Der Sieger, der verlieren musste I
Ein zweites Mal wachte Lloyd in der Nacht auf. Vorsichtig entließ er den warmen Körper aus seinen Armen und drückte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn, ehe er sich erhob.
Hastig schlüpfte er in seine Kleidung und verließ dann das Zimmer. Sein Humpeln ließ die Schritte schwerer klingen und zu schleichen, war ihm kaum möglich, aber Tavaren erwachte nicht.
Die Tür schloss er leise hinter sich und flüsterte dann „Murasaki" in den dunklen Korridor. Er machte sich keine Hoffnung, dass er allein aus dem Herrenhaus finden würde, aber mit ein bisschen Glück würde der Erzähler sein Wort halten und ihn holen.
Nur wenige Augenblicke später hörte er das vertraute Klirren. Eine Hand griff ihn am Arm und schon hatte er das Kestrel-Anwesen verlassen und war zurück in Benela angekommen.
„Ich hätte erwartet, dass Ihr länger bleiben würdet", sagte Murasaki, während er den Elfen noch kurz stützte, bis die Übelkeit nachgelassen hatte.
„Tavaren und mein Vater wollen hierher in den Kampf ziehen", erklärte Lloyd.
„Ich weiß", kam von dem Erzähler.
Lloyd stockte kurz, aber er fragte nicht, woher Murasaki diese Informationen hatte und auch nicht, weshalb er ihm nichts davon erzählt hatte. „Es gibt etwas, das ich tun muss, bevor sie hier ankommen", sagte er. „Wisst Ihr, ob Elliot zurück ist?"
„Ist er", antwortete Murasaki. „Wenn ich mich nicht irre, dann streift er in den Gärten umher... oder zumindest in dem, was von ihnen noch übrig ist."
Lloyd nickte nur und machte sich auf den Weg. Er hoffte, dass Murasaki ihn nicht begleiten würde, aber kurz nachdem er losgegangen war, hörte er die klirrenden Schritte hinter sich, die schnell zu ihm aufholten. Kurz überlegte er, den Mund aufzumachen und dem Erzähler zu sagen, dass er ihn nicht dabei haben wollte, aber er schwieg und setzte stumm seinen Weg fort.
Die Gärten waren einst eine riesige Landschaft gewesen, in denen sowohl Tiere als auch Pflanzen ihren Platz gefunden hatten. Das Kernstück war eine Hecke, die rote Rosen getragen hatte. Die Schönsten diesseits des Gebirges, wenn man den Betrachtern Glauben schenken wollte.
Doch nun war die Hecke nicht mehr als ein kleiner Zweig, der aus dem Boden spross und nur eine Rose trug er. Farblos und fahl. Eine dünne Eisschicht überzog sie und ebenso den Boden und alles, was sich außerhalb des Schlosses befand.
Selbst den Drachen würde sie einnehmen, wenn er sich nicht bewegen würde. Gedankenverloren streifte er um die Rose herum, doch als Lloyd die Tür öffnete und nach draußen trat, sah Elliot auf und kam mit einem Lächeln zu ihm.
„Mein König, Ihr seid zurück", sagte er, sichtlich erfreut.
Doch Lloyd legte alle Wärme ab. Er hob sein Kinn und befahl mit fester Stimme: „Geh. Verlasse dieses Reich. Ich will dich nicht länger bei mir haben."
Elliot stutzte. Sein Blick schweifte zu Murasaki, der mit verschränkten Armen hinter dem Elfen stand, und dann wieder zurück zu Lloyd. „Mein König –", setzte er an, aber Lloyd schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
Er stieß ein Schnauben aus. „Hast du mich nicht gehört?" Die Temperatur seiner Stimme sank ab, als versuchte sie dem Eis Konkurrenz zu machen. „Du sollst verschwinden. Ich habe dir damals gesagt, dass du mir nichts bedeutest, also tue nicht so verwundert. Ich brauche dich nicht länger. Geh also. Wohin kümmert mich nicht, solange du bloß niemals wieder zu mir kommst."
Elliot war wie erstarrt. Er wollte nicht glauben, dass dies gerade geschah. „Mein König", begann er. „Verzeiht, wenn ich Eure Wünsche nicht zu Eurer Zufriedenheit erfüllen konnte und wenn meine Fähigkeiten Euren Vorstellungen nicht entsprochen haben, aber ich kann mich bessern. Ich werde mich bessern. Nur, ich flehe Euch an, schickt mich nicht fort."
