Dem Henker blindes Vertrauen
Lloyd sah seine eigene Gestalt im Spiegel. Er hatte die letzte Stunde damit verbracht, nur dort zu stehen und sich zu betrachten. Das Blut aus seinem Hals wurde von seiner Kleidung aufgesogen und trocknete langsam. Er sah aus, wie von einer Bestie angefallen, aber statt auf die zerzausten Haare oder die geröteten Augen zu schauen, sah er nur das Blut, das sich deutlich auf der weißen Haut hervorhob.
Er holte tief Luft und wandte sich von seinem Spiegelbild ab. Er wollte keine einzige Nacht mehr hier verbringen. Nicht noch einmal würde er sich so in die Ecke drängen lassen.
Hab und Gut besaß er hier ohnehin nicht. Ein neues Hemd holte er sich aus Kematians Zimmer. Der Rabe selbst war noch nicht zurückkehrt und Lloyd wollte auch nicht warten, bis er ihm noch einmal über den Weg lief, um sich verabschieden zu können.
Die Bissspuren konnte er größtenteils mit dem dicken Kragen des Umhangs verbergen. Und dann verließ er hastig das Haus. Die Nacht war kalt und die Straßen menschenleer. Nur die Zwillingsmonde spendeten silbernes Licht.
Weiterhin gedankenverloren streifte er durch die Straßen. Er wusste nicht, wohin, nur dass er Kematian nicht noch einmal sehen wollte.
Seine Beine trugen ihn vor Murasakis Haus. Bedrohlich ragte es vor ihm auf. Die Fenster waren wie düstere Augen, die auf ihn niederblickten. Nur hinter einem Glas im oberen Stockwerk brannte noch Licht.
Er stieg die zwei Stufen zur Tür hoch und hob seine Hand, um gegen das Holz zu klopfen. Aber er stockte. Was machte er hier überhaupt, fragte er sich. Er kannte doch den Erzähler kaum. Schon allein die Frage, die er ihm früher am Tag gestellt hatte, ob er bei ihm unterkommen könnte, war ihm nun unangenehm. Er wusste nicht mehr, weshalb er ihm überhaupt vertraut hatte.
Und nun, nachdem Murasaki ihm doch gesagt hatte, er sollte ihm nicht trauen... Nun stand er wieder hier. Er sollte hier nicht sein. Weder wusste er, wer der Erzähler war, noch wie er mit Leandras oder Tavaren verstrickt war, weshalb er ihm half oder wieso er immer in den seltsamsten Situationen auftauchte.
Lloyd wandte sich von der Tür ab und stieg die Stufen hinab. Wohin er gehen sollte, wusste er zwar immer noch nicht, aber alles war besser, als in Cyrill zu bleiben.
Er war keine zwei Schritte gegangen, da hörte er das Knarren einer sich öffnenden Tür. „Wollt Ihr reinkommen?"
Lloyd drehte sich um. Murasaki stand in der Tür an den Rahmen gelehnt. Aus dem Inneren wurde schummeriges Licht nach draußen geworfen.
„Keine Sorge", sagte Murasaki. „Kyrat ist fort. Diesmal werden wir nicht unterbrochen."
Lloyd ließ seine Schultern hängen und ging zu ihm. Der Erzähler schob ihn vorsichtig in das Haus und schloss die Tür hinter ihm. „Setzt Euch", sagte er und deutete auf den Sessel.
Lloyd schlurfte durch den Raum und ließ sich nieder. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Verzeiht, dass ich jetzt schon wieder hier bin", sagte er. Seine Stimme klang immer noch dünn, obwohl schon eine Stunde vergangen war, seit seiner letzten Begegnung mit Kematian.
Wortlos ging Murasaki durch den Raum. Er öffnete einen Schrank und kam mit einer kleinen Phiole wieder, die er ihm vor die Nase hielt.
Lloyd hob seinen Kopf. „Was ist das?", fragte er.
„Das wird helfen, die Bisse zu heilen", antwortete Murasaki, aber gerade als Lloyd danach greifen wollte, zog er seine Hand wieder weg. Er wandte sich ab und hielt die Phiole in das Licht, um die grüne Flüssigkeit darin besser betrachten zu können. „Das ist nicht das Richtige", murmelte er und ging zurück zu dem Schrank. „Das hätte Euch vermutlich umgebracht."
In diesem Moment fasste Lloyd den Entschluss, niemals etwas, das Murasaki ihm zur ‚Heilung' gab, anzunehmen. Es konnte doch keine gute Ordnung sein, Gifte direkt neben Medizin zu lagern.
