Auf manche Nacht folgt kein Tag I
Wenig später trennten sich die Wege der Beiden. Tavaren ging zurück zu seinem Anwesen und Lloyd in das Versteck des Meisterdiebes. Diesmal empfing ihn dort niemand oder packte ihn am Arm, um ihn hochzuschleifen. Heute ging er allein und freiwillig in das obere Stockwerk und klopfte an die Tür, hinter der er Ejahl vermutete.
Es dauerte keine Sekunde, da ertönte ein „Herein" von der anderen Seite der Tür. Lloyd drückte die Klinke herunter und trat ein. Der Fremde war verschwunden, nur Ejahl lief im Raum auf und ab.
„Lloyd, welch eine Freude Euch wiederzusehen", sagte er. Mit großen Schritten ging er auf Lloyd zu und legte einen Arm um dessen Schulter, ehe der Elf sich aus dem Staub machen konnte. „Ein letztes Mal, nehme ich an."
Lloyd schluckte und sank in sich zusammen. Dem Verhalten des Meisterdiebes nach zu urteilen, hatte er für das letzte Treffen etwas ganz Besonderes geplant.
„Aber, aber." Ejahl lachte kurz. „Ihr seht ja fast aus, als wärt Ihr ein Häschen, bereit von einem Fuchs gefressen zu werden." Er knuffte Lloyd in die Schulter.
Lloyd konnte sich nicht einmal ein unsicheres Lächeln abringen. Zu erstarrt war er, zu unwissend, was Ejahl mit ihm vorhatte.
Doch entgegen allen Erwartungen wandte sich Ejahl von ihm ab. Leicht wankend bewegte er sich zum Sofa und ließ sich in das Polster fallen. „Ehe wir auseinandergehen, habe ich noch eine letzte Warnung für Euch, Prinz." Er ignorierte Lloyds Zusammenzucken. „Mein Bekannter – Ihr habt ihn heute gesehen – er ist derzeit in den Tunneln. Sofern Ihr ihm nicht in die Quere kommt, wird er Euch vermutlich nichts tun, doch steht Ihr in seinem Weg, wird er Euch, ohne zu zögern, töten." Er nahm einen Zug aus seiner Pfeife und blies den Rauch aus seinen Nasenlöchern. „Doch nun heißt es Abschied nehmen, mein Lieber. Lasst uns hoffen, dass wir uns niemals wiedersehen." Er winkte Lloyd zum Abschied zu. „Außer natürlich..." Seine Hand legte sich auf den freien Platz neben ihm. Unkommentiert von Ejahl.
Mit einem Schnauben drehte Lloyd sich um und verließ den Raum. Ja, dachte er, diesen Mann wollte er niemals wiedersehen.
Schnell war er in den Katakomben angekommen und hatte den halben Weg zu der Residenz zurückgelegt. Wer auch immer Ejahls ‚Bekannter' war, Lloyd hatte ihn hier unten nicht gefunden.
Er bog um eine Ecke. Es sollten nur noch wenige Korridore sein, bis er an seinem Ziel angekommen war. Die Flammen in der Lampe warfen flackernde Schatten an den kalten Stein. Und plötzlich sah er ihn in dem spärlichen Licht. Die große Gestalt, die langsam auf Lloyd zukam. Mit wohlgesetzten Schritten und selbstsicher. Jeder in seinem Weg sollte unter seinen Stiefeln zermahlen werden.
Vor Schreck weiteten sich Lloyds Augen. Er wich einige Schritte zurück, stolperte und stürzte zu Boden. Zuvor hatte er es nicht erkannt. Als er bei Ejahl auf der Couch gesessen hatte, hatte er seinen Beruf versteckt. Doch nun...
Sein Gesicht, verborgen unter einer Maske. Eine Maske, die charakteristischer kaum sein könnte. Ein Schnabel zeigte des Mannes Identität. Er war ein Rabe.
Und genau dieser Rabe kam nun auf den Elfen zu. Lloyd kroch an den Rand des Ganges, doch die Hoffnung, dass er ungesehen bleiben würde, hatte er schon verloren.