Er fiel auf die Knie, stemmte beide Hände in die Asche und senkte sein Haupt, um den unnachgiebigen Blick seines Königs nicht weiterhin ertragen zu müssen.
„Bitte", flüsterte er. „Wenn Ihr mir nicht begegnen wollt, dann werde ich Euch aus dem Weg gehen, nur, bitte, lasst mich an Eurer Seite bleiben."
„Nein", durchschnitt die Stimme des Königs alle Hoffnungen. Kalt, wie die Schneide eines Messers. Frostiger als Eis je sein könnte. „Meine Geduld mit dir ist am Ende. Geh sofort und hoffe, dass du mir niemals wieder begegnest."
Nachdem all sein Flehen keine Wirkung gezeigt hatte, blieb Elliot nichts anderes übrig, als sich zu erheben und dem Wunsch seines Königs nachzukommen. Ein Gebet schickte er zu Regna, fragte ihn, weshalb ihm dies widerfuhr, doch der Gott antwortete nicht.
Lloyd hörte das Schlagen der Flügel und spürte einen Luftzug, als sich der Drache in die Höhe begab. Und damit wusste er, Elliot hatte ihn verlassen.
Mit einem schweren Seufzen drehte er sich um, doch als wäre der Abschied von dem Drachen nicht schon hart genug gewesen, stand er nun einer anderen Herausforderung gegenüber.
„Autsch", sagte der Erzähler. Er hatte hinter den Elfen gestanden und das Geschehen verfolgt, doch nun hüpfte er wieder an seine Seite. „Wie gemein."
Lloyd holte tief Luft. „Ich möchte, dass Ihr auch geht", sagte er.
„Seid Ihr Euch da sicher?", fragte Murasaki. „Ich werde Euch nicht auf Knien anflehen, hier zu bleiben."
Lloyd nickte langsam und wiederholte: „Ich möchte, dass Ihr geht."
„Wie Ihr wollt", sagte Murasaki. „Lebt wohl, Sweetie." Kurz erklangen die Ketten, doch das Rasseln wich absoluter Stille. Stille, so laut, dass Lloyds Herz angstvoll Adrenalin in sein Blut pumpte.
Er versuchte seine Atmung zu kontrollieren, aber die Ruhe erdrückte ihn. Die Hand an dem Knauf des Gehstockes zitterte, bis sie den Halt verlor und der Elf zu Boden sank.
Doch weinen konnte er nicht. Zu irreal schien ihm alles. Zu falsch, als dass es tatsächlich ihm geschehen war. Ein Traum, aus dem er nicht erwachen konnte und der sich wie Fesseln um seine Handgelenke zog, damit der König niemals befreit würde und nur tiefer in dem Abgrund versank, bis er nicht länger gerettet werden konnte.
Denn das Schicksal hatte sich von ihm losgesagt. Der Zufall, der ihm stets geholfen hatte, war verschwunden und Glück hatte ihn noch nie gerettet.
„Wisst Ihr", ertönte die Stimme, ehe das Klirren einsetzte. „Ich habe schon immer ungern darauf gehört, was man mir sagt. Und mittlerweile bin ich wohl auch wirklich alt genug, um selbst zu wissen, was ich zu tun und zu lassen habe."
Die Last der Stille verschwand. Langsam, vorsichtig, um sich nicht unnötigen Schmerzen auszusetzen, hob sich Lloyd wieder auf die Beine.
„Ihr habt Elliot fortgeschickt, weil Ihr nicht wollt, dass jemand außer Euch mit diesem –" Er deutete auf die Asche um sich herum „— Was auch immer es ist, das Ihr hier angestellt habt, in Verbindung gesetzt wird. In Ordnung. Schön. Dann erleichtert Euer Gewissen und ich werde auch fortgehen, bevor Tavaren und Leandras herkommen. Aber es wird noch Tage dauern, ehe sie hier sind, und die Zeit bis dahin kann sehr langweilig werden. In kurz: Ich bleibe bei Euch."
„Mhm", machte Lloyd nur. Er ging an ihm vorbei, öffnete die Tür und trat in das Innere des Schlosses. Wahrlich aufgenommen hatte er nur die Hälfte von Murasakis Worten. Darunter das Wichtigste: Der Erzähler würde bleiben. Obwohl er ihn fortgeschickt hatte, konnte er nicht leugnen, dass es ihn freute, dass er nicht auf ihn gehört hatte.
Der Erzähler folgte ihm in Innere. „Dann wollt Ihr wirklich hierbleiben?", fragte er. „Wäre es nicht einfacher, Tavaren oder auch Eurem Vater entgegenzukommen, vielleicht einen Brief zu schreiben, und ihnen alles zu erklären?"
