, aber ein Blick auf den Elfenkönig verriet, dass dieser ebenso verwundert war.
Er selbst dachte, dass der Herzog gemeinsam mit seinem Sohn ihn in eine Falle gelockt hatte. Den Blick ließ er zwischen Lloyd und Tavaren hin und her schweifen, bis er schließlich an seinem Sohn hängen blieb.
„Du bist für all dies verantwortlich?", fragte Tavaren, die Stimme erhoben. Den Zorn und das Unverständnis versuchte er vergeblich zurückzuhalten. Er wollte es nicht glauben, doch nun ergaben die Worte, die Lloyd bei der letzten Begegnung gesprochen hatte, erschreckend viel Sinn.
„Ja, bin ich", antwortete der Elf. So ruhig wie möglich versuchte er zu bleiben und die Stimme fest klingen zu lassen. „Ich will keinen Kampf und werde mich ergeben", sprach er weiter. „Jede Strafe nehme ich an."
Tavaren wollte nicht glauben, was Lloyd dort sprach. Er fragte sich, ob der Elf überhaupt wusste, dass für dieses Verbrechen der Tod auf ihn wartete. Durch ihn ging ein ganzes Land verloren, unzählige Menschen starben bei dem Versuch, ihm zu entfliehen.
Lloyd trat einen Schritt nach vorne und öffnete seinen Mund, um weiterzusprechen. Doch ehe er ein Wort sagen konnte, schnellte ein Pfeil an Tavaren vorbei und bohrte sich in Lloyds Schulter.
Ein Laut des Schmerzes und der Überraschung brachte er hervor. Er griff nach dem Holz, brach es und warf die Reste auf den Boden. Rötlich färbte sich der Gehrock um die Wunde herum.
Sie hatten zuerst angegriffen. Waffenlose Hände hatte er ihnen entgegengestreckt und sie schlugen ihm die Finger ab.
Tavaren wandte sich dem Schützen zu. Er konnte nur über die Gründe mutmaßen, die ihn dazu gebracht haben, den Pfeil loszuschicken. Unerfahrenheit im Kampf, die ihm zitternde Hände bereitet hatte, sodass er den Bogen nicht länger halten konnte. Angst, dass der König sie angreifen wollte, als er einen Schritt vorwärts gegangen war. Rache, falls er Familie und Freunde an ihn verloren hatte.
Der Herzog öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber ein Schnauben unterbrach ihn und dieses Schnauben ging in ein leises frostiges Lachen über. Rau, kalt und ohne Vergebung.
Wahnsinn flackerte in den weißen Augen auf und ließ jeden im Schloss erschauern. Finsternis umhüllte das Schloss, die Schatten, die Lloyd in sich trug. Sie züngelten, um die Soldaten, doch noch drohten sie nur.
„Soll ich hier etwa der Böse sein?", kam von dem König, rau die Stimme und gnadenlos der Ton. „Ich wollte Frieden! Das war immer mein einziges Ziel."
Tavaren wusste, dass es nun zu spät war. Sie hatten den Fehler gemacht und nun mussten sie mit den Konsequenzen leben. Er griff Leandras' Arm und zog ihn aus dem Schloss ins Freie. Keine Sekunde später zischten die Schatten auf die Soldaten nieder.
Schreie hallten durch den Palast und krochen dem Herzog unter die Haut, aber er zwang sich, sie auszublenden.
„Ihr könnt mich ein Monster nennen", fuhr Lloyd fort. Seine Stimme übertönte die Schreie. Wutentbrannt und zornig über das Unrecht, das ihm widerfahren war. „Aber bin ich hier nicht der Held? Ich litt und verlor mehr, als jeder einzelne von Euch und glaubt mir, ich mag diesen Pfad auch nicht. Niemand würde ihn mögen, aber es ist der einzige Weg, der mir noch bleibt."
Nur einer Handvoll derer, die das Schloss betreten hatten, gelang es, ins Freie zu treten. Draußen wartete eine weitere Truppe. Der Schrecken über die Schmerzensschreie ihrer Kameraden stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Zurück!" rief Tavaren. „Aus der Stadt und zu den anderen."
„In den Wald", sagte Leandras. „Gegen das hier helfen keine Waffen."
Der Herzog nickte und gab seinen Soldaten mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie auf den Elfenkönig hören sollten.
Sofort rannten sie los. Tavaren und Leandras ganz hinten, denn wenn es jemandem gelingen würde, die Schatten aufhalten zu können, dann waren die beiden es.
Sie hatten sich schon einen Vorsprung erarbeitet, ehe Lloyd aus dem Thronsaal trat. Humpelnd konnte er ihnen nicht hinterher hasten, sodass sie die Stadt vor ihm verlassen konnten, um in den Wald zu rennen, in dem sie hoffentlich Schutz finden konnten.
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