Der Rabe kam näher. Lloyds Herz sprang fast aus der Brust. Doch ohne einen Blick auf ihn zu werfen, ging der Rabe an ihm vorbei. Heute Nacht hatte er andere Beute gejagt.
Nach einigen Minuten verklangen die Schritte langsam in den Tunneln und Lloyd fand wieder zu sich. Wie ein Blitz zuckte ein Gedanke in ihm auf. Der Rabe war aus der Richtung der Residenz gekommen. Argon und Cahlia.
Hastig rappelte Lloyd sich auf und rannte. Rannte, bis er an dem Fluchttunnel war. Auf der Wendeltreppe nahm er mehrere Stufen gleichzeitig, doch oben angekommen setzte sein Herz einen Schlag aus. Die Holzwand war geöffnet. Der Weinkeller dahinter deutlich sichtbar.
Lloyd sammelte seine Gedanken. Das musste nichts bedeuten, redete er sich ein. Doch eine leise Stimme konnte er nicht ausblenden. Die Raben verschonten niemanden.
Er atmete tief durch und betrat den Weinkeller. In unzähligen Regalen stapelten sich Flaschen. Keine Fackel erleuchtete oder erwärmte den Keller.
Den Raum hatte er schnell durchquert. Jedoch wollte Lloyds Gänsehaut nicht verschwinden. Es war zu ruhig. Fast so, als hätte jemand alle Geräusche geraubt.
Er schlich weiter. Die Treppe hoch. Hinter der Tür war ein Speisesaal. Dunkel und kalt erstreckte er sich vor ihm. Hohe Säulen stützten die Decke. In der Mitte war eine Feuerstelle, die nun aber erloschen war.
Keine Spur von Cahlia oder Argon. Lloyd schlich weiter, durchquerte auch diesen Raum. Eine weitere Treppe nach oben und anschließend noch eine.
Dort kam er in einem Flur an. Mehrere Türen gingen aus ihm ab. Ein blutroter Teppich schmückte den Boden, der von dem Mondlicht durch ein riesiges Fenster beleuchtet wurde. Aber Lloyd achtete weder auf den Teppich noch auf das Licht noch auf das Fenster.
Eine der Türen stand einen Spalt offen. Mit einem leisen Knarren öffnete er sie. Doch was er dahinter erblickte, ließ ihn erstarren
Blut. Mehr als Lloyd jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mehr als er geglaubt hatte, dass es in einem menschlichen Körper sei. Wie in einem Kunstwerk färbte es Boden, Wände und Möbel.
Der Geruch trieb Lloyd Tränen in die Augen. Galle stieg ihm die Kehle hoch. Er wandte sich ab und hielt sich eine Hand vor den Mund.
Stoßweise ging sein Atem. Er stützte sich an der Wand ab, da seine Knie zitterten und drohten nachzugeben.
Die Schritte, die die Treppe hochkamen, hörte Lloyd kaum. Erst als die Tür aufgestoßen wurde und Wachen den Raum füllten, sah er auf.
Ein Mann hatte sich vor die Soldaten gestellt. Der Hauptmann zweifellos. Wie durch einen Schleier hörte Lloyd die Worte. „Es ist vorbei, Elf! Ergebt Euch und wir lassen Gnade walten."
Er hatte noch nicht gesehen, was sich hinter Lloyd verbarg. Das Grauen noch nicht zu Gesicht bekommen. Ansonsten hätte er Lloyd keine Güte gewährt.
Doch Lloyd wusste es. Sobald er gefasst wäre, sobald der Hauptmann das Schlachtfeld gesehen hätte, wäre er tot.
Er richtete sich auf. Immer noch lag seine Hand an der Wand, aber er durfte hier nicht aufgeben. Er musste funktionieren, musste die Bilder des Grauens zurückschieben. Später konnte er zusammenbrechen. Doch jetzt noch nicht.
In Sekundenbruchteilen rasten die Möglichkeiten durch Lloyds Kopf. Ergeben? Keine Option. Kämpfen? Er würde sein Leben nicht fortwerfen.
Blieb nur die Flucht.
Lloyd machte kehrt. Ohne nachzudenken sprintete er auf das Fenster zu und warf sich in die Scheibe. Das Glas zersplitterte mit einem grellen Klirren. Die kalte Luft umwirbelte seine Haare.