Der Erzähler wühlte noch einige Sekunden lang in dem Schrank herum. „Das nicht", murmelte er und schob einige Phiolen beiseite. „Das auch nicht... Hm... Ah, hier." Er griff nach einem Fläschchen und hielt es Lloyd entgegen. Auch darin war grüne Flüssigkeit und der Elf konnte keinen Unterschied zu der anderen feststellen.
„Ich..." setzte Lloyd an, aber Murasaki unterbrach ihn.
„Ihr werdet es nicht annehmen." Der Erzähler seufzte. „Natürlich nicht." Er drehte sich wieder um und stellte das Fläschchen zurück und schloss den Schrank.
„Ihr wart derjenige, der gesagt hat, ich sollte Euch nicht vertrauen", sagte Lloyd und folgte Murasaki mit seinem Blick, während dieser zu einem anderen Schrank ging. Das Klirren begleitete jeden seiner Schritte.
„So ganz haltet Ihr Euch nicht an meine Worte, wie mir scheint", sagte Murasaki. „Schließlich seid Ihr wieder hier. Mitten in der Nacht. Ihr setzt alle Hoffnung auf mich. Nun, da ihr keinen anderen Ort mehr habt, an den Ihr fliehen könnt, schlagt Ihr vor meiner Tür auf und vertraut auf meine Hilfe."
Ein Schauer lief Lloyds Rücken hinab. Diese Worte hatten einen drohenden Ton. Er war sich sicher, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
„Ich will bei Morgengrauen in den Norden aufbrechen", murmelte er. „Dann braucht Ihr mich nicht länger ertragen."
„In den Norden also", sagte Murasaki. „Dann glaubt Ihr, dass Ihr es lebendig bis dorthin schaffen werdet?"
Lloyd sank ein Stück in sich zusammen. „Ich werde vorsichtig sein."
Murasaki kam mit einem Verband in der Hand zurück. „Zieht den Umhang aus", sagte er.
Lloyd brummte kurz, um seine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, aber ohne Widerworte streifte er seinen Umhang ab und warf ihn über die Lehne. Er öffnete auch die obersten Knöpfe seines Hemdes und zog den Kragen beiseite, um seinen Hals und damit auch die Bisse gänzlich zu entblößen.
Mit einem Seufzen setzte sich Murasaki auf die Armlehne, legte eine Hand an Lloyds Kopf und neigte ihn leicht zur Seite. Die Haut um die Wunden spannte sich schmerzhaft, aber der Elf machte keinen Ton. Viel unangenehmer als den Schmerz, fand er nämlich Murasakis Blick, unter dem er die Musterung ertragen musste.
Denn auch wenn Murasaki nicht dabei gewesen war, wusste er, was geschehen war, Lloyds Aussehen sprach Bände. Nicht nur die Bisse am Hals, nein, auch die roten Würgemale, die sich langsam bläulich färbten, verrieten die Ereignisse der Nacht. Die Augen waren immer noch leicht gerötet, seine Lippen geschwollen. Die Haare hatte er zwar zusammengebunden, aber einige Strähnen waren dennoch zerzaust und verfilzt.
Am liebsten hätte Lloyd seinen Kopf weggezogen, und Murasaki hätte ihn auch keinesfalls gehindert, aber er verharrte in der Starre und ließ den stechenden Blick weiterhin über sich ergehen.
Auf die feuchten, erröteten Wangen, sah Murasaki. Und auf die aufgequollenen Augen. Dann erst auf den verunstalteten Hals.
„Er hat sich wirklich nicht zurückgehalten", sagte er und seufzte. Er ließ den Kopf des Elfen los, sodass dieser ihn wieder gerade halten konnte.
„Mhm", machte Lloyd nur.
„Es wird Euch nicht umbringen, aber Narben werden bleiben." Murasaki stand wieder auf und ging in einen anderen Raum.
„Mhm...", murmelte Lloyd erneut. Er hatte nicht erwartet, dass die Ereignisse keinen Spuren hinterlassen würden, doch er hatte es gehofft. Ihm machte es schon genug Angst, dass der Schnitt auf seiner Wange, den Leandras hinterlassen hatte, nur mit einer Narbe verheilen könnte. Und bei der Kerbe an seinem Ohr, da hatte er alle Hoffnung verloren.