„Wäre es", murmelte Lloyd. „Aber..." Er blieb stehen und drehte sich um. „Als ich bei Tavaren war, wollte ich es ihm sagen, aber etwas hielt mich auf. Ich weiß nicht, was es war, aber ich konnte ihm nichts sagen."
„Es ist Angst", antwortete Murasaki. Er legte ihm eine Hand auf den Rücken und schob ihn vorsichtig nach vorne, brachte ihn dazu, gedankenverloren weiterzugehen, während er die Richtung vorgab.
„Ich verstehe es", sprach er weiter. „Angst kann einen dazu bringen, Dinge sein zu lassen, die man eigentlich tun möchte oder auch zu schweigen, wenn man sprechen sollte. Eine seltsame Erscheinung diese Angst. Sie schickt Rettung in ausweglosen Situationen, stößt einen aber auch in den Untergang. Niemandem ist sie fremd, aber niemand möchte zugeben, dass er sie kennt."
Lloyd hatte bis jetzt geschwiegen, doch nun, als Murasaki eine Sprechpause machte, nutzte er die Chance und fragte: „Bin ich zu weit gegangen?"
„Zu weit?", wiederholte Murasaki. „Wir haben doch alle schon unsere Fehler gemacht. Einige so nichtig, dass sie niemandem auffallen und andere verändern das Schicksal. Ich habe Fortuna zwar schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber sie war damals immer aufgebracht, wenn jemand ihr Werk zunichte gemacht hat. Jeden Weg hat sie aufgeschrieben, jedes mögliche Szenario erdacht, doch irgendwer fand ständig eine Möglichkeit, um neue Wege zu schlagen, neue Szenarien zu erschaffen. Und dann musste sie alles von neuem aufschreiben."
Er öffnete eine Tür und leitete Lloyd hinein. Der Raum dahinter war vollgestellt mit Bücherregalen und in der Mitte standen zwei Sessel. Nur einen Tag hatte Murasaki gebraucht, um sich in diesem Palast häuslich einzurichten.
In einen der Sessel drückte der Erzähler ihn, aber anstatt sich in dem anderen niederzulassen, setzte er sich auf die Armlehne zu ihm.
„Was habt Ihr schon getan?", fragte Lloyd. Er wollte der Stille keine Gelegenheit geben, ihn wieder zu Boden zu werfen.
„Vieles, Sweetie", sagte Murasaki. „Fast alles, dass Ihr Euch auch nur irgendwie erdenken könnt und das meiste davon nicht nur einmal." Kurz schwieg er, ehe er sagte: „Wollt Ihr wirklich wissen, welche Bürden ich mit mir trage?"
Lloyd nickte. Alles konnte er ertragen, nur das Schweigen wollte er nicht hören.
„Doch lasst mich Euch zuvor sagen. Das, was ich Euch erzählen werde, ist teilweise mehrere tausende Jahre her. Ich bin nicht länger, wer ich einst war und daher behaltet mich nicht anhand dessen in Erinnerung, sondern wie Ihr mich in den letzten Jahren kennengelernt habt."
Murasaki griff sich eine Strähne des weißen Haares und spielte zwischen zwei Fingern mit ihr. „Mein erstes Verbrechen lässt sich am ehesten als Verrat zusammenfassen." Er stieß ein belustigtes Schnauben aus. „Alle meine Verbrechen nennen sich Verrat, also lasst mich eine andere Einleitung versuchen.
Ich fiel, weil meine Familie mich nicht länger bei sich haben wollte, und aus demselben Grund verstießen sie mich, doch das geschah erst eine Weile später. Nachdem mich der Fall nicht umgebracht und insgesamt kaum Wirkung an mir gezeigt hatte, mussten sie einen anderen Weg finden, wie sie mir die Güte entziehen.
Damals starben meine Freunde durch meine Hand, doch einer von ihnen plante, mich mit sich nach unten zu ziehen. Er ließ mich ein Verbrechen begehen, dass mir alle Güte nehmen sollte. Doch – offensichtlich – hat es nicht funktioniert, wie es erdacht war.
Die Zeit danach verbrachte ich in Einsamkeit. Nicht weil ich es wollte, sondern weil ich kein anderes Lebewesen mehr in dieser Welt finden konnte. Ein Gutes hatte es allerdings. Sobald sich das Leben erholte und mir wieder gefährlich werden konnte, hatte ich einen großen Teil meiner damaligen Stärke zurückgewonnen und war nicht länger unbewaffnet oder gar wehrlos.