Er schloss seine Augen, wissend, dass er hart auf dem Boden aufkommen würde. Doch der Aufprall blieb aus.
Sanft wurde er in Arme gebettet. „Und ich dachte, nur Engel fallen vom Himmel."
Langsam öffnete Lloyd seine Augen. Schon an der Stimme hatte er erkannt, um wen es sich handelte, aber er wollte seinen Ohren nicht trauen. Doch, dass auch seine Augen ihm einen Streich spielten, konnte er nicht glauben.
Vom Mondlicht angeleuchtet, blitzten die weißen Zähne in der Dunkelheit auf. Das flüssige Gold in den Augen schweifte über Lloyds Gestalt und das Lila der Haare schimmerte im weißen Licht.
„Ihr?" Lloyd brachte nur dieses eine Wort hervor.
„Ja, ich. Ungewöhnlich, an welchen Orten wir uns immer begegnen", antwortete der Erzähler. „Doch nun lasst uns erst einmal von hier verschwinden, ehe wir noch gefunden werden." Mit Lloyd in seinen Armen ging er los. Ein leises Klirren erklang bei jedem Schritt.
„Wärt Ihr so freundlich, mich herunterzulassen?" fragte Lloyd, obwohl ihm das selbst Gehen in Anbetracht seiner zitternden Knie nicht wie ein guter Ausweg schien. Doch er stolperte lieber neben dem Erzähler her, anstatt sich weiterhin wie eine Prinzessin von ihm tragen zu lassen.
„Ihr könnt noch nicht einmal fliegen und wollt schon laufen?", fragte der Erzähler, halb belustigt, halb höhnisch. Er machte keine Anstalten, Lloyd herunterzulassen und ging stattdessen unbeirrt weiter. „Wer kommt denn bitte auf die Idee von so hoch oben aus einem Fenster zu springen?" Das Augenrollen konnte Lloyd sogar hören. „Hätte ich dort nicht – ganz zufällig natürlich – gestanden, stellt Euch nur einmal vor, was dann geschehen wäre. Ihr hättet sterben können." Da war keine Sorge in der Stimme. Keine Spuren, dass die Worte ebenso ehrlich gemeint waren, wie sie gesprochen wurden.
Lloyd lehnte seinen Kopf an die Schulter des Erzählers und schloss seine Augen. Das Klirren der Ketten brannte sich auf seltsame Art in seinen Verstand, brachte sein Gehirn zum Schwingen. Erst war es beinahe angenehm, doch umso länger er sich auf das Geräusch konzentrierte, desto schmerzhafter wurde es. Schließlich öffnete er seine Augen wieder und drehte seinen Kopf leicht, um den Erzähler ansehen zu können.
„Wo ist Kyrat?", fragte Lloyd. Eher um sich von dem Geräusch abzulenken als deswegen, weil es ihn interessierte.
„Kyrat nimmt sich eine Auszeit." Sein Ton ließ Lloyd frösteln. „Er will zwar nicht, dass Ihr sterbt, aber in dieser Sache ist er dagegen, Euch zur Seite zu stehen. Und", die Mundwinkel des Erzählers zuckten, „es ist doch viel witziger, wenn er nicht alles voraussehen kann. Findet Ihr nicht auch?"
„Witziger?"
„Zumindest für mich." Nun verzogen sich die Lippen des Erzählers zu einem beinahe grotesk breiten Grinsen, das Lloyd Gänsehaut bereitete.
„Habt Ihr mich deshalb gerettet?", fragte er.
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Erzählers. Kurz flackerte dessen Blick zu Lloyd, richtete sich dann aber wieder auf den Weg, der vor ihnen lag. „Ihr hättet auch ohne mich überlebt. Sicherlich hättet Ihr einige Schnitte von dem Glas bekommen, doch der Sturz hätte Euch nicht umgebracht. Vielleicht wärt Ihr jetzt im Kerker oder Ihr würdet immer noch dort liegen, weil sie Euch noch nicht gefunden hätten. Aber überlebt hättet Ihr in jedem Fall." Noch einmal betrachtete er Lloyd für einen Wimpernschlag aus seinen Augenwinkeln. „Aber Ihr wollt wissen, weshalb gerade ich es tat, nicht wahr? Was meine Motive sind?"