Nach einigen Sekunden kehrte Murasaki mit einer Schüssel voll mit Wasser und einem Lappen, der darin schwamm, zurück. Wieder setzte er sich zu Lloyd. Stumm tauchte er den Lappen in das Wasser, wrang ihn aus und begann die Haut an dessen Hals abzutupfen.
„Versorgt Ihr oft Verletzungen?", fragte Lloyd.
„Nicht mehr, aber als Kyrat noch jünger war, hat er sich ein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht", sagte Murasaki. „Ohne meine Hilfe wäre er wohl schon oft gestorben."
„Ihr kennt Kyrat schon lange?" Lloyd sah dies als Chance, etwas über die beiden zu erfahren.
„Einige hundert Jahre."
Und damit waren alle Hoffnungen zunichte gemacht. Wie hätte er erwarten können, dass Murasaki seine Fragen ernsthaft beantworten würde, fragte er sich.
„Ihr habt ihn nicht wieder in einen Brunnen geworfen, damit er Euch nicht stört, oder?" Nachdem er diesen Gedanken ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass Murasaki genau das wieder getan hatte.
Aber der Erzähler verneinte: „Nein, nein natürlich nicht."
Lloyd atmete erleichtert auf, aber da hatte er Murasakis folgende Worte noch nicht gehört.
„Letztes Mal hat er sich viel schneller befreien können, als ich erwartet hatte", fuhr er fort. „Diesmal habe ich ihn ein einen Teich geworfen. In den Unterweltsteich, um genau zu sein. Und falls er sich von dem Stein, den ich ihm an den Fuß gebunden habe, befreien kann, dann muss er immer noch dem Tod entkommen und der hegt einen tiefen Groll gegen den Jungen... Gegen mich auch, aber mich wagt er nicht, anzurühren. Kyrat wird also eine Weile beschäftigt sein und wir haben mehr als genug Zeit."
Lloyd war sprachlos von dieser Erklärung. „Ist jemals ein Wort, das Ihr sprecht, wahr?", fragte er. Doch im nächsten Moment hätte er sich dafür am liebsten die Zunge abgebissen. Wer auch immer Murasaki war, ob nun ein Lügner oder nicht, irgendwie hatte er Kyrat aus dem Weg geräumt und selbst wenn er nur in Halbwahrheiten sprach, so könnte der Junge genau in diesem Moment am Grunde eines Sees liegen... und Lloyd wollte nicht der nächste sein.
Ein leises Glucksen kam von Murasaki. „Selten, Sweetie, aber manchmal können Wunder geschehen." Er legte den Lappen zurück in das Wasser und zog eine Salbe aus seinem Ärmel, die er Lloyd sogleich auf den Hals schmierte, ehe der Elf die Behandlung verweigern konnte. Bei der Kälte zuckte er kurz zusammen, schwieg aber, obwohl ihn brennend interessierte, womit Murasaki seine Wunden behandelte.
„Habt Ihr das Paradoxon bemerkt?", fragte Murasaki dann.
„Welches Paradoxon?" Lloyd war nichts aufgefallen, aber er musste gestehen, dass er den Worten des Erzählers auch nur ein Ohr geschenkt hatte.
„Habt Ihr also nichts", sagte Murasaki. „Nun, ich hätte ein wenig mehr von Euch erwartet."
Die Worte, die Lloyd auf der Zunge lagen, schluckte er wieder herunter. Er bewegte sich schon auf dünnem Eis und da sein Gegenüber ihm eine Unterkunft zugesichert hatte, konnte er es sich nicht leisten einzubrechen.
„Sprecht nur", sagte Murasaki. „Immer herauszufinden, was in Eurem Kopf vor sich geht, kann auf Dauer sehr anstrengend sein."
Lloyd warf einen Blick auf ihn. Die goldenen Augen durchbohrten ihn, als würden sie in seinem Verstand wühlen wollen. Er wandte seinen Blick schnell wieder ab.
„Ich mag Euch nicht", murmelte er.
Ein leises Lachen kam von Murasaki. „Ihr hättet mich sehr enttäuscht, wenn ihr mich mögen würdet."
„Hmpf", machte der Elf, aber das brachte Murasaki nur dazu, noch lauter zu lachen.
„Hört auf damit!" Lloyd klang wie ein trotziges Kind, aber in diesem Moment kümmerte ihn das nicht.
Murasaki winkte sichtlich erheitert ab. „Ich mache doch gar nichts." Doch gerade als Lloyd sich schon innerlich ohrfeigen wollte, weshalb er überhaupt zu dem Erzähler gegangen war, hörte dieser tatsächlich auf zu lachen und widmete sich wieder den Verletzungen. Geschickt wickelte er den Verband um den Hals, bedacht darauf, Lloyd noch ausreichend Luft zu lassen.