Doch mit dem Leben wuchs auch die Verantwortung, die ich trug. Und sie konnte ich nicht schultern. Einige wenige gute Entscheidungen traf ich, aber umso mehr verhängnisvolle.
Ein Volk schickte ich auf der Suche nach Glück mitten in ein schneeverhangenes Gebirge. Den einzig Verbliebenen versuchte ich zu schützen, doch beschwerlicher wurde sein Leben durch mich. In vierundzwanzig Büchern wurde sein Leben verfasst, seine Reise, bis er der größte Held unserer Zeit war. Und jedes Übel von mir hervorgerufen. Doch zumindest mein Geschenk – das Licht selbst – hat ihn nie verraten und daher gewährt er es an seiner Seite.
Aber irgendwann verließ ich diesen Helden und brach in ein anderes Land auf. Ich durchquerte das Gebirge eigens und fand, was auch Ihr dahinter gefunden habt. Diese andere Welt. Dort wollte ich ein neues Leben beginnen. Als ein Besserer, gerechter und großherzig. Ich half nicht nur, ich rettete sogar.
Man errichtete mir Schreine und schickte mir Gebete. Sie verehrten mich als einen Gott, doch mit jedem Tag ließen meine Mächte nach. Mit jeder Bitte, die an einem meiner Altäre gestellt wurde, schwanden meine Kräfte. Aus Angst meine Jünger würden mich verlassen, wenn ich zu oft versage, zog ich mich zurück, ehe sie sich von mir lossagen konnten.
Meine Statuen und Tempel rissen sie ein, doch einige wenige Glaubende gibt es noch. Jedes ihrer Gebete höre ich, doch keinem kann ich beistehen. Denn ich bin nicht länger, wer ich einst war und ein Gott möchte ich niemals wieder sein."
Die Erzählung beendete er mit einem leisen Seufzen. „Ich hoffe, Ihr habt Euch jedes meiner Worte gemerkt, denn ich werde die Geschichte nicht noch einmal erzählen."
Lloyd nickte geistesabwesend. Unwirklich erschien es ihm, doch nur, weil er es schon lange geahnt hatte. Jede Geschichte, die ihm Murasaki bisher erzählt hatte, war nicht über einen Fremden, sondern über ihn selbst gewesen. Der Prophet, Hunger und sogar Regna. Alles wahr, obwohl es unwahrer nicht klingen könnte.
Er sah in Murasakis Richtung und zog ihm damit die schneeweiße Strähne, die er immer noch zwischen seinen Fingern entlangrinnen ließ, aus der Hand. „Wie alt seid Ihr?"
Der Erzähler lachte leise. „Das ist immer noch eine unhöfliche Frage." Er griff sich eine neue Strähne. Eine die nicht sofort zu sehen war, doch statt sie nun nur zu halten, begann er, sie zu flechten. „Und sie ist schwerer zu beantworten, als Ihr vielleicht glaubt. Wie lassen sich Tage zählen, wenn die Monde vom Himmel gefallen sind? Wenn man durch eine Wüste zieht, einzig begleitet durch Einsamkeit, so lange, bis man jedes Zeitgefühl verliert?"
Er holte eine dunkelviolette Perle aus seinem Ärmel und zog sie über die geflochtene Strähne. „Ich lebe länger, als ich hätte leben sollen. Mein Tod war lange geplant, denn ich sollte gemeinsam mit Laurent über die Unterwelt herrschen. Aber... nun, ich sagte ja bereits, dass ich ungern tue, was man von mir möchte und daher starb ich nie wahrhaftig. So selten mein Herz auch schlägt, noch hat es nicht aufgegeben."
Er ließ die Strähne los und betrachtete sein Werk. „Das wird seinen Zweck erfüllen." Dann stand er auf und stellte sich vor Lloyd. „Es wird noch sehr lange dauern, bis Tavaren und Leandras hier ankommen, also lasst mich Euch eine Geschichte erzählen."
Lloyd folgte den Schritten mit seinem Blick. Er ahnte Schreckliches.
„Es ist eine vierundzwanzig Bücher lange Geschichte", sagte Murasaki und beobachtete erfreut, wie Lloyd sämtliche Gesichtszüge entglitten.
„Ihr wollt das Epos meines Vaters rezitieren?", fragte er erschrocken.
„Jeden einzelnen Vers und Ihr dürft genau lauschen und mich unterbrechen, falls ich einen Fehler mache", sagte der Erzähler. „Ich möchte wissen, ob ich noch alles genau in Erinnerung habe."
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