Lloyd nickte und wartete auf eine Antwort, die er nicht bekam. Stattdessen setzte der Erzähler ihn auf den Boden, stützte ihn jedoch weiterhin, während er die Tür zu einem Haus öffnete. Lloyd erwartete schon, dass er nun wieder auf eigenen Beinen stehen durfte, aber sobald die Tür offen stand, hob der Erzähler ihn erneut hoch.
„Ich kann allein laufen", protestierte Lloyd. Dies war doch erst seine zweite Begegnung mit dem Erzähler. Er kannte nicht einmal seinen Namen. Wie konnte er sich unter diesen Bedingungen ohne Widerworte so herumtragen lassen?
„Seid Ihr Euch sicher?", fragte der Erzähler. Mit dem Absatz seines Stiefels gab er der Tür einen Schubs. Sie schwang zu und rastete in das Schloss ein. In Lloyds Ohren hallte das Geräusch unnatürlich laut und stieß eine Karte in dem Kartenhaus an, hinter dem Lloyd das Grauen der Herzogsresidenz verborgen hatte.
Blut. Metallischer Geruch. Rot.
Ätzende Säure stieg seine Kehle hoch. Er stieß sich aus den Armen des Erzählers, der ihn – entweder aus Überraschung oder aus Gleichgültigkeit – nicht daran hinderte.
Lloyd gelang es nicht, sich rechtzeitig mit den Händen aufzufangen, aber der Teppich federte seinen Sturz ab.
Dem Erzähler wurde plötzlich bewusst, was Lloyd in Begriff war, zu tun. „Nicht auf—", setzte er an, aber Lloyd konnte die Galle nicht länger zurückschlucken und erbrach auf dem Boden. „—meinen Teppich."
Der Erzähler seufzte und hockte sich zu Lloyd, um ihm einerseits die Haare aus dem Gesicht zu halten und andererseits, um ihn zu stützen. Der Elf zitterte am ganzen Körper, allein der feste Griff hielt seine Arme davon ab, einzuknicken. Heiße Tränen kullerten ihm über die glühenden Wangen.
Nur ein Narr würde fragen, was Lloyd an diesem Abend dort in der Residenz zu Gesicht bekommen hatte.
Als Lloyd fertig war, spürte er erneut, wie der Boden unter ihm verschwand, doch durch seinen tränenverschwommenen Blick konnte er das Violett des Erzählers nur erahnen. Er war nicht länger in der Lage, sich gegen ihn zu wehren. Bild um Bild durchzog seine Gedanken.
Ein erneutes Schluchzen brach aus ihm heraus. Seine Hände krallten sich in der Robe des Erzählers fest und kurz darauf vergrub er auch sein Gesicht in ihr.
Diese Handlung kommentierte der Erzähler nur mit einem leisen Seufzen, das Lloyd jedoch nicht einmal hörte.
Ebenso bemerkte er nicht, dass der Erzähler ihn durch den Flur trug und in einen angrenzenden Raum brachte. Dort setzte er Lloyd auf dem Boden ab, durchquerte den Raum und kehrte dann mit einer Schüssel voll Wasser und einem Lappen zurück. Er hob Lloyds Kinn an – dabei bedacht, nicht in das Erbrochene zu fassen – und wusch dem Elfen die Spuren der Nacht aus dem Gesicht. Den Schmutz, die Tränen, das Erbrochene.
Mehrfach fuhr er über das blasse Gesicht und die fiebrig glühenden Wangen, aber Lloyd ließ alles über sich ergehen. Fast so, als bemerkte er keine einzige der Wohltaten. Dies sollte er nicht von dem Erzähler in Erinnerung behalten. Wie durch dichten Nebel nahm er alles wahr. Nebel, der ihm nicht nur die Augen trübte, sondern ihn gänzlich erblinden ließ, dazu noch alle Worte, die seine Ohren hören könnten, dämpfte und die Haut gegen jede Berührung abstumpfte.
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