Nach einigen Sekunden meinte er. „So, fertig." Er erhob sich und begutachtete sein Werk. „Ja, das kann man gelten lassen.
Lloyd tastete an seinem Hals entlang. Jeder einzelne Biss war unter dem Verband verschwunden. Jedoch wurde er von einem anderen Umstand abgelenkt. „Ihr habt dort eine Schleife gemacht!?", fragte er erschüttert.
„Irgendwo habe ich auch noch ein Glöckchen", sagte Murasaki und wandte sich schon ab, um danach zu suchen.
„Nein!", protestierte Lloyd und sprang auf, damit er notfalls wegrennen konnte. „Hättet Ihr nicht einfach einen Knoten machen können?"
Murasaki drehte sich wieder zu dem Elfen um und legte in einer Bewegung, die ein wenig zu viel Theatralik besaß, die Hand an die eigene Brust. „Ich? Sehe ich so aus, als würde ich mich mit einem einfachen Knoten begnügen?"
Lloyd musterte ihn. Von den dunklen Haaren mit dem violetten Schimmer, über die Robe mit den viel zu weiten Ärmeln, bis zu den Stiefeln, an denen die silbernen Kettchen klimperten.
Nein, er sah ganz und gar nicht so aus.
„Ihr merkt es selbst, nicht wahr?" Murasakis Mundwinkel zogen sich nach oben. „Aber ich würde niemals etwas tun, gegen das Ihr Euch sträubt, Sweetie." Er löste die Schleife und machte stattdessen einen Knoten, damit Lloyd zufriedengestellt war. Aber mitten in der Bewegung stockte er und sagte: „Doch, eigentlich würde ich das. Nur jetzt gerade nicht." Und als hätte er nichts gesagt, trat er einen Schritt zurück. „Gefällt es Euch nun besser?", fragte er.
Lloyd tastete wieder nach dem Verband, um sicherzugehen, dass dort wirklich keine Schleife mehr war. Und tatsächlich. Einmal hatte der Erzähler getan, worum er ihn gebeten hatte.
„Aber ich befürchte, nun müsst Ihr mich wieder verlassen", sagte Murasaki. „Die Sonne ist bereits wieder aufgegangen und Ihr wolltet doch in den Norden aufbrechen."
So schnell war es Tag geworden? Das konnte Lloyd nicht glauben. Es war doch noch mitten in der Nacht gewesen, als er hier angekommen war. Aber ein Blick aus dem Fenster bestätigte Murasakis Worte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Der Morgen war lange vorbei. Es musste bereits mittags sein.
„Ist es nicht faszinierend, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man etwas macht, das Freude bereitet?", fragte Murasaki.
Lloyd schwieg. Er wollte ihm, nachdem er ihn schon als Lügner bezeichnet hatte, nicht auch noch unter die Nase reiben, dass die Zeit bei ihm eher leidvoll als erfreulich war.
„Aber damit Ihr heil dort ankommt, werde ich Euch bringen", sagte Murasaki und streckte seine Hand aus, damit der Elf sie ergriff. Aber Lloyd beäugte die Hand nur skeptisch und dachte nicht einmal daran, sie zu nehmen.
Murasaki wackelte mit seinen Fingern und sah ihn ermutigend, fast ein wenig vorfreudig an.
Lloyd seufzte innerlich. Was sollte schon schiefgehen? Und mit diesem Gedanken reichte er Murasaki seine Hand. Doch der Erzähler packte sie so fest, dass Lloyd wusste: Es war ein Fehler. Doch ehe sein Gedanke ganz durchdringen konnte und eine Bewegung lostreten konnte, zog Murasaki ihn zu sich.
Für den Bruchteil einer Sekunde befand er sich in dessen Armen... und dann stand er auf einem Sandweg. Vor ihm das Eisentor zu dem Kestrel-Anwesen.
Seine Knie wackelten so sehr, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. In ihm machte sich Übelkeit breit, sodass er kurz Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Er stützte sich an der Steinwand ab und verharrte dort einige Augenblicke, bis das flaue Gefühl in seinem Magen verschwunden war.
Er richtete sich auf, aber Murasaki war verschwunden. Kein Klirren der Ketten, kein lila Stoff, der in dem Wind flatterte, deutete darauf hin, dass der Erzähler auch nur für eine Sekunde hier gewesen war